1945 – Hier stand ich mit einem hübschen Madel

Geist

Worte im Dunkel
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#1
Im Zeitraum zwischen 25. Juli 1944 und 25. April 1945 wurde Linz 22-mal aus der Luft angegriffen. Die Bilanz liest sich – wie in vielen anderen Städten auch – traurig: Durch den Abwurf von 20.000 Bomben kamen 1.679 Menschen zu Tode, 602 Wohnhäuser mit 2.940 Wohnungen wurden zerstört. Noch heute schlummern bis zu 700 Blindgänger im Linzer Boden.

Um den Luftschutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten, wurden etwa ab Mitte 1943 zahlreiche unterirdische Keller- und Stollenanlagen ausgebaut und teilweise miteinander verbunden. Die Entstehungszeit einiger dieser Keller, wie der Bier- und Weinkeller im Bauernberg, reicht zurück bis in römische Zeiten. Andere wiederum – etwa der Rudolfstollen in Urfahr – wurden 1944 allein aus Luftschutzzwecken in das Gestein getrieben.

Bestanden nach einer Liste vom 1. Juni 1943 nur sieben bombensichere Stollen, einige Bunker und Luftschutzdeckungsgräben mit etwas über 20.000 Personen Fassungsraum in Linz, so standen zu Kriegsende Schutzanlagen mit mehr als 14 Kilometern Länge und einer Aufnahmekapazität von mehr als 40.000 Menschen im Alarmfall zur Verfügung. Die Angaben zu den tatsächlich vorhandenen Schutzplätzen unterscheiden sich jedoch deutlich von Angabe zu Angabe.
Die größten Stollenanlagen stellten aber sicherlich der Aktienkeller, der Rudolfstollen, der Schlossbergstollen, der Limonikeller und die im Zuge der Baumaßnahmen miteinander verbundenen Märzen- und Cembrankeller dar, die gesamt über 30.000 Personen aufnehmen sollten.

Dabei handelte es sich allerdings nur um nominelle Werte. Einerseits wurden in manchen Auflistungen für Anlagen, deren Vortrieb erst wenige Meter betrug, bereits tausende Schutzplätze angegeben, andererseits wurden einige der Stollen ab einem gewissen Zeitpunkt anderen Zwecken – etwa der Rüstungsverlagerung – zugeführt.

So wurde gegen Ende 1944, Anfang 1945 im Aktienkeller eine Untertageverlagerung der Rüstungsindustrie eingerichtet, die in direktem Zusammenhang mit dem Blogartikel von voriger Woche steht: Die kriegswichtige Wälzlagerproduktion der Steyr-Daimler-Puch AG wurde in diesem Zeitraum auf die beiden unterirdischen Verlagerungsstandorte des Projekts „Quarz“ bei Melk/Roggendorf und des Aktienkellers in Linz – Deckname „Maräne“ – aufgeteilt. Der Platz, den die Maschinen beanspruchten, stand dem Schutz der Zivilbevölkerung nicht mehr zur Verfügung.

Ansicht des Luftschutzstollens

Der Rudolfstollen, dem sich der heutige Beitrag widmet, wurde ab Mitte 1943 in den Fels getrieben. Die Firma Mayreder, Kraus & Co wurde beauftragt, den Stollen aufzufahren, und machte sich gemeinsam mit zwei kleineren Baufirmen an die Arbeit. Am Ende des Krieges war der Rudolfstollen auf eine Länge von 1.323 Metern angewachsen – bei einer durchschnittlichen Gangbreite von zweieinhalb bis drei Metern und etwa drei Metern Höhe.

Ist der größte Teil der Anlage im Süden und Westen nicht ausgemauert oder ausbetoniert und somit vor allem wegen seiner wunderschönen und beeindruckenden Sinter- und Tropfsteinbildungen für Geologen und Höhlenforscher hochinteressant, so ist für den Historiker hauptsächlich der wegen geologischer Unbilden befestigte Nordostteil spannend. In diesem Bereich hinterließen sowohl ausländische Zwangsarbeiter als auch deutschsprachige Schutzsuchende schriftliche Zeugnisse der Kriegsendephase.

Schriftliche Hinterlassenschaft eines Schutzsuchenden vom 25. April 1945

Der letzte schwere Luftangriff der 15. US-Luftflotte auf ein österreichisches Ziel galt vor fast genau 75 Jahren Linz. Noch einmal verloren am 25. April 1945 360 Zivilisten ihr Leben, bevor zwei Wochen später der Krieg mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht sein Ende fand.

An jenem Tag notierte jemand im Rudolfstollen mittels eines Bleistifts an der Oberfläche eines Ziegels:
„Hier stand ich am 25. IV 45 und wartete 4 Stunden mit einem hübschen Madel“

Oben in der Originalhandschrift befindet sich über jedem u ein Bogen, der wie ü-Striche aussieht. Dieser diente damals dazu, Buchstaben, die einander in der Schreibschrift sehr ähnlich waren – wie etwa m, n und u – besser voneinander unterscheiden zu können.

Eventuell diente dieser kurze Satz nur dazu, dem „hübschen Madel“ ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, um für ein paar Augenblicke die Bomben, die Zerstörung und die Angst zu vergessen. Vielleicht aber schrieb der Verfasser diese drei Zeilen selbst zur eigenen Beruhigung oder im Willen, sich lieber mit einem „hübschen Madel“ zu beschäftigen, als mit der brennenden Stadt außerhalb der Stolleneingänge.

Da der Alarm am 25. April 1945 „gegen zehn Uhr“* die Leute in die Stollen trieb, wurde diese kurze Momentaufnahme des Zivilschutzmiteinanders wohl zwischen 14 und 15 Uhr auf den Ziegel gekritzelt, kurz bevor die Menschen den Stollen, in dem einst auch meine Mutter und Großmutter bei Bombenalarm saßen, wieder verließen.

Mein herzlicher Dank für die Führung durch den für die Öffentlichkeit gesperrten Rudolfstollen geht an Erhard Fritsch und Josef Weichenberger vom Landesverein für Höhlenkunde in Oberösterreich!

Mehr zu den Jahren von 1939 bis Kriegsende:
1939 bis Kriegsende – Worte im Dunkel

*Artikel „Fragt uns jetzt!“, Fritz Johann Langthaler, in: Oberösterreichische Nachrichten, online unter:
"Fragt uns jetzt!" (16. April 2020)

Literatur zum Artikel
Erhard Fritsch, Walter Greger, Rudolf Pavuza, Heiner Thaler, Petra Cech, Der Rudolfstollen in Linz-Urfahr (Österreich) und seine Umgebung. Eine naturwissenschaftlich-historische Bestandsaufnahme. In: Denisia 38 (Linz 2016), online unter:
https://www.zobodat.at/pdf/DENISIA_0038_0001-0099.pdf (16. April 2020)

Josef Goldberger, Cornelia Sulzbacher, Der Luftkrieg, online unter:
Forum OÖ Geschichte, Virtuelles Museum Oberösterreich, Bombenangriffe - Forum OÖ Geschichte (16. April 2020)

Bertrand Perz, Das Projekt „Quarz“. Der Bau einer unterirdischen Fabrik durch Häftlinge des KZ Melk für die Steyr-Daimler-Puch AG 1944–1945 (Innsbruck 2014)

Thread „LS-Stollen und Bunker in Linz“, online unter:
Unterirdisch-Forum.de, LS-Stollen und Bunker in Linz (16. April 2020)

Artikel „Der Tag, an dem in Linz die ersten Bomben fielen“, in: Oberösterreichische Nachrichten, online unter:
Der Tag, an dem in Linz die ersten Bomben fielen (16. April 2020)
 
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