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Späte Korrektur: Österreichs Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit

Von Erica Fischer

Die Temperatur im barocken Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) ist nur unwesentlich wärmer als jene draußen auf dem Wiener Josefsplatz. Beim Betreten legen die Besucher den Kopf erst einmal tief in den Nacken, um die Pracht der allegorischen Deckenfresken hoch oben zu bestaunen.

Die Österreichische Nationalbibliothek zählt zu den sechs wichtigsten Büchersammlungen der Welt, hat jedoch heute im internationalen Vergleich einen sehr geringen Etat für Ankäufe. Die Lücken werden immer größer.

Dass dies nicht immer so war, zeigt in eben jenem imposanten Prunksaal eine kleine Ausstellung, der eine akribische Forschungstätigkeit zugrunde liegt. Geleitet von dem fanatischen Nationalsozialisten Paul Heigl beteiligte sich die Nationalbibliothek ab dem „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland im März 1938 in großem Umfang an der systematischen Beraubung aller, die in der „Ostmark“ verfolgt, vertrieben und ermordet wurden, vor allem Juden, aber auch andere Opfer des NS-Regimes.

Das 1998 vom österreichischen Parlament beschlossene Kunstrückgabegesetz ermöglichte es der seit 2001 amtierenden Generaldirektorin Johanna Rachinger, die traditionsreiche Bibliothek mit ihrer historischen Schuld zu konfrontieren. In einem im Vorjahr abgeschlossenen Provenienzbericht wurden über 25 000 noch im Besitz der Bibliothek befindliche Objekte als unrechtmäßig erworben aufgelistet. Soweit die Erbinnen und Erben der vormaligen Besitzer zu eruieren sind, wird das geraubte Eigentum zurückgegeben. Wo dies nicht möglich ist, werden die Sammlungen an den Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus übergeben. Es überrascht nicht, dass nur 62 eindeutig identifizierbare Vorbesitzer ermittelt werden konnten.

Vorsichtig geschätzt gelangten in der Zeit zwischen 1938 und 1945 mindestens 150 000 Druckschriften und 45 000 Sammlungsobjekte durch Enteignung politisch und rassisch verfolgter Menschen in die Nationalbibliothek. Nicht mitgezählt all jene Objekte, für die die NB nur Durchgangsstation auf dem Weg in Bibliotheken und Institute des Deutschen Reichs war.

Generaldirektor Heigl hatte die besten Beziehungen zur SS, zur Gestapo und zu Mitgliedern der obersten NS-Führungsriege und verstand diese zu nutzen. So konnte etwa die Theatersammlung ein Jahr „nach der Heimkehr der Ostmark ins Großdeutsche Reich“ aufgrund der „außerordentlich günstigen Entwicklungsmöglichkeiten“ enorme Zuwächse verzeichnen. Aus Heigls Korrespondenz in der Anfangszeit spricht eine gewisse Überforderung. Es seien der NB „derartige Mengen an Büchern und Zeitschriften“ zugegangen, dass „deren Unterbringung zu einem schwer lösbaren Problem geworden ist“. Im Herbst 1938 erreichte er die Zuteilung dreier Bibliothekare aus Berlin, die er ausschließlich für die „Betreuung“ der beschlagnahmten Bibliotheken einsetzte. Seine Aktivitäten endeten im April 1945 mit seinem Freitod.

Als sich der Schriftsteller Gerhard Roth im Herbst 1989 zu einer literarischen Spurensuche in die Bücherspeicher der Österreichischen Nationalbibliothek begab, erfuhr er von einem Raum mit dem unheimlichen Namen „Sarg“, in dem nicht erfasste Bücher lagerten, ganze Bibliotheken jüdischer Flüchtlinge und Deportierter, die selbst nach so vielen Jahren noch nicht aufgearbeitet waren. Die damalige Direktion bestritt, dass es überhaupt noch geraubte Bücher in der NB gäbe.

„Die Rückgabe der Bücher seit dem Kriegsende ist reich an Grotesken, Unterlassungen, Irrtümern und Fehlern“, bemerkte Gerhard Roth bei der Ausstellungseröffnung. Im Katalog wird diese Aussage eindrucksvoll mit Fallbeispielen belegt. So gelang es der ÖNB durch Spekulation mit Verjährungs- und Ersitzungsfristen, die Rückgabe der wertvollen Fotosammlung des nach Auschwitz deportierten Sammlers Raoul Korty so lange zu verschleppen, bis die Korrespondenz mit den Rückstellungsberechtigten 1980 abbrach. Noch heute befinden sich in den Magazinen des NB-Bildarchivs etwa 15000 unbearbeitete Fotografien und Negative, über deren Rückstellung in nächster Zeit entschieden wird. Warum kommt diese schonungslose Offenlegung des Bücherraubs erst so spät, fragt Gerhard Roth. Amnesie? Der Stupor Austriacus? Gleichgültigkeit? Das war einmal. Die heutige ÖNB-Generaldirektorin Johanna Rachinger ist entschieden nicht gleichgültig.

Bis 23. Januar, Katalog 20 €.
Quelle: http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/23.12.2004/1555322.asp
 
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