Eine jüdische Partisanengruppe plante 1945/46 große Giftanschläge in Deutschland als Rache für den Holocaust

josef

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DRASTISCHE VERGELTUNG
Wie eine Gruppe jüdischer Überlebender den Holocaust rächen wollte
1945 plante die Organisation Nakam große Giftanschläge in Deutschland. Dass das Vorhaben misslang, freute später viele Beteiligte
Die "New York Times" berichtete am 20. April 1946 über einen mysteriösen Vorfall im besetzten Deutschland: 1900 deutsche Kriegsgefangene seien "mit Arsen in ihrem Brot" in einem US-amerikanischen Internierungslager bei Nürnberg vergiftet worden und ernsthaft erkrankt. Drei Tage später präzisierte die Zeitung, dass sogar 2283 Gefangene in dem Lager, in dem hauptsächlich Angehörige der SS festgehalten wurden, Vergiftungssymptome zeigten. Tote gab es Behördenangaben zufolge nicht, im Fokus der Ermittlungen stehe die Bäckerei, die das Brot geliefert hatte: In einem Versteck seien dort mehrere Flaschen mit Arsen entdeckt worden.


Untersuchungen in einer Bäckerei bei Nürnberg nach dem Giftanschlag im April 1946.
Privatarchiv Dina Porat

Die Täter wurden nicht gefunden, sie hatten Deutschland längst verlassen. Wer sie waren, stellte sich erst Jahrzehnte später heraus: eine Gruppe junger Jüdinnen und Juden, die als Partisanen gegen die Deutschen gekämpft hatten und sich am Ende des Kriegs einem neuen Ziel verschrieben hatten: Rache zu nehmen an den Tätern des Holocausts.

Alles verloren
Dass kein einziger SS-Mann durch den Giftanschlag ums Leben kam, bedauerten die Mitglieder der Gruppe zunächst – damit war bereits ihr zweiter Plan gescheitert. Das ursprüngliche Vorhaben der "Nakam" (Hebräisch für Rache), wie sich die Gruppe nannte, hatte völlig andere Dimensionen gehabt: Durch die Vergiftung der Trinkwasserversorgung in deutschen Großstädten hatten sie Millionen Deutsche töten wollen. Die Vorbereitungen dafür waren schon fortgeschritten gewesen, als der Anführer der Gruppe verhaftet und die Umsetzung unmöglich geworden war.

Wer waren diese jungen Menschen, die eine derart unvorstellbare Tat geplant hatten? Die israelische Historikerin Dina Porat hat die Geschichte der Nakam akribisch aufgearbeitet und viele Mitglieder in den 1980er- und 1990er-Jahren interviewt. "Ich habe sie als liebenswerte, intelligente, empathische Menschen kennengelernt. Und diese netten Leute wollten einmal Millionen Menschen umbringen? Wie kann das sein? Das wollte ich verstehen", sagt Porat, die lang Jahre Chefhistorikerin der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem war. Ihre Studie über die Geschichte der Nakam liegt inzwischen auch auf Deutsch unter dem Titel "Die Rache ist Mein allein" (Verlag Brill Schöningh) vor und ist vor kurzem in einer englischen Fassung bei Stanford University Press erschienen.


Nach der Befreiung durch die Rote Armee gründete Abba Kovner (stehend in der Mitte) mit anderen Partisanen die Gruppe Nakam.
Privatarchiv Dina Porat

Die Gruppe bestand aus rund 50 Männern und Frauen, zu Kriegsende großteils um die 20 Jahre alt. "Bis auf ihr Leben hatten sie alles verloren. Die meisten stammten aus der Ukraine, aus Litauen, Belarus und Polen", erzählt die Historikerin. "Ihre Familien waren ermordet worden, einige waren auch selbst in Konzentrationslagern gewesen. Und sie hatten sich schon früh organisiert."

Drastische Warnung
Viele Nakam-Mitglieder waren in jüdischen Jugendorganisationen gewesen und hatten nach dem deutschen Überfall im Untergrund gelebt. Sie hatten in den Ghettos Widerstand geleistet, als Partisanen in den Wäldern gekämpft und mit eigenen Augen gesehen, wie das jüdische Leben in ihrer Heimat von den Nationalsozialisten und ihren Helfern systematisch ausgelöscht worden war. "Ihre Motivation war vor allem Rache, aber es ging auch um etwas anderes", sagt Porat.



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Nach Kriegsende waren die Überlebenden nicht nur mit dem unfassbaren Ausmaß des Holocausts konfrontiert. Sie sahen auch, wie das Leben in der Tätergesellschaft einfach weiterging: Deutschland wurde wieder aufgebaut, unzählige Täter blieben unbehelligt oder kamen schon bald wieder frei. Bei den Nürnberger Prozessen wurden ab Ende 1945 zwar Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geahndet, der Völkermord an den Jüdinnen und Juden in seiner Gesamtheit wurde jedoch nicht verhandelt.

Zudem zeichnete sich ein neuer geopolitischer Konflikt ab: jener zwischen den USA und der Sowjetunion. Beide Seiten interessierten sich bald mehr für die Expertise der deutschen Wissenschafter und Geheimdienstler als für deren Verstrickungen in die Verbrechen des Nationalsozialismus. "Zu Trauer, Enttäuschung und unbändiger Wut mischte sich bei den Nakam-Mitgliedern noch ein anderes Gefühl", sagt Porat: "die Sorge um die Sicherheit der überlebenden Juden". Der Antisemitismus war mit der militärischen Niederlage Deutschlands nicht aus Europa verschwunden. Vielerorts kam es auch nach Kriegsende zu Pogromen und Massakern an Juden, die in ihre Heimatorte zurückkehren wollten. "Die Gruppe wollte etwas so Drastisches unternehmen, dass nie wieder jemand daran denken würde, Juden etwas anzutun", sagt Porat. "Es sollte Rache sein, aber auch eine Warnung für die Zukunft."

Das war auch das erklärte Ziel von Abba Kovner. Der charismatische Schriftsteller aus Litauen war, mit Mitte 20, einer der Anführer des jüdischen Widerstands im Ghetto von Vilnius gewesen. Er hatte früh erkannt, dass die Nationalsozialisten die Vernichtung aller europäischen Jüdinnen und Juden planten, und sah in bewaffneter Selbstverteidigung den einzigen Ausweg. Zu Kriegsende folgten ihm tausende Überlebende nach Südeuropa, um von dort nach Palästina auszuwandern.

Große Ablehnung
Kovner selbst wollte nicht gehen, ohne Vergeltung zu üben. Um ihn sammelte sich eine Gruppe Gleichgesinnter. Radikale Ideen für eine gigantische Racheaktion wurden schnell konkret. Durch die Vergiftung von Trinkwasser könnte eine große Zahl an Deutschen getötet werden, und die Welt würde sehen, dass das beispiellose Verbrechen an den Juden nicht ungesühnt bleibe. Die Wahl fiel auf drei Städte, in denen die Wasserversorgung intakt war: Nürnberg, Dachau und Hamburg.


Während sich die Nakam-Mitglieder aufteilten und versuchten, Zugang zu den Wasserwerken zu erlangen, reiste Kovner mit falschen Papieren nach Palästina, um Gift zu besorgen. Kovners Plan, massenhaft Zivilisten zu vergiften, stieß aber nirgends auf Unterstützung, ganz im Gegenteil. "Es wäre ein wahlloser Massenmord an Schuldigen wie Unschuldigen gewesen, der vermutlich allen Jüdinnen und Juden angelastet worden wäre", sagt Porat. "Eine so schreckliche Tat hätte auch die Unterstützung für die Gründung eines jüdischen Staates gefährdet."


Abba Kovner (oben rechts) kurz vor seiner Verhaftung Ende 1945 an Bord der "Champollion" auf dem Weg nach Europa. Das Gift warf er über Bord.
Privatarchiv Dina Porat

Plan B wie Brot
Also ersann Kovner einen akzeptableren Plan B: Statt Zivilisten sollten SS-Angehörige in Internierungslagern der Alliierten vergiftet werden, die sonst vermutlich früher oder später großteils wieder freikommen würden. Von diesem Vorhaben konnte er zwei Wissenschafter der Hebräischen Universität Jerusalem überzeugen: die Brüder Aharon und Ephraim Katzir (Letzterer sollte Jahrzehnte später Israels vierter Staatspräsident werden).

Welches Gift sie besorgten, ist unklar, es erreichte jedenfalls nie das vorgesehene Ziel: Auf der Schifffahrt zurück nach Europa wurde Kovner, der den Verdacht der britischen Behörden erweckt hatte, verhaftet und warf das Gift über Bord. Während Kovner in einem britischen Gefängnis in Ägypten saß, disponierte die Nakam-Gruppe abermals um.

Über Kontakte nach Paris konnten größere Mengen Arsen beschafft werden, als Ziel für den Anschlag wurde das Internierungslager Nürnberg-Langwasser ausgewählt. Man fand heraus, welche Großbäckerei das Lager mit Brot belieferte und schleuste dort ein Nakam-Mitglied ein, um die Räumlichkeiten und Abläufe auszukundschaften. Nach monatelangen Vorbereitungen machte die Gruppe im April 1946 ernst: In der Nacht vor einer Auslieferung verschafften sich mehrere Mitglieder Zugang zur Bäckerei und pinselten eine Arsen-Wasser-Mischung auf 3000 Brotlaibe.

Enttäuschung und Erleichterung
Zunächst ging der Plan auf, das Brot wurde ausgeliefert und sorgte unter den internierten SS-Männern für teils schwere Vergiftungen. Weshalb niemand daran starb, ist nicht geklärt – vermutlich war die Arsenkonzentration zu gering für eine tödliche Wirkung.

Die Nakam-Mitglieder entkamen unerkannt und wanderten nach Palästina aus. Einige von ihnen, sagt Porat, seien bis an ihr Lebensende enttäuscht gewesen, dass ihre Pläne nicht wirklich funktioniert hatten. Andere waren heilfroh darüber, etwa Gabi Schedlitz, der später einmal sagte: "Bis heute habe ich zwei Dinge nicht überwunden: dass ich meine Mutter im Ghetto zurückließ und in die Wälder zog und dass ich einmal der Vorstellung anhing, Millionen Menschen umzubringen."
(David Rennert, 2.7.2023)

Literatur
Dina Porat, "Die Rache ist mein allein" (2021), Brill Schöningh
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