1943 bis 1945 – Die sprechenden Fassaden

Geist

Worte im Dunkel
Mitarbeiter
#1
Als der Luftschutz zwischen 1943 und 1945 trauriger Alltag vor allem für die städtische Bevölkerung des Deutschen Reichs und somit Österreichs wurde, hielten viele Neuerungen Einzug in die Wohnumgebung des Menschen. Unzählige Keller wurden adaptiert und luftschutzmäßig ausgestaltet. Woher aber wussten die Menschen auf der Straße, wo im Alarmfall ein Luftschutzraum eingerichtet war, in den sie, wenn sie unterwegs überrascht wurden, flüchten konnten? Woher wussten Rettungsmannschaften nach einem Luftangriff, aus welchen Kellern wahrscheinlich Schutzsuchende geborgen werden mussten und wo deren Notausstiege zu finden waren?

Hinweisaufschriften zu Luftschutzräumen


In all diesen Fällen orientierten sich die Menschen an Aufschriften, die an den Fassaden angebracht worden waren. Diese zeigten an, wo ein Luftschutzkeller war, die Lage seiner Notausstiege und ob es Mauerdurchbrüche ins Nachbarhaus gab. Die Aufschriften an den Fassaden boten somit sowohl Passanten vor und während eines Fliegeralarms als auch Rettern nach dem Angriff essenzielle Informationen. In Wien waren das die Folgenden:

LR, LSR: Luftschutzraum
LSK: Luftschutzkeller
MD: Mauerdurchbruch
NA: Notausstieg

Wurde ein Passant, der sich weder in der Nähe seines Wohnhauses noch eines öffentlichen Luftschutzraumes befand, von einem Fliegeralarm überrascht, so hatte er das Recht auch in privaten Luftschutzräumen aufgenommen zu werden:

„Trotz wiederholten Hinweisen kommt es immer wieder vor, daß der Zutritt in private Luftschutzkeller bei Fliegeralarm hausfremden Personen mit der Begründung verweigert wird, der betreffende Luftschutzraum sei nur für die Hausbewohner vorgesehen. Ein derartiges Verhalten widerspricht nicht nur den gegebenen Vorschriften, sondern auch dem elementarsten Begriff der Volksgemeinschaft. Jedermann muß das Recht haben, bei Fliegeralarm, sofern er einen öffentlichen Luftschutzraum nicht mehr erreichen kann, den nächsten privaten Luftschutzraum (Keller oder Splittergraben) aufzusuchen. Es ist die Pflicht der Hausluftschutzwarte, dafür zu sorgen, daß der Zutritt zu den Luftschutzräumen bei Fliegeralarm nach Maßgabe des vorhandenen Fassungsraumes auch hausfremden Personen gewährt wird.“[1]

Pfeile an den Fassaden wiesen auf die entsprechenden Eingänge und Kellerfenster, durch die die Schutzräume betreten oder im Notfall verlassen werden konnten sowie auf die Mauern zwischen den Häusern, die mittels Durchbrüchen verbunden waren.

Die Entwicklung der Hinweise an den Fassaden


Ende 1943 wurde in der Zeitung „Neue Warte am Inn“ und vermutlich auch in anderen Zeitungen ein Aufruf unter dem Titel „Sagt es Allen!“ veröffentlicht. Das Thema des Aufrufs war die äußerliche Kennzeichnung von Luftschutzräumen. Neben der Notwendigkeit, die Lagepläne des LS-Raums sowohl beim zuständigen Polizeirevier als auch beim Luftschutzwart der gegenüberliegenden LS-Gemeinschaft zu hinterlegen, wurde auf die Kennzeichnung der Räume durch Pfeile hingewiesen:

„Außerdem ist es sehr vorteilhaft, die Lage der Luftschutzräume durch Pfeile an der äußeren Hauswand und auch an den Innenwänden, womöglich in Leuchtfarbe, zu kennzeichnen.“[2]

Zwei Monate später wurde erneut die Wichtigkeit der Kennzeichnung durch Pfeile betont:

„Die Erfahrungen haben gelehrt, daß es auch zweckmäßig ist, die Lage der Schutzräume durch dicke weiße Pfeile an der Hausfront, wenn möglich in Höhe der Notausstiege, zu kennzeichnen, damit die Bergungsarbeiten sofort zweckmäßig angesetzt werden können. Die Pfeile sind senkreicht in zwei bis drei Meter Länge mit Kalk oder Farbe anzubringen.“[3]

Am 15. März 1944 wurde von Hermann Göring ein Erlass herausgegeben, der von den örtlichen Polizeileitern an die Bevölkerung weitergegeben wurde, hier exemplarisch vom Bürgermeister der Stadt Baden in seiner Funktion als Ortspolizeibehörde:

„Mit Ermächtigung des Herrn Reichsministers der Luftfahrt und Oberbefehlshabers der Luftwaffe […] vom 15. März 1944 […] ordne ich an: Die Besitzer von Gebäuden sind verpflichtet:
a) die Lage der Luftschutzräume durch Aufdruck, Pfeile, möglichst mit Leuchtfarbe, sonst behelfsmäßig in anderer Weise an den Außenwänden zu kennzeichnen […]
Die Kennzeichnung der LS-Räume erfolgt einheitlich durch die Stadtgemeinde. Die Kosten sind gering.“[4]

Aus einem Artikel von April 1944 geht hervor, dass die Markierungen mit Kürzeln an den Hauswänden nicht zwangsweise als Pflicht, sondern als Empfehlung wahrgenommen wurden:

„Im übrigen sind die Luftschutzräume der einzelnen Häuser nach Örtlichkeit und Lage den einzelnen Revierführern und Bergungstrupps genau bekannt und sie sollen zusätzlich nach außen durch entsprechende Beschriftungen und Richtungsweiser gekennzeichnet sein, damit selbst im schlimmsten Falle – nämlich bei Verschüttung – augenblicklich Bergungstrupps eingesetzt werden können.“[5]

Dass die Kennzeichnung der Schutzräume, Notausstiege und Mauerdurchbrüche an den Hauswänden tatsächlich erst ab Ende 1943 langsam umgesetzt wurde, geht aus einem anderen Artikel vom Mai 1944 hervor, in dem die sofortige Veranlassung der Bevölkerung zur Umsetzung von Luftschutzmaßnahmen gefordert wurde. Auch hier war nur von den Pfeilen, nicht aber von den Kürzeln die Rede:

„Das gleiche gilt für die vielfach schon in Gang gekommene weitere Aktion, die Lage der Luftschutzräume durch Pfeile, möglichst mit Leuchtfarbe, sonst behelfsmäßig in anderer Weise an den Außenwänden der Häuser zu kennzeichnen.“[6]

Ab Sommer 1944 wurden Artikel in Zeitungen geschaltet, die erklärend vermittelten, welchen Sinn und Zweck Kennzeichnungen an Fassaden erfüllten:

„Wenn bei Luftangriffen Wohnhäuser zerstört werden, ist es für die zur Hilfeleistung herbeieilenden Volksgenossen und Bergungstrupps oftmals schwierig, die Lage des Luftschutzraumes festzustellen. Der Luftschutzraum wurde aber immer schnell gefunden, wenn seine Lage an der Außenwand, vor allem an der Straßenseite des Gebäudes, durch genügend lange Hinweispfeile gekennzeichnet war. Dadurch können sich Nachbarn und andere Volksgenossen, die öfter an dem Hause vorbeigehen, die Lage des Luftschutzraumes leicht einprägen und im Schadensfall die Führer der Bergungs- und Aufräumungskommandos rasch und zweckmäßig unterrichten. – Die Rettung von Personen, die in Luftschutzräumen verschüttet sind, wurde dadurch erheblich beschleunigt und erleichtert. Der Reichsminister der Luftfahrt hat deshalb die Kennzeichnung der Lage der Luftschutzräume durch Pfeile an den Hauswänden der Häuser allen Besitzern von Gebäuden zur Pflicht gemacht. Die Markierung soll möglichst mit Leuchtfarbe erfolgen, kann aber behelfsmäßig auch in anderer Weise geschehen. Eine besondere Entschädigung wird nicht gewährt.“[7]

Aus dem Jahr 1944 ist in den Innsbrucker Nachrichten ein interessanter Artikel unter dem Titel „Allerlei Schilder und Zeichen“ zu Hinweisen, Schildern und Pfeilen nachzulesen. Im Artikel werden Markierungen wie etwa der weiße Fleck angeführt, die es anderswo nicht gab:

„Im Stadtgebiet von Innsbruck sind an vielen Orten Hinweisschilder angebracht, die den Weg zu verschiedenen Stellen anzeigen und diese als ‚Aufnahmegebiete‘ bezeichnen. Damit soll gesagt sein, daß diese Orte nach Luftangriffen bombengeschädigte Volksgenossen vorläufig aufzunehmen bestimmt sind. Dort finden die Betroffenen erste Betreuung, bis sie in Unterkünfte eingewiesen werden können. Niemand braucht daher nach Angriffen herumzuirren und zu fragen. Jedermann, der Hilfe und Unterkunft zu suchen gezwungen ist, begibt sich in das ‚Aufnahmegebiet‘, das ihm aus den jetzt schon angebrachten Hinweisschildern bekannt ist.

Ein in Leuchtfarbe ausgeführter, also auch bei Nacht sichtbarer kreisrunder Fleck von etwa 35 Zentimeter Durchmesser zeigt an, daß in dem Haus, wo er angebracht ist, ein öffentlicher Luftschutzraum ist. Ein ebenfalls bei Nacht leuchtender waagrechter Pfeil daneben weist den Weg zum Eingang. Es empfiehlt sich natürlich, bei Gängen durch die Straßen der Stadt auf diese Zeichen zu achten und sich so die Lage der öffentlichen Luftschutzräume einzuprägen, um sich bei Gefahr rasch zurechtzufinden. Wer im eigenen Haus keinen Luftschutzkeller hat, muß natürlich genau darüber unterrichtet sein, wo der nächsterreichbare öffentliche Luftschutzraum ist.

Mit senkrechten, auf die Häuserwände gemalten Pfeilen sind die Ausstiege aus öffentlichen oder privaten Luftschutzräumen bezeichnet. In der nächsten Zeit werden diese Pfeile in etwa zwei Meter Länge, also sehr auffallend, in Leuchtfarbe auf dunklem Untergrund ausgeführt werden. Sie haben den Zweck im Fall von Verschüttungen den Rettungsmannschaften zu zeigen, wo am leichtesten und raschesten der Weg aus einem verschütteten Keller freigemacht werden kann. Auch wenn die Hauswand, an welcher der Pfeil angebracht war, eingestürzt ist, werden sich die Nachbarn erinnern, wo er angebracht war, und den Hilfsmannschaften die Lage des verschütteten Ausstieges zeigen können. Die Rettung von Menschenleben kann also davon abhängen, daß viele Pfeile beizeiten beachtet werden.“[8]

Es ist also erkennbar, dass zwar reichsweit die Kennzeichnung der Schutzräume durch Pfeile an den Fassaden spätestens ab 15. März 1944 Pflicht war, die Verwendung der Kürzel LSR, LR, LSK, MD und NA aber nicht.

So findet man etwa in einem Mitteilungsblatt der Region Nürnberg/Fürth, das nach dem 15. März 1944 veröffentlicht wurde, die Information, dass die Kennzeichnung der Schutzräume an den Fassaden mit dem Kürzel LSR wünschenswert, aber nicht erforderlich sei. Als weitere Hinweise sollten „KS“ für kein Schutzraum, NA, MD und „LSR im Hof“ verwendet werden.[9] Aus diesen Angaben ist ersichtlich, dass die Begriffe selbst nicht einheitlich geregelt waren. In Wien und wahrscheinlich ganz Österreich kam KS nämlich nicht zur Anwendung. Häuser ohne Luftschutzraum wurden in Wien an der Fassade mit einem durchgestrichenen Kreis gekennzeichnet.

Die im Artikel eingefügten Bilder zeigen Hinweise auf Fassaden in Wien, die ich in den vergangenen zehn Jahren aufgenommen habe. Einige von ihnen wurden mittlerweile im Zuge von Gebäuderenovierungen übermalt.

LR- und NA-Hinweis

LR-Hinweis

LR-Hinweis

LSK-Hinweis


MD-Hinweis


MD-Hinweis


LR-Hinweis


LR-, NA- und ein halber MD-Hinweis

LS-R-Hinweis


NA-Hinweis


LSK-Hinweis
NA-MD-NA-Hinweis

LSR-NA-MD-Hinweis

NA-Hinweis

Suchbild – Acht Beschriftungen verbergen sich im Bild

Orientierungshinweise


Die Aufschriften an den Fassaden boten Informationen, die nicht nur vor, sondern auch nach einem Luftangriff wichtig waren. Einerseits erfüllten sie die bereits angesprochene Funktion, den Rettungsmannschaften eventuell verschüttete Luftschutzkeller anzuzeigen, andererseits kam ein neuer Aspekt hinzu:
Wie konnten sich die Menschen nach einem Bombardement in der durch Bombenwirkung veränderten Stadt, wenn durch Rauch, Staub und Zerstörung eventuell kein Orientierungspunkt mehr auszumachen war, zurechtfinden?

Dafür wurden Ortshinweise angebracht, die die Richtungen zu bekannten oder markanten Orientierungspunkten wiesen. In Wien gab es in erster Linie fünf Richtungsangaben:
  • Donau
  • Gürtel
  • Kai
  • Park
  • Ring
Die meisten dieser Hinweis- und Orientierungsangaben wurden über Kopfhöhe angebracht, manche zwischen den Fenstern des ersten Stockwerks. So waren sie schon von Weitem zu erkennen und konnten auch gelesen werden, wenn Schutt und Trümmer in den Straßen lagen.

Die folgenden beiden Orientierungshilfen wurden mittlerweile renoviert und im Falle des Gürtel-Hinweises mit einer von Dr. Marcello La Speranza gestalteten erklärenden Tafel versehen (Ecke Stöbergasse/Leitgebgasse, 1050 Wien).

Wegweiser zum Gürtel

Wegweiser zum Ring

Fußnoten:

[1] Artikel „Luftschutzräume sind für jedermann zugänglich“, in: Neues Wiener Tagblatt, 17. September 1944, S. 4, online unter:
ANNO, Neues Wiener Tagblatt (Tages-Ausgabe), 1944-09-17, Seite 4 (24. August 2020)

[2] Artikel „Sagt es Allen!“, in: Neue Warte am Inn, 8. Dezember 1943, S. 6, online unter:
ANNO, Neue Warte am Inn, 1943-12-08, Seite 6 (24. August 2020)

[3] Artikel „Wo ist der Lageplan des Luftschutzraumes“, in: Alpenländische Rundschau, 19. Februar 1944, S. 5, online unter:
ANNO, Alpenländische Rundschau, 1944-02-19, Seite 5 (24. August 2020)

[4] Amtliche Verlautbarung „Vom Bürgermeister der Stadt Baden: Polizeiliche Luftschutz-Anordnung“, in: Badener Zeitung, 10. Mai 1944, S. 3, online unter:
ANNO, Badener Zeitung, 1944-05-10, Seite 3 (24. August 2020)

[5] Artikel „Wir bleiben im Luftschutzraum“, in: Niederösterreichischer Grenzbote, 16. April 1944, S. 6, online unter:
ANNO, Niederösterreichischer Grenzbote, 1944-04-16, Seite 6 (24. August 2020)

[6] Artikel „Aus Stadt und Land. Entfernung der Kellergitter“, in: Völkischer Beobachter, 16. Mai 1944, S. 5, online unter:
ANNO, Badener Zeitung, 1944-05-10, Seite 3 (24. August 2020)

[7] Artikel „Kennzeichnet die Lage der Luftschutzräume von außen!“, in: Niederösterreichischer Grenzbote, 30. Juli 1944, S. 7, online unter:
ANNO, Niederösterreichischer Grenzbote, 1944-07-30, Seite 7 (24. August 2020)

[8] Artikel „Allerlei Schilder und Zeichen“, in: Innsbrucker Nachrichten, 4. Mai 1944, S. 3, online unter:
ANNO, Innsbrucker Nachrichten, 1944-05-04, Seite 3 (24. August 2020)

[9] Beitrag von User „cisco“ im Thread „LS-Pfeile an Häusern“/Forum geschichtsspuren.de, Scan des Mitteilungsblatts Nr. 52 für den Selbstschutz und die Führer der Selbstschutzbereiche (Polizeipräsident der Städte Nürnberg/Fürth), online unter:
LS-Pfeile an Häusern - Seite 2 - geschichtsspuren.de - Forum (24. August 2020)

Links und Literatur:

Marcello La Speranza, Begegnungen. NS- und Kriegsspuren in Wien, Expeditionen, Hinterlassenschaften, Zeitzeugen, Bd. 1 (Wien 2015)

Marcello La Speranza, Burgen, Bunker, Bollwerke. Historische Wehranlagen zwischen Passau und Hainburg (Graz 2004)

Interne Links:

Mehr zu den Jahren von 1939 bis Kriegsende:
1939 bis Kriegsende

Link zum Originalbeitrag: 1940 bis 1945 – Die sprechenden Fassaden – Worte im Dunkel
 
Oben