NS-Terror: Gestapo mit Spitzeln gegen den Widerstand

josef

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Mit Spitzeln gegen den Widerstand
Um politischen Widerstand gegen das NS-Regime auszuschalten, setzte die Gestapo auf ein Netz von Spitzeln und Spionen. Wie diese rekrutiert und organisiert wurden und wie sie zum System der Deportationen beitrugen, erforscht eine Historikerin in Wien.

Die Historikerin Benedetta Carnaghi von der Cornell University in New York forscht derzeit als Fellow am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI). Dort vergleicht sie die Spionageaktivitäten der italienischen faschistischen Geheimpolizei mit ihrem nationalsozialistischen Gegenstück, der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) im NS-Regime.

Um politischen Widerstand zu ersticken, setzte die Gestapo in NS-Deutschland, aber auch in den besetzen Gebieten in Frankreich, gezielt Spione ein - sogenannte Vertrauensmänner oder „V-Männer“. Schätzungen zufolge arbeiteten zwischen 1938 und 1945 etwa 400 bis 600 solcher Spione allein für die Wiener Gestapo. Insgesamt seien es wohl Tausende gewesen, so Benedetta Carnaghi. Genaue Zahlen gebe es nicht, da die Gestapo vor Kriegsende große Teile ihrer Aufzeichnungen vernichten konnte. Das Wissen über die V-Männer stammt daher hauptsächlich aus Protokollen von späteren Gerichtsprozessen.

Zu Kollaboration gezwungen
Bei der Rekrutierung der Spitzel, die etwa kommunistische, sozialdemokratische oder katholische Widerstandsgruppen ausspionieren sollten, folgte das sogenannte Nachrichtenreferat der Gestapo Wien einem effektiven Muster, erklärt Carnaghi: „Am einfachsten war es, Leute auszuwählen, die bereits Kontakte zum Widerstand hatten, weil sie vorher selbst Widerstandsmitglied waren.“ Die Spione gaben dann vor, weiterhin für den Widerstand zu arbeiten, tatsächlich verrieten sie aber Namen, Adressen und Pläne der Widerstandskämpfer an die Gestapo.


John MACDOUGALL / AFP
Bei Verhören wurde Folter angewandt

Warum sie die eigenen Mitkämpferinnen und Mitkämpfer verrieten, lasse sich zum Teil durch die Methoden der Gestapo erklären: „Die Nazis führten sogenannte ‚verschärfte Vernehmungen‘ durch – das bedeutet, dass sie die Festgenommenen folterten und ihnen mit Konzentrationslager oder Exekution drohten. Auch die Drohung, Familienmitglieder zu töten oder zu deportieren war ein effektives Mittel, um Opfer dazu zu bringen, auf die Seite der Täter zu wechseln“, so Carnaghi gegenüber science.ORF.at.

Um ihr Leben zu retten oder ihre Verwandten zu schützen, willigten also viele ein, mit der Gestapo zu kollaborieren. So arbeiteten laut Schätzungen des Historikers Hans Schafranek etwa zwei Drittel der V-Leute unfreiwillig für die Wiener Gestapo, zumindest am Anfang. Welche Motive die anderen Spitzel hatten, sei nicht eindeutig, teilweise dürften sie finanzieller Natur gewesen sein: „Für die Gestapo zu arbeiten bedeutete, bezahlt zu werden und materielle Vorteile zu erhalten“, so Benedetta Carnaghi. Die V-Leute der Wiener Gestapo waren hauptsächlich Männer, es gab aber auch einige weibliche Spione. Im Verhörprotokoll von Lambert Leutgeb, der bereits für die Staatspolizei im Austrofaschismus tätig gewesen war und später das Nachrichtenreferat der Wiener Gestapo leitete, finden sich 59 V-Leute, zehn davon weiblich.

So sind etwa die ehemaligen Kommunisten und späteren NS-Spitzel Kurt Koppel und seine Partnerin Margarete Kahane laut Recherchen des Historikers Hans Schafranek für etwa 800 Opfer der Gestapo verantwortlich. Ein Verfahren gegen Koppel wurde 1957 eingestellt.

Spione oder Denunzianten?
Die Spione wurden vor allem für die Zerschlagung des organisierten politischen Widerstandes eingesetzt. Für die Deportation von Juden spielten sie eine vergleichsweise geringe Rolle, erklärt Carnaghi: „Jüdinnen und Juden wurden von der Gestapo ohnehin wegen Nichtigkeiten verhaftet. Und in den meisten Fällen waren es Denunziationen aus der Bevölkerung, die dazu führten, dass jüdische Menschen deportiert wurden.“

Vereinzelt gab es neben den bezahlten Spionen, die politische Widerstandsgruppen unterwanderten, aber auch jüdische Spione, die untergetauchte Juden aufspüren sollten. Diese bekamen kein Geld, die Gestapo machten ihnen aber Hoffnungen, sie zu verschonen und ihre Familien vor der Ermordung zu schützen. Tatsächlich schützte die Gestapo die jüdischen Informanten aber nur, solange sie nützlich waren. Letztendlich wurde ein Großteil von ihnen deportiert und ermordet, so Carnaghi. So hat auch Stella Goldschlag, deren Geschichte in Deutschland aktuell für hitzige Debatten sorgt, unter Zwang und mit der Hoffnung, ihre Eltern zu retten, ihre Arbeit als sogenannte Greiferin für die Gestapo in Berlin aufgenommen und andere Juden ausgeliefert. Goldschlags Eltern wurden trotzdem in Auschwitz ermordet.

„Es gab nach dem ‚Anschluss‘ viele Menschen, die bereit waren, ihre Mitmenschen zu denunzieren. Aber nur über Denunzianten zu sprechen, verkennt dieses proaktive Vorgehen der Nazis bei der Verfolgung von politischen Gegnern“ betont Benedetta Carnaghi. „Es ist wichtig, auch über diese Spione zu sprechen, denn diese waren ein gezieltes Werkzeug der Nazis, um den organisierten Widerstand auszuschalten.“
Publiziert am 15.02.2019
Julia Geistberger, science.ORF.at

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Buchhinweis
Mehr zur Wiener Gestapo und ihren Spitzeln erfahren Sie in diesem Buch von Elisabeth Boeckl-Klamper, Thomas Mang und Wolfgang Neugebauer: Gestapo-Leitstelle Wien 1938–1945, Edition Steinbauer.
Mit Spitzeln gegen den Widerstand - science.ORF.at
 
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