Böhler Werk XII in St. Lorenzen und St. Marein
Bereits 14 Tage nach der „Anschlussabstimmung“ erschien im Böhlerwerk Kapfenberg eine Kommission des Oberkommandos der Wehrmacht und forderte im Sinne einer Kriegsrüstung die Ausweitung der Produktion. Sofort begann man mit dem Ausbau des Werkes VI in Deuchendorf, weswegen mehrere zur Pfarre St. Lorenzen gehörige Bauernhöfe weichen musten. Bereits im Herbst 1939 ging diese neue „mechanische Bearbeitung“ in Produktion. Die Enge des am Thörlbach gelegenen Werkes I verhinderte jeden größeren Ausbau, weshalb man im Mai 1941 sich im weiteren Mürztal umsah und die fast ebene Fläche zwischen Gassing / Lesing und St. Marein ins Auge fasste.
Die Vorteile lagen etwa in der Nähe zur Reichsstraße und zur Bahn, der gesicherten Wasserversorgung, eines festen Baugrundes und einer nahen Schottergewinnung. Als Nachteile wurde die Verbauung bester landwirtschaftliecher Grundstücke, die notwendige Schleifung der ganzen Ortschaft Lesing (eventuell sogar Gassing) bei einem Vollausbau sowie der nach Bekanntwerdung des Vorhabens massive Unmut der betroffenen Bauern angesehen. Schon im August wurde eine erste Planung vorgelegt, wonach in insgesamt 4 Ausbaustufen das Werk errichtet werden sollte.
Die Stufe 1 sollte bereits im Herbst 1941 begonnen werden, die nächsten zwei in den zwei folgenden Jahren.
Das Werk XII sollte sich nach dem – nie erreichten – Endausbau von St. Marein über Lesing und Gassing bis zum Schimplhof erstrecken.
Eine Verwirklichung der Stufe 4 war noch nicht absehbar. Für die abzusiedelnden Bauern war an eine Neugründung der Ortschaft „Lesing“ in der eben angeschlossenen Untersteiermark gedacht oder eine Einzelansiedlung in diesem neu besetztem Gebiet oder auch innerhalb des Kreises (Bezirkes) Bruck/Mur. Im September beantragte das Unternehmen neben dem Bau von zwei Elektrolichtbogenöfen die Errichtung eines Blockzwerkes, wobei die Kosten für letzteres auf 14,2 Millionen Reichsmark für eine Werksfläche samt Baracken von 16.885 m2 geschätzt wurden. In diesem Werk sollten 8990 Tonnen Blöcke pro Monat erzeugt werden. Das ursprüngliche Projekt im Gesamtumfang 46 ha wurde jedoch durch die Berliner Stellen auf 26 ha eingeschränkt.
Bereits im März 1942 wurden mehrere Begehungen mit betroffenen Grundbesitzern durchgeführt, Abtretungsunwilligen wurde unverhohlen gedroht. Im Mai 1942 begann nach grundsätzlicher Einigung mit den Besitzern die Bewilligungsverfahren, nachdem bereits im April mit Erdaushubarbeiten begonnen worden war. Am 19. August erfolgten die bau- und gewerberechtlichen Verhandlungen, einschließlich der Verlegung der erforderlichen STEWEAG-Stromleitung. Allerdings geriet man doch in Verzug, da die erforderliche Anzahl an ausländischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen nicht erreicht wurde.
Ein umfangreicher Bericht über den Fortschritt der Bauarbeiten am Werk XII im Jahre 1943 erliegt im Gemeindearchiv St. Marein. Demnach schritten die Arbeiten trotz aller Widrigkeiten rasch voran, die Stahlwerke 1 und 2 waren baulich fast fertiggestellt, ebenso das Stahlwalzwerk-Gebäude. Auch die Nebenanlagen, wie Kesselhaus, Gleisanlagen, Montagewerkstätte, Schalthaus, Kanalisation und Stromschienenkanal waren in Fertigstellung begriffen. Vieles musste im Hinblick auf die schwierige Materialbeschaffung nur provisorisch errichtet werden, doch konnte nach mehrmaligen Verzögerungen das Stahlwerk XII am 20. Juni 1944 um 17:30 Uhr in Betrieb genommen werden.
Am 3. Juli 1944 nahm Reichsminister Albert Speer die offizielle Eröffnung des Stahlwerkes vor.
Die offizielle Betriebseröffnung des damals modernsten Stahlwerkes nahm der Reichsminister für Bewaffnung und Munition Dipl.-Ing. Albert Speer am 3. Juli 1944 vor. Am 11. November 1944 konnte auch der Elektroofen II in Betrieb genommen werden. Die immer häufiger werdenden Angriffe feindlicher Bomber machten Auslagerungen von nicht unmittelbar produktionswichtigen Materialien notwendig. So etwa wurden Ausweichlager beim Stollingerwirt, in St. Marein und in den Gebäuden des Bergwerkes Parschlug errichtet.
Im sogenannten „Führernotprogramm“ vom 5. Februar 1945 wurde das Werk XII als kriegsentscheidende Produktionsstätte angeführt, weshalb ein „unbedingter Flak-Schutz“ angeordnet wurde. Tatsächlich konnte das Werk bis Kriegsende in Betrieb gehalten werden, die letzte Charge wurde am Nachmittag des 7. Mai 1945 aus dem Elektroofen II abgestochen. In knapp 10 Monaten Betrieb konnten in 787 Chargen 21.877 Tonnen Rohstahl geschmolzen werden.
Das aus mehreren Hallen bestehende Walzwerk während der Errichtung.
Gleich nach dem Einmarsch der Roten Armee begann die Demontage und der Abtransport der gesamten Werkseinrichtung. Die Elektrolichtbogenöfen, alle elektrischen Einrichtungen sowie alle Maschinen und Nebenanlagen wurden Richtung Russland abtransportiert. Ob sie jemals dort angekommen sind, bleibt zweifelhaft.
Gleich nach der Kapitulation begann die Demontage durch die sowjetische Besatzungsmacht.
Ein verwüstetes Werksgelände blieb zurück. Die großen Hallen und die Bahngeleiseanlagen wurden in der Folge von der Fa. Böhler abgetragen, einige feste Baulichkeiten wurden in weiterer Folge an Gewerbebetriebe verkauft, so etwa das alte Schalthaus an die heutige Firma Minka Holz- und Metallverarbeitungs-GesmbH, das Schnelllabor und die Zentralkanzlei an die Tischlerei Bruno Köck sowie eine Montagehalle, in welcher heute die Autowerkstatt Kemeter arbeitet.
Die für die Bauarbeiter und die ausländischen Zwangsarbeiter errichteten Baracken nördlich der Grenzstraße wurden nach dem Krieg als Kriegsgefangenlager für DPs (Displaced Persons) genutzt, danach entweder abgetragen oder als Familienunterkünfte verwendet. Der Großteil des ehemaligen Werksgeländes wurde (oberirdisch) geschliffen und als Parzellen für Einfamilienhäuser verkauft.
Die Baracken für die Kriegsgefangenen standen etwa im Bereich der heutigen Grenzstraße Richtung Landesstraße.
QUELLE: St. Lorenzen im Mürztal, Aus alter und neuer Zeit (Otto Fraydenegg-Monzello)