Ausstellung „Der kalte Blick“

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Schau zeigt „Rassenforschung“ per Kamera

Für ihre „Rassenforschung“ vermessen und fotografieren zwei junge Wiener Wissenschafterinnen 1942 hunderte polnische Jüdinnen und Juden. Unter dem Titel „Der kalte Blick“ zeigt das Haus der Geschichte Österreich diese Aufnahmen ab Mittwoch.

Im März 1942 machen sich die beiden Frauen aus Wien in die NS-besetzte polnische Kleinstadt Tarnow auf, um dort lebende jüdische Familien „rassenkundlich“ zu untersuchen. Sie erheben Daten, vermessen Körper und machen an die 2.000 Fotografien, um den „typischen Ostjuden“ anthropologisch zu beschreiben. Ergebnis ist ein beklemmendes Kapitel heimischer Wissenschafts- und Täterinnengeschichte, das ab Mittwoch als Sonderschau auf dem Alma-Rose-Plateau im Haus der Geschichte Österreich zu sehen ist.

Menschen unter Zwang abgelichtet

Im Zentrum der Ausstellung stehen die in kriminalpolizeilicher Anmutung und unter Anleitung der beiden aufstrebenden Anthropologinnen Dora Maria Kahlich (1905-1970) und Elfriede Fliethmann (1915-1987) gemachten Frontal- und Seitenaufnahmen der insgesamt 565 unter Zwang abgelichteten Männer, Frauen und Kinder. Sie sind gewissermaßen der Ursprung des Rechercheprojekts, das der Ausstellung „Der kalte Blick. Letzte Bilder jüdischer Familien aus dem Ghetto Tarnow 1942“ zugrunde liegt.

hdgö/Klaus Pichler
Die Ausstellung ist noch bis 14. November im Haus der Geschichte zu sehen

Kuratorin Margit Berner, in der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums tätig, fand die visitenkartengroßen Originalabzüge 1997. Sie waren in einer unscheinbaren Feldpostschachtel verstaut, die unter Glassturz nun ebenfalls ausgestellt wird. Die handschriftliche Bemerkung „Tarnow Juden 1942“ weckte sofort ihr Interesse. In jahrelanger Forschungsarbeit gelang es Berner, Schritt für Schritt die Lebensgeschichte der Porträtierten zu rekonstruieren.

„Fotografie ohne Empathie“

Der titelgebende „kalte Blick“ bezieht sich einerseits auf den Ausdruck in den Gesichtern der jüdischen Familien, in die das Erlittene unter deutscher Herrschaft bereits tiefe Spuren gezeichnet hat. Deshalb haben die Ausstellungsmacher versucht, diesen gespenstischen Aufnahmen warmherzige Familienfotos – sofern vorhanden – als Kontrapunkt zur Seite zu stellen. Er beschreibt aber auch die menschenverachtende Herangehensweise der beiden Rassenforscherinnen.

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Die beiden Wissenschafterinnen fotografierten über hundert Familien

„Das ist Fotografie ohne Empathie, die in den Menschen nur Material sieht“, sagte Berner. Den Wissenschafterinnen sei außerdem bewusst gewesen, dass sie sich beeilen mussten, wenn sie noch genügend lebende „Objekte“ antreffen wollten – wie auch aus Auszügen des Briefwechsel zwischen den Frauen hervorgeht: „In nicht einmal zwei Wochen wurden 106 Familien vermessen“, so die Kuratorin. Was die Wiener Forscherinnen anbelangt, ist ein Aspekt nicht uninteressant: Sie sahen ihr Projekt in Polen auch als Möglichkeit, die kriegsbedingte Abwesenheit der Männer zu nutzen und als Frauen im Wissenschaftssektor Karriere zu machen.

Nur 26 Fotografierte überlebten Holocaust

Die Stadt Tarnow, deren 50.000 Einwohner etwa zur Hälfte jüdisch waren, wurde nicht zuletzt deshalb ausgewählt, da ein ähnliches Vorhaben in Krakau aufgrund der fortschreitenden Ausmerzung der Juden im Frühjahr 1942 gar nicht mehr umsetzbar gewesen sei, erklärte Berner. Nach Tarnow kamen Kahlich und Fliethmann gerade noch rechtzeitig. Denn im Juni 1942 ging auch hier das Massenmorden der Nazis los. Nur 26 der 565 Personen, deren Biografien an einem eigenen Onlineterminal alphabetisch eingesehen werden können, überlebten den Holocaust.

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In einer Holzbox wurden die Fotografien gefunden

Drei betroffene Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sind heute noch am Leben. Nachkommen und Überlebende, mit denen Berner im Zuge ihrer Recherchen in Kontakt getreten war, hätten durch diese tragischen Dokumente erstmals ein Bild ihrer umgekommenen Familienangehörigen – das in vielen Fällen das letzte vor ihrer Ermordung gewesen sein soll – vor Augen bekommen, schilderte die Ausstellungskuratorin. Am Ende der Ausstellung sind sämtliche rund 2.000 Fotos als Reproduktionen versammelt, allerdings so angeordnet, dass sie nur aus respektvoller Distanz erspäht, aber nicht begafft werden können.

Projekt blieb ergebnislos

Das Forschungsprojekt mit den Erhebungen aus Tarnow selbst kam vor Kriegsende zu keinem Abschluss mehr. Kahlich wurde nach der Niederlage der Nationalsozialisten aus dem Wiener Anthropologie-Institut entlassen und arbeitete als Gutachterin in Vaterschaftsprozessen. Fliethmann ging nach Berlin und war im sozialpädagogischen Bereich tätig. Hinweise darauf, dass sie Reue gezeigt hätten, gebe es nicht, so die Kuratorin.

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red, wien.ORF.at/Agenturen
Quelle: Schau zeigt „Rassenforschung“ per Kamera
 
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