Amateuraufnahmen aus dem Warschauer Ghetto von 1941

josef

Administrator
Mitarbeiter
#1
Dramatische Amateuraufnahmen aus dem Warschauer Ghetto von 1941 gezeigt

Polnischer Filmer hatte sich dafür in Lebensgefahr begeben

Warschau – In Polen sind seltene Aufnahmen eines polnischen Amateurfilmers aus dem Warschauer Ghetto während des Zweiten Weltkriegs gezeigt worden. Der etwa zehn Minuten lange Film, den Alfons Ziolkowski im Jahr 1941 teilweise versteckt in dem Ghetto angefertigt hatte, wurde beim 16. Dokumentarfilm-Festival in der polnischen Hauptstadt als Teil der historischen Dokumentation "Warschau – eine geteilte Stadt" veröffentlicht.

Der polnisch-kanadische Regisseur des Dokumentarfilms, Eric Bednarski, war nach eigenen Angaben über Nachfahren Ziolkowskis an die Aufnahmen gelangt. Bisher waren nur Bilder der NS-Propaganda über das Ghetto bekannt.

Drastische Bilder
"Man sieht das Alltagsleben im Herzen des Ghettos, Menschenmengen auf den Straßen, zerstörte Gebäude", sagte Bednarski. "Man sieht Kinder, die Lebensmittel vom damals sogenannten arischen in den jüdischen Teil schmuggeln, verzweifelte Kinder, die vor Hunger sterben und versuchen, Essen durch ein Loch in einer Mauer zu drücken."

Amateurfilmer Ziolkowski hatte eine Genehmigung ergattert und konnte mit dieser das Ghetto betreten. Die Aufnahmen fertigte er unter Lebensgefahr an. Einige Bilder seien versteckt aus einem Auto entstanden, sagte Bednarski. Andere habe Ziolkowski in aller Öffentlichkeit angefertigt: Menschen wandten sich zu ihm und schauten in die Kamera.

hist_pl Video:
Auch diese Aufnahmen sollen den Angaben nach 1942 im Warschauer Ghetto entstanden sein. Die Bilder sind drastisch und teilweise verstörend.

Riskante Aufnahmen

"Das heißt, dass Ziolkowski das Risiko eingegangen ist, aus dem Auto auszusteigen und gefilmt hat, ohne sich zu verstecken," so Bednarski. Damit habe er sich auch den Blicken der Polizei ausgesetzt. "Er riskierte, von den Deutschen festgenommen oder gar erschossen zu werden."

Ein Jahr nach der Besatzung Polens im September 1939 hatte Nazi-Deutschland in Warschau ein separates Viertel für die jüdische Bevölkerung ausgewiesen. Dort waren etwa 480.000 Menschen eingesperrt. Viele starben dort an Hunger oder an sich rasch ausbreitenden Krankheiten. Letztlich wollten die Einwohner des Ghettos die entsetzlichen Umstände nicht länger hinnehmen und lehnten sich dagegen auf.

Die Rebellion jüdischer Aufständischer begann am 19. April 1943, die sich gegen SS-Einheiten wehrten. Der fast einmonatige Kampf gegen die überlegenen deutschen Besatzer scheiterte am 16. Mai 1943. Seine blutige Niederschlagung besiegelte das Schicksal der meisten bis dahin überlebenden Warschauer Juden, die vor dem Krieg ein Drittel der Bevölkerung gestellt hatten. Tausende wurden erschossen oder in die Todeslager deportiert.
(red, APA, 15.5.2019)
Dramatische Amateuraufnahmen aus dem Warschauer Ghetto von 1941 gezeigt - derStandard.at
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#2
Unbekannte Szenen aus Warschauer Ghetto

1562170340196.png
1941 ist es dem polnischen Lebensmittelhändler Alfons Ziolkowski von den Nazis unbemerkt gelungen, Filmaufnahmen im Warschauer Ghetto zu machen. Der kanadische Dokumentarfilmer Eric Bednarski, der das Material kürzlich veröffentlichte, sprach mit ORF.at über seinen historisch bedeutenden Fund.
Auf Facebook teilen Auf Twitter teilen
„Es war Zufall, dass ich auf diese 8-mm-Aufnahmen gestoßen bin“, sagt Bednarski. Im Jahr 2004, als er die Aufnahmen entdeckte, habe er noch in Kanada gelebt und in Warschau nur punktuell für ein anderes Projekt recherchiert. „Nach diesem Fund bin ich ganz nach Warschau gezogen und habe mich von dem Material durch die Stadt leiten lassen.“

Bisher gab es zwar Filmmaterial aus dem Ghetto, in Schwarz-Weiß und sogar in Farbe. Doch diese Aufnahmen stammen von den Deutschen, deren Kameras Beweis führen sollten, dass der „Jüdische Wohnbezirk in Warschau“ eine „Seuchenschutzzone" (so das NS-Wording) sei, in der Krankheit und Verbrechen quasi „genetisch bedingt“ seien; Propagandabilder also, in denen vieles inszeniert ist.

Eric Bednarski
Kinder schmuggeln Essen durch ein Loch in der Ghettomauer. Eigentlich soll es das Schmutzwasser von der „arischen“ auf die jüdische Seite ableiten.

Leichenwagen und Straßenmusik
Die Anfang Mai in Warschau erstmals öffentlich vorgeführten, zehnminütigen Amateuraufnahmen des polnischen Lebensmittelhändlers Ziolkowskis sind anders. Teilweise durch die Windschutzscheibe eines Lieferwagens gefilmt, zeigen sie den Alltag auf den Straßen. Man sieht Handkarren mit Umzugshabseligkeiten, Lastenfahrräder und immer wieder Männer und Frauen, vermutlich neu im Ghetto, die in Wachstuch eingeschlagene Bündel tragen. Einige sind noch elegant, tragen gepflegte Frisuren und würden ebenso gut auf „arischer“ Mauerseite ins Stadtbild passen. Andere sind schon abgemagert und gehen in Fetzen. Und – bereits 1941 – geraten im Hintergrund immer wieder Leichenwagen ins Bild.

Eric Bednarsk
iEin Polizist vertreibt einen Buben, der Essen geschmuggelt hat, mit dem Besen

Außerhalb des Autos filmte Ziolkowski eine Straßenkapelle. Man sieht sympathische, der Situation zum Trotz fröhliche Menschen. Die Musiker scheinen direkt in die Kamera zu blicken. „Ziolkowski wollte mit diesen Aufnahmen etwas aussagen, er hat ganz besondere Orte ausgewählt“, sagt Bednarski. Fest steht, dass der Lebensmittelhändler, der als Lieferant einen Passierschein für das Ghetto hatte, mit diesen Filmaufnahmen sein Leben riskierte.

Warschauer Ghetto
Das Warschauer Ghetto war das größte jüdische Sammellager der Nationalsozialisten. Auf engstem Raum wurden ab 1940 Juden aus anderen Bezirken und dem Umland im Zentrum Warschaus zusammengepfercht und mit Lebensmittelrationen von 184 Kilokalorien pro Tag systematisch ausgehungert. Zum Vergleich: Für Polen gab es 634, für Deutsche 2.310 Kalorien. Am 19. April 1943 kam es zum bewaffneten Aufstand – die größte jüdische Widerstandsaktion gegen den NS-Völkermord, die am 16. Mai niedergeschlagen wurde.

Bilder von politischer Sprengkraft
Ziolkowski dürfte die politische Sprengkraft seiner Bilder gekannt haben. Bednarski hat recherchiert, dass Ziolkowski Freunde in der Warschauer Widerstandsbewegung hatte, konnte aber bisher nicht rekonstruieren, ob er diesen den Film auch vorführte.
Sicher ist: Die Aufnahmen blieben im Besitz der Familie des 1980 verstorbenen Filmers und gerieten in Vergessenheit, bis der kanadische Filmemacher sie inmitten anderer, harmloser Aufnahmen entdeckte. Er übernahm das Material und „versuchte, so viel wie möglich darüber herauszufinden. Ich habe es Experten, Überlebenden und Zeitzeugen rund um die Welt gezeigt und schließlich begonnen, in Warschau rund um die Uhr daran zu arbeiten“. Herausgekommen ist der Dokumentarfilm „Warzaw: A City Divided“ („Warschau: Eine geteilte Stadt“), der die historischen Filmbilder zeitlich und räumlich einzuordnen versucht. Eine Vorführung in Österreich ist bis dato leider nicht geplant.

Kinder als Schmuggler in der Not
Die beklemmendste Szene des Amateurfilm-Materials, das Bednarski in voller Länge in seinen Film montiert hat, wirkt auf den ersten Blick vergleichsweise „harmlos“: Jüdische Buben huschen zu einer Markthalle, die auf „arischer“ Seite neben dem Ghetto liegt. Sie holen Kartoffeln und anderes Gemüse und schieben es durch ein Loch in der Mauer. Hände greifen die Lebensmittel und ziehen sie auf die andere Seite. Ein Straßenkehrer verscheucht die Kinder mit dem Besen. Schließlich erwischt ein Polizist einen Kleinen am Ärmel. Er schlägt ihn mit dem Knüppel, bis seine Nase blutet. Passanten versuchen wegzublicken. Den Gesichtsausdruck des Kindes wird man nicht vergessen.

Eric Bednarski
Eine Gruppe Männer (vermutlich Neuankömmlinge) mit Rucksäcken und Taschen

Diese Bilder entstanden zwischen März und November 1941. Zwei Jahre vor dem Aufstand im Warschauer Ghetto, der vier Wochen dauerte und am 16. Mai 1943 niedergeschlagen wurde. In der Folge ließen die Nationalsozialisten in einer Rachebeschließung alle Bewohner deportieren, ermorden und die Gebäude im Ghetto abtragen. An ihrer Stelle sollte eine Grünanlage für die Deutschen entstehen.

Verschwunden, ermordet
„Auf den Aufnahmen sehen wir eine Stadt, die es nicht mehr gibt. Und wir sehen Gesichter von Leuten, die bis auf wenige Ausnahmen von den Nazis ermordet wurden“, sagt Filmemacher Bednarski, dessen heute 90-jähriger Vater selbst das Warschauer Ghetto überlebte. Dass zumindest diese Bilder sich erhalten haben und zum 76. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto gezeigt werden konnten, grenzt an ein kleines Wunder.
Maya McKechneay, für ORF.at

Links:
Zeitdokument: Unbekannte Szenen aus Warschauer Ghetto
 
Oben