Neandertaler und danach - Geschichtsbuch der Steinzeit

josef

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#21
ÜPPIGE JAGDBEUTE
Neandertaler erlegten regelmäßig riesige Rüsseltiere
Eine neue Analyse zeigt, dass die Jagd auf Waldelefanten keineswegs Einzelfälle waren. Dies könnte auf Vorratswirtschaft und große Neandertalerversammlungen hindeuten
Neandertaler gingen gut organisiert auf die Jagd. Welchen Aufwand sie trieben, um offenbar auch eine größere Bevölkerung zu ernähren, bewies bereits ein spektakulärer Fund vor annähernd drei Jahren. Damals entdeckte ein Forschungsteam an der Fundstelle Neumark-Nord in einem ehemaligen Braunkohletagebau in Sachsen-Anhalt die Überreste von Europäischen Waldelefanten. In einer im vergangenen Februar vorgestellten Untersuchung bewiesen die Forschenden anhand von Schnittmarken, dass vor rund 125.000 Jahren über Jahrhunderte hinweg die riesigen Dickhäuter auf dem Speiseplan der Neandertaler standen.


Um einen ausgewachsenen Waldelefantenbullen niederzuringen, brauchte es vermutlich eine große Zahl hochmotivierter Neandertaler.
Illustr.: Alex Boersma/PNAS

Ein solches Wesen zu erlegen war keine Kleinigkeit: Der vor spätestens 33.000 Jahren ausgestorbene Waldelefant (Palaeoloxodon antiquus) war ein Gigant, selbst im Vergleich zum modernen Afrikanischen Elefanten. Mit einer Schulterhöhe von bis zu vier Metern und einem Gewicht von über zehn Tonnen überragte ein Waldelefantenbulle sogar das Wollhaarmammut, was ihn zu einem der größten Rüsseltieren machte, die je auf der Erde gewandelt sind.

Verräterische Schnittspuren
Dass die Waldelefantenjagd keine alleinige Spezialität der Neandertaler von der Fundstelle Neumark-Nord war, untermauert nun eine neuerliche Analyse von Überresten zahlreicher entsprechender Mahlzeiten von anderen Ausgrabungsstätten. Die Forschungsgruppe um Sabine Gaudzinski-Windheuser von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz identifizierte an Knochenfunden aus Gröbern in Sachsen-Anhalt und Taubach in Thüringen zahlreiche unverkennbare Schnittspuren von Steinwerkzeugen.

"Die Ergebnisse der Untersuchung der Knochen aus Gröbern und Taubach zeigen nun, dass die Jagd von Neandertalern auf Waldelefanten keine Ausnahme, sondern regelhaftes Verhalten war", sagte Gaudzinski-Windheuser. Die Forscherin war bereits maßgeblich an der Untersuchung der Knochen in Neumark-Nord beteiligt gewesen.


Ein fossiler Beckenknochen eines Waldelefanten vom Fundort Gröbern. Schnittspuren weisen darauf hin, dass das Tier wohl Opfer einer Neandertaler-Jagdgruppe geworden ist.
Foto: Lutz Kindler, LEIZA

Ausgereifte Vorratshaltung
Wie das Team nun im Fachjournal "Pnas" berichtet, dürften die Jagdgewohnheiten der Neandertaler auch auf eine ausgefeilte Vorratshaltung hindeuten, denn die große Mengen an Fleisch und Fett, die ein Elefant abwirft, werden wohl nicht alle auf einmal verzehrt worden sein. Womöglich beherrschten die Neandertaler bereits Techniken, die es ihnen erlaubten, Nahrungsmittel zu konservieren und zu lagern.

Außerdem lässt sich aus diesen Elefantenjagden auch auf das Sozialleben der Neandertaler schließen: Um solche großen Tiere erlegen zu können, bedarf es großer Jagdgesellschaften, berichten die Forschenden im Fachjournal "Pnas". Die Beute einer erfolgreichen Elefantenjagd reichte dann auch für eine große Zahl von Menschen, was den Fachleuten zufolge ebenfalls Hinweise auf die Lebensweise des Neandertalers liefert.


Die rund fünf Millimeter langen Schnittspuren an dem Waldelefanten-Beckenknochen in der Vergrößerung.
Foto: Lutz Kindler, LEIZA

Große Neandertalergruppen
Nach Berechnungen der Wissenschafter könnte ein ausgewachsener Waldelefantenbulle den täglichen Kalorienbedarf von 2500 Neandertalern gedeckt haben. "Diese Zahl ist wichtig, denn sie führt zu neuen Einblicken in das Verhalten der Neandertaler", sagte Gaudzinski-Windheuser. Bisher war man eher davon ausgegangen, dass sich Neandertaler in Gruppen von kaum mehr als 20 Individuen zusammenschlossen. Doch die neuen Ergebnisse zur systematischen Jagd auf Waldelefanten deuten viel eher darauf hin, dass sich die Neandertaler zumindest zeitweise zu deutlich größeren Gruppen versammelt haben.
(tberg, red, 6.12.2023)

Studien
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#22
SCHLAF-WACH-RHYTHMIK
Neandertaler dürften Frühaufsteher gewesen sein
Wenn Sie eher zu den Lerchen als zu den Nachteulen gehören, dann könnte das mit Genvarianten zu tun haben, die wir von unseren ausgestorbenen Verwandten geerbt haben

Der frühe Neandertaler fing den Höhlenbären. Die "Morgentauglichkeit" unserer ausgestorbenen Verwandten dürfte eine Anpassung an die im Norden unterschiedlichen Tageslängen gewesen sein.
Images/iStockphoto

In der öffentlichen Meinung und in einschlägigen Gesundheitsstatistiken stehen die Frühaufsteher eindeutig besser da. Frühe Vögel, die laut Volksmund auch den Wurm fangen, gelten gemeinhin als leistungsbereiter und produktiver. (Obwohl eigentlich auch nachtaktive Eulen recht erfolgreich ihre Beute fangen.) In jedem Fall dürften menschliche Frühaufsteher gesundheitliche Vorteile haben, wie Untersuchungen immer wieder zeigen: So ermittelte eine Studie auf Basis von Daten der UK Biobank, dass Nachttypen ein höheres Sterberisiko haben.

Die UK Biobank umfasst die anonymisierten genetischen und gesundheitlichen Informationen von rund einer halben Millionen Personen, von denen sich rund 27 Prozent "definitiv als Morgenmensch" und neun Prozent "definitiv als Abendmensch“ deklarierten. 35 Prozent gaben an, "eher ein Morgenmensch" zu sein, 28 Prozent sahen sich "eher als Abendmensch". Wie die Forschung weiß, gibt es für diese Präferenzen genetische "Voreinstellungen", die nun von einem Wissenschafterteam um John Capra (University of California in San Francisco) auf ihre möglichen Ursprünge hin untersucht wurden.

Unterschiedliche Schlaf-wach-Rhythmen?
Die Hypothese der Forschenden: Womöglich haben wir bestimmte genetische Merkmale unseres Schlaf-wach-Rhythmus von den Neandertalern und/oder Denisovanern übernommen, denen nichtafrikanische Menschen ein bis zwei Prozent ihrer Erbsubstanz verdanken. Da sich die Entwicklungslinie der modernen Menschen vor rund 700.000 Jahren von diesen beiden ausgestorbenen nächsten Verwandten trennte und diese sehr viel früher in nördlicheren Regionen lebten, könnte das auch Auswirkungen auf die biologischen Uhren dieser Menschengruppen gehabt haben.

Als sich dann moderne Menschen vor rund 70.000 Jahren aus Afrika kommend weiter nach Europa und Asien vorwagten, trafen sie dort auf ihre gut angepassten Verwandten und paarten sich mit ihnen. Einige dieser für die neue Umgebung günstigen Genvarianten sind nachweislich auf die modernen Menschen übergegangen – während die meisten anderen, eher ungünstigen Neandertaler-Gene wieder "herausgemendelt" wurden.

Für einige Merkmale wurden solche Übernahmen bereits demonstriert: So dürften bei Neandertalern und/oder Denisovanern genetische Varianten im Zusammenhang mit der Anpassung an höher oder nördlicher gelegene Regionen entstanden sein, die im modernen Menschen fortleben. Die heutigen Bewohner des Hochlandes von Tibet etwa dürften sich dank dieser Gene an das Leben in dünnerer Luft angepasst haben. Auch die helle Haut der Mittel- und Nordeuropäer könnte ein Erbe der Neandertaler sein. Denn dadurch wird die Bildung von Vitamin D in nördlicheren Regionen erleichtert.

Morgentaugliche Neandertaler
Gilt diese genetische Übernahme auch für Gene, die den Tag-Nacht-Rhythmus regeln? Um diese Frage zu klären, untersuchten die Forschenden um den kalifornischen Bioinformatiker Capra, ob es genetische Hinweise auf Unterschiede in den biologischen Uhren von Neandertalern und modernen Menschen gibt. Mithilfe von Methoden der künstlichen Intelligenz ermittelten sie unter anderem 16 sogenannte circadiane Gene, die wahrscheinlich zwischen dem heutigen Menschen und unseren ausgestorbenen Verwandten unterschiedlich reguliert werden. Es scheint also funktionelle Unterschiede zwischen den Tag-Nacht-Rhythmen der Neandertaler und denen moderner Menschen zu geben, folgern die Forschenden im Fachblatt "Genome Biology and Evolution".

Im zweiten Schritt wurde analysiert, ob genetische Varianten, die von Neandertalern auf den modernen Menschen übergegangen sind, mit den Präferenzen für Wachsein und Schlaf in Verbindung stehen. Tatsächlich entdecke Capra mit seinem Team etliche dieser Varianten, die Auswirkungen auf den Tag-Nacht-Rhythmus hatten. Am auffälligsten war, dass diese Varianten durch die Bank die "Morgentauglichkeit" erhöhen, also die Neigung, früh aufzuwachen. Das stehe im Einklang mit Anpassungen an den nördlichen Breitengrad, schließen die Forschenden, die darauf verweisen, dass solche Adaptionen auch schon bei anderen Tieren (etwa Fruchtfliegen) beobachtet wurden.

Menschen, die zu den Frühaufstehern zählen, verfügen über eine etwas schnellere Taktung der circadianen Rhythmik. Der Tag-Nacht-Rhythmus beträgt bei ihnen etwas weniger als 24 Stunden, während die eher nachtaktiven Personen einen über 24 Stunden langen Rhythmus haben. In höheren Breiten – also weiter im Norden – ist eine kürzere Taktung vermutlich von Vorteil, denn sie erlaubt eine bessere Anpassung des Schlaf-wach-Rhythmus an äußere Signale wie die über das Jahr hinweg stark schwankenden Tageslängen. Dem entspricht, dass Frühaufsteher tendenziell eher in nördlichen Breiten anzutreffen sind. Und ihre Morgentauglichkeit ist, wie zu beweisen war, auch ein genetisches Erbe der Neandertaler. (tasch, 15.12.2023)
Neandertaler dürften Frühaufsteher gewesen sein
 

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#23
SENSATIONSFUND
Älteste Spuren des modernen Menschen in Zentraleuropa gefunden
Der Homo sapiens kam schon vor 45.000 Jahren über die Alpen – also tausende Jahre bevor der Neandertaler ausstarb. Die Mühen des Forschungsteams in einer deutschen Höhle haben sich gelohnt
Warum der Neandertaler ausgestorben ist, zählt noch immer zu den großen Rätseln der Menschheitsgeschichte. Bisher lag der Verdacht nahe, dass er womöglich gewaltsam vom modernen Menschen verdrängt wurde, der vor etwa 40.000 Jahren nach Europa kam und damit den Neandertaler ablöste. Doch die beiden Menschentypen dürften länger als bisher angenommen zeitgleich den Kontinent bevölkert haben. Das zeigt auch eine aufsehenerregende neue Studie im Fachjournal "Nature", die der renommierte Anthropologe Jean-Jacques Hublin leitete: Die bisher ältesten Hinweise auf den modernen Menschen nördlich der Alpen sind demnach mehr als 45.000 Jahre alt.

Das ist auch deshalb erstaunlich, weil es in dieser Region damals eher kalt und unwirtlich war. Klima und Landschaft seien vergleichbar mit den heutigen offenen Steppenlandschaften Sibiriens und Nordskandinaviens, wie die Studienergebnisse zeigen. Die Pioniere unter den Homo sapiens hielt das jedoch nicht davon ab, in neue Lebensräume im nördlichen Europa vorzudringen. Der Beweis dafür sind Skelettfunde im deutschen Bundesland Thüringen. Direkt unter der mittelalterlichen Burg Ranis in der gleichnamigen winzigen Stadt befindet sich die Ilsenhöhle, in der man bereits in den 1930er-Jahren bei Ausgrabungen auf Knochen stieß.

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In Ranis (Thüringen) stieß das internationale Forschungsteam auf beachtliche Funde.

Gemeinsame Technik
Die Knochen und gut 15 Zentimeter langen Steinklingen stammen aus dem gleichen Zeitraum. Der Datierung zufolge lebten dort schon vor 47.500 Jahren moderne Menschen, wenngleich es wohl nur wenige Gruppen waren, die sich damals derartig weit in den Norden wagten. Das prähistorische Werkzeug wird einer bestimmten Technikform zugeordnet, die in die Zeit des Übergangs von Neandertalern zum Homo sapiens fällt. "Es ist jetzt sicher, dass Steingeräte, von denen man dachte, dass sie von Neandertalern hergestellt wurden, nun definitiv von modernen Menschen stammen", sagt Hublin, der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, der mittlerweile am Collège de France in Paris forscht.


Unter der Burg Ranis (links) liegt der Eingang zur Ilsenhöhle, in der beidseitig bearbeitete Steinklingen (rechts; aus dem sogenannten Lincombian-Ranisian-Jerzmanowician-Kulturkomplex, kurz LRJ) und menschliche Knochen entdeckt wurden.
Tim Schüler, TLDA / Josephine Schubert, Museum Burg Ranis

Auch ist nun klar, dass Homo sapiens früher in dieser zentraleuropäischen (und damit ziemlich weit im Nordwesten liegenden) Region auftauchte, als man ihn dort erwartet hätte. Erst tausende Jahre später dürften die letzten Neandertaler im Südwesten Europas ausgestorben sein – abgesehen von den etwa ein bis zwei Prozent Neandertaler-Erbgut, das sie in den meisten heute lebenden Menschen hinterlassen haben.

Nicht nur die neuen Grabungen unter einem immensen Felsen lieferten die spektakulären Erkenntnisse für insgesamt drei Publikationen, auch die kleinen Knochenteile von 1932 bis 1938 wurden neu analysiert. Dabei handelte es sich nicht nur – wie damals gedacht – um Tierknochen, erzählt Paläoanthropologin und Studienautorin Hélène Rougier von der California State University Northridge: "Diese mühsame Arbeit wurde durch die Entdeckung einiger neuer Menschenknochen belohnt."


Bei den neuen Ausgrabungen, die zwischen 2016 und 2022 stattfanden, stießen die Expertinnen und Experten auf weitere menschliche Knochen.
Tim Schüler TLDA, License: CC-BY-ND

Schicht im Schacht
Beschwerlich war auch die neue Grabung bis in acht Meter Tiefe. In diesem Bereich sei auch in den 1930er-Jahren gegraben worden, wobei unklar war, ob in den Sedimenten noch unentdeckte Funde übrig waren, sagt Studienautor Marcel Weiss, der mittlerweile an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg tätig ist. "Glücklicherweise trafen wir auf einen 1,7 Meter mächtigen Felsblock, unter dem damals nicht gegraben wurde", sagt der Archäologe. Der Brocken wurde mühsam in Handarbeit zerkleinert und abtransportiert. Darunter stieß das Team auf Schichten mit menschlichen Knochenresten – "eine große Überraschung", wie Weiss betont.


In acht Meter Tiefe unter Gestein stießen Fachleute in der Ilsenhöhle auf neue prähistorische Spuren.
Marcel Weiss, License: CC-BY-ND 4.0

Das Team, zu dem auch die an der Universität Wien tätigen Fachleute Michael Hein und Mareike Stahlschmidt gehören, analysierte tausende Knochensplitter, unter denen sich viele Tierreste befanden. Dabei wurde die Form der Knochen untersucht, aber auch ihre DNA und Spuren ihrer Proteine. Sie zeigten, dass die Höhle abwechselnd von verschiedenen Spezies bewohnt wurde – darunter überwinternde Höhlenbären sowie Hyänen.

Tierisch kalt
Die Menschen, die sich hier befanden, dürften die Ilsenhöhle nur relativ kurzzeitig genutzt haben. Die Bearbeitungsspuren deuten auf ein facettenreiches Beutespektrum hin, vermutlich ernährten sie sich etwa vom Fleisch ansässiger Rentiere, Pferde und Wollnashörner. "Bisher ging man davon aus, dass die Widerstandsfähigkeit des Menschen gegen kalte Klimabedingungen erst mehrere Tausend Jahre später entstand", sagt Studienautorin Sarah Pederzani vom Leipziger Max-Planck-Institut, daher überraschte die frühe Ansiedlung im heutigen Thüringen. Sogar während einer besonders kalten Zeit vor 45.000 bis 43.000 Jahren, in der sich die Klimabedingungen verschärften, überlebten die Menschen und suchten Zuflucht in der Höhle. "Vielleicht waren kalte Steppen mit größeren Herden von Beutetieren für diese Menschengruppen attraktiver als bisher vermutet."


Tierknochen mit Werkzeugspuren deuten darauf hin, dass der moderne Mensch vor 45.000 Jahren Wild verzehrte, sich aber auch über die Kadaver von Fleischfressern wie Wölfen hermachte.
Geoff M. Smith, License: CC-BY-ND 4.0

Mehrere menschliche Knochen aus den alten und neuen Funden enthielten die gleichen Sequenzen mitochondrialer DNA, also des Erbguts, das sich in den sogenannten Kraftwerken der Zellen befindet, die über die mütterliche Linie vererbt werden. Daraus schließen die Wissenschafterinnen und Wissenschafter, dass es sich entweder um dasselbe Individuum handeln könnte oder um enge Verwandte mütterlicherseits.

Die Sensationsfunde zeichnen ein neues Bild von den vielleicht ersten anatomisch modernen Siedlerinnen und Siedlern im Zentrum Europas, die sich trotz widriger Bedingungen behaupten konnten. Ähnlich wie die Studien des französischen Archäologen Ludovic Slimak zeigen sie, dass Homo sapiens früher als angenommen Teile des Kontinents besiedelte: Slimak vermutet, dass dies in drei größeren Migrationswellen geschah, die älteste soll schon vor 54.000 Jahren stattgefunden haben. Außerdem teilten moderne Menschen damals wohl eine spezielle Technik der Steinbearbeitung mit ihren Neandertaler-Zeitgenossen – ein Indiz, das auf ähnliche Fähigkeiten und vielleicht auch kulturellen Austausch schließen lässt.
(Julia Sica, 31.1.2024)
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#24
STEINZEITKLEBER
Neandertaler nutzten Kleber für Steinwerkzeuge
Ein Forschungsteam stellte die Mixtur nach einem Steinzeitrezept 40.000 Jahre später selbst her. Sie zeigt, dass Neandertaler und moderne Menschen ähnliche Techniken nutzten

Nicht alle Bestandteile von Werkzeugen erhalten sich über Jahrtausende. Ein Forschungsteam stieß beim Sichten alter Funde auf aufschlussreiche Pigmentspuren.
gorodenkoff/Images/Stockphoto

Man nehme Ocker und Bitumen und vermenge die Masse zu einer klebrigen Knete: Fertig ist der erste bekannte Mehrkomponentenkleber Europas. Vor mehr als 40.000 Jahren wurde er im französischen Le Moustier angemischt, einer bekannten Neandertalerfundstätte. Der Klebstoff dürfte gleichzeitig als Griff gedient haben. Ein internationales Forschungsteam produzierte vor kurzem eine Imitation dessen.

Eine Klinge wird in dem Gemisch fixiert, schon ist das Steinwerkzeug mit Griff fertig. Das mag trivial klingen, gilt aber als Beleg für fortgeschrittene Denkleistungen und Werkzeugkulturen. Auch einfachere Klebstoffe wie Baumharz wurden genutzt. Kleber mit mehreren Komponenten gehen nicht nur auf den Neandertaler zurück: In Afrika, wo wohl keine Neandertaler lebten, wurden ähnliche Mischungen noch höheren Alters entdeckt, die vom anatomisch modernen Homo sapiens stammen.

Für die neue Studie, die im Fachmagazin "Science Advances" erschien, untersuchte das Team um Ewa Dutkiewicz und Patrick Schmidt von der Universität Tübingen in Deutschland Fundstücke, die schon 1907 geborgen wurden. Nach ihrer Entdeckung durch den Schweizer Archäologen Otto Hauser landeten sie in einer Berliner Museumssammlung. "Die Sammlungsstücke waren einzeln verpackt und seit den 1960er-Jahren unberührt", erzählt Dutkiewicz. Erst kürzlich stieß man wieder auf sie und erkannte die wertvollen Objekte.


So könnte das Gemisch auch vor 40.000 Jahren zu einem Griff geformt worden sein. Es besteht zu 55 Prozent aus Ocker und ist nicht mehr klebrig.
Patrick Schmidt

Überraschende Mischung
An den fünf Steinwerkzeugen sind nämlich Spuren organischer Stoffe zu erkennen, die sich über die Jahrtausende erstaunlich gut erhalten haben. Bitumen ist ein schwarzes, flüssiges bis festes Gemisch aus Kohlenwasserstoffen, das natürlich im Boden vorkommt. Dort findet man je nach Region auch das Farbpigment Ocker, die Provence ist beispielsweise bekannt für die Ockerfelsen von Roussillon. Das Forschungsteam nimmt an, dass die beiden Bestandteile aus weit voneinander entfernten Orten zusammengetragen wurden, bevor sie am Fundplatz in der Dordogne im Südwesten Frankreichs landeten.


Die vor mehr als 100 Jahren entdeckten Steinwerkzeuge von Le Moustier weisen orangefarbene Spuren des Ockerklebers auf.
Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Vor- und Frühgeschichte / Gunther Möller

Das Forschungsteam untersuchte die Klebespuren unter dem Mikroskop. "Wir waren überrascht, dass der Ockeranteil bei mehr als 50 Prozent lag", wird Erstautor Schmidt in einer Aussendung der Uni Tübingen zitiert. In Experimenten hatten er und seine Gruppe festgestellt, dass luftgetrocknetes Bitumen allein bereits als Klebstoff taugt, gibt man aber dermaßen viel Ocker hinzu, ist das Gemisch nicht mehr klebrig.

"Anders war es, als wir flüssiges Bitumen einsetzten, das sich zum Kleben eigentlich gar nicht eignet", sagt der Archäologe. Zusammen mit 55 Prozent Ocker ergebe sich eine formbare Masse. Sie ist klebrig genug, dass man eine Steinklinge darin befestigen kann, aber die Hände bleiben sauber. Das passt zur Verwendung der Masse als Griff. Diese These wird durch mikroskopische Untersuchungen der Gebrauchsspuren gestützt.


Das Gemisch von Bitumen und Ocker unter dem Mikroskop.
Staatliche Museen zu Berlin,Museum für Vor- und Frühgeschichte / Ewa Dutkiewicz

Ähnliche Denkmuster
Weil die Le-Moustier-Höhle bisher Neandertalern zugeordnet wurde, die dort vor 120.000 bis 40.000 Jahren lebten, gehen die Fachleute davon aus, dass die Werkzeuge ebenfalls von diesem Menschentypus stammen. Vor etwa 40.000 Jahren starb der Neandertaler aus, als der moderne Mensch bereits seit ein paar Jahrtausenden in Europa angekommen war. Die Gründe dafür sind unbekannt, womöglich gab es aber im Vergleich zu wenige und kleine Neandertalerpopulationen, die dann quasi im modernen Menschen aufgingen und in heute lebenden Menschen ein bis zwei Prozent ihrer DNA hinterlassen haben.


Flüssiges Bitumen und Ockerpulver vor dem Vermischen.
Patrick Schmidt

Beide Gruppen dürften sich in vielerlei Hinsicht geähnelt und komplexere Werkzeuge mit Klebegriffen hergestellt haben. "Was unsere Studie zeigt, ist, dass sich beim frühen Homo sapiens in Afrika und den Neandertalern in Europa ähnliche Denkmuster widerspiegeln", sagt Schmidt. "Ihre verschiedenen Klebstofftechnologien haben die gleiche Bedeutung für unser Verständnis von der Menschwerdung."

Ganz ausgeschlossen ist nicht, dass die Neandertaler vom modernen Menschen lernten, wie man die Bitumen-Ocker-Mixtur herstellt. Es gibt aber auch weitaus ältere Hinweise auf Neandertalerpopulationen, die Birkenrinde erhitzten, um einen pechschwarzen Allzweckkleber herzustellen. Das Rezept hätten sie sich vermutlich auch selbst ausdenken können.
(Julia Sica, 24.2.2024)
Neandertaler nutzten Kleber für Steinwerkzeuge
 
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