Studie über Kreisleiter, SA-Legionäre und SS-Angehörige aus NÖ. aus der Zeit der "Illegalität" vor 1938 bis zu Verurteilungen nach 1945

josef

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Die „Illegalen“ von Niederösterreich
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Eine aktuelle Studie untersucht die Geschichte des Nationalsozialismus vor 1938 in Niederösterreich. In 58 Biografien wird klar, dass sich die Täter schon lange vor dem „Anschluss“ in Stellung gebracht hatten. Im „Dritten Reich“ waren sie dann oft besonders einflussreich und verübten grausame Verbrechen.

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Der Zeithistoriker Hans Schafranek hat eine ausführliche Studie über drei Tätergruppen gemacht: die Kreisleiter, führende SA-Legionäre und SS-Angehörige aus Niederösterreich. Im Interview erklärt er, wie sie sich vor und nach 1938 verhalten haben und wie milde ihre Verbrechen von der Nachkriegsgesellschaft bestraft wurden.

Ist diese Studie zu Niederösterreich die erste, die sich ausführlich mit dem Nationalsozialismus vor 1938 beschäftigt?
Hans Schafranek: Es gab für die Organisations- und politische Geschichte in der sogenannten „Kampfzeit“ – das war die Zeit vom Verbot der NSDAP im Juni 1933 bis zum „Anschluss“ 1938 – zu Niederösterreich nur Lokalstudien. Die Geschichte des Nationalsozialismus vor 1938 ist interessanterweise in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich aufgearbeitet. Kärnten und die Steiermark führen die Publikationen an, kein Wunder, kommen doch von hier auch die politischen Schwergewichte, die bekanntesten Massenmörder der SS. Niederösterreich und das Burgenland bildeten bis jetzt die Schlusslichter der Forschung.​

Sie haben drei Tätergruppen ausgewählt: die Kreisleiter, die SS-ler und SA-Führer aus Niederösterreich, die in der Österreichischen Legion waren. Bei den Kreisleitern haben Sie die interessantesten Befunde gemacht. Bei 22 Biografien von Kreisleitern stellten sie fest, dass sie über eine ungewöhnlich starke Hausmacht verfügten. Wie kam die zustande?
Schafranek: Ich vermute, dass das nicht nur bei den Niederösterreichern so war, aber nachdem es zu den Kreisleitern bisher überhaupt keine Forschungen gibt, habe ich das anhand der Niederösterreicher feststellen können: 16 der 22 untersuchten Täter hatten bereits vor 1938 in ihren Kreisen oder Bezirken schon Funktionen in der NSDAP oder waren schon politisch tätig. Mindestens sieben hatten schon vor dem „Anschluss“ dieselbe Funktion – entweder als illegale Bezirksleiter oder Kreisleiter der NSDAP.​
Otto Bokisch u. Gustav A. Zirbs,
Der österreichische Legionär (Leipzig 1940)Tag der Legion in Wien, Heldenplatz, 2. April 1938

Was kann man daraus ablesen?
Schafranek: Daraus lässt sich eine sehr starke Verankerung in der NS-orientierten Bevölkerung feststellen, eine organisatorische und personelle Kontinuität, der Aufbau und Ausbau einer starken personenbezogenen Hausmacht, und das war sicher auch so gewünscht im mittleren Parteiapparat; im Gegensatz zu den höchsten Spitzen, nämlich zu den Gauleitern, von denen es sieben gab. Das Burgenland wurde ja aufgeteilt zwischen Niederdonau und der Steiermark, und Tirol und Vorarlberg waren ein Gau. Von diesen sieben behielt nur Franz Hofer seinen „Heimatgau“, nämlich Tirol.​
Welche Rolle hatten die Kreisleiter für das Funktionieren des Systems?
Schafranek: Die Kreisleiter waren ein ganz wichtiges Mittel der Sozialkontrolle. Sie haben die NSDAP-Ortsgruppenleiter ernannt. Sie waren auch über die Situation in jedem Ort informiert, denn diese Kreise haben zwischen 25 und 50 Ortsgruppen umfasst, und dadurch waren sie das letzte Bindeglied zu den Parteigenossen. Die Gauleiter haben diese direkte Verbindung nicht mehr gehabt. Wenn ein Ortsgruppenleiter einen „Volksgenossen“ denunzierte, dann hat sich oft der Kreisleiter eingemischt – er kannte den vielleicht sogar persönlich, wenn die Kreisleitung im selben Ort war, in Horn, Lilienfeld, Gmünd, Zwettl, wo auch immer.​
Es war bis dato relativ unbekannt, wie viele Verbrechen die Kreisleiter verübt haben. Sie bekamen in den letzten Kriegsmonaten durch einen Erlass des Gauleiters Hugo Jury die oberste Gerichtsbarkeit, das heißt die Kreisleiter sind in ihrem Herrschaftsbereich Herren über Leben und Tod gewesen?
Schafranek: Sie waren befugt, Standgerichte einzurichten mit einem Staatsanwalt und zwei Beisitzern. Da gabs dann reihenweise Fälle, wo kein Staatsanwalt dabei war. Das Todesurteil wurde auf Befehl des Kreisleiters vollstreckt, der sich zum Richter aufschwang, obwohl nicht einmal die elementarsten formalen Voraussetzungen des pseudolegalistischen Procedere beachtet wurden. Der „Fall Braun“ aus Neunkirchen ist am besten dokumentiert, der Prozessakt füllt fünf dicke Bände mit rund 4.000 Seiten. Kreisleiter Johann Braun und seine zwei Mordgesellen wurden im Mai 1947 zum Tod verurteilt und ein Jahr später hingerichtet, das war der größte und folgenschwerste Prozess gegen Kreisleiter.​
Otto Bokisch u. Gustav A. Zirbs,
Der österreichische Legionär (Leipzig 1940)Einmarsch der Österreichischen Legion, Durchfahrt Amstetten, 30. März 1938

Ein besonders erschreckendes Beispiel aus ihrem Buch: Ludwig Uhl, Altnazi, schon 1922 der SA beigetreten, ab 1932 stellvertretener Gauleiter, Leiter des Kreises Lilienfeld. Er ließ auf Eigeninitiative sechs behinderte Menschen ermorden. Wie bereit war die Nachkriegsgesellschaft, derartige Verbrechen aufzuarbeiten?
Schafranek: Ludwig Uhl ist 1949 zu 20 Jahren Haft verurteilt worden und wurde schon – das kann man sich kaum vorstellen – 1951 entlassen, nach nicht einmal drei Jahren. Es gab aber noch drastischere Fälle, wo zum Beispiel ein Kreisleiter zu zehn Jahren verurteilt und nach einem Jahr entlassen worden ist, durch Begnadigung durch den Bundespräsidenten. Zehn Jahre Kerker waren die Mindeststrafe für einen Kreisleiter, unabhängig davon, ob er (zusätzlich) individuelle Straftaten beging. In einem Fall wurde der Betreffende lediglich nach dem Verbotsgesetz wegen illegaler Betätigung für die NSDAP zu einem Jahr verurteilt, obwohl seine Funktion als Kreisleiter eindeutig erwiesen war. Aber noch gravierender erscheint mir, welche Geisteshaltung manchen Anklagen und Urteilen zugrunde lag. So wurde etwa Uhl besonders zur Last gelegt, dass diese sechs alten Menschen wohl schwach und unbeholfen, aber durchaus imstande waren, sich selbständig im Ort zu bewegen, ohne fremde Hilfe Dokumente zu unterzeichnen usw. Mit anderen Worten: Hätten sie die letzten Wochen ihres Lebens als Bettlägerige dahingedöst, wäre dies aus Sicht der Anklagevertretung ein Milderungsgrund gewesen.​
Sie haben viele Jahre zum Thema der Österreichischen Legion gearbeitet- einer paramilitärischen Truppe, die 1933 entstanden ist, als Tausende SA-Angehörige nach Deutschland geflüchtet sind. Sie konnten – zusammen mit Andrea Hurton – die biographischen Eckdaten von rund 15.000 Mitgliedern dokumentieren. Sind Sie auf viele Niederösterreicher gestoßen?
Schafranek: Als Grundlage für meine Berechnungen habe ich die vor der Ausreise in Niederösterreich lebenden nachmaligen Legionäre angenommen und bin auf eine Zahl von 1.608 gekommen. Sie sind 1933-34 von Österreich ins Deutsche Reich geflüchtet. Die stärkste Gruppe in Niederösterreich waren Handwerksgesellen mit 26 Prozent, an zweiter Stelle Hilfsarbeiter. Das Durchschnittsalter war 25 Jahre – die waren jung, ungebunden, mobil, von jeder Tätergruppe, die bisher erforscht wurde, waren die Legionäre sicher die jüngsten. Bekannt ist, dass sich die Legionäre vor allem in Melk und in Krems konzentrierten, wo auch der Sitz der Gauleitung war. Krems war eine NS-Hochburg in Niederösterreich.​

Wie sehr haben die Legionäre den Parteiapparat geprägt? Wurden sie für ihre frühen „Verdienste“ mit lukrativen bzw. einflussreichen Posten belohnt?
Schafranek: Die waren politisch zu spät dran. Als die Legion zwischen 31. März und 2. April 1938 zurückgekehrt ist nach Österreich, waren schon alle wichtigen Posten und Pfründe vergeben. Die Legionäre sind mit Ausnahme von Salzburg, was ein Sonderfall ist, mehr oder weniger leer ausgegangen. Sie hatten allerdings einen Verbündeten in der sogenannten NS-Wiedergutmachungsstelle, einen SA-Standartenführer namens Köfler. Und der hat es geschafft, für die Legionäre begünstigte Modalitäten herauszuschlagen, wenn es um „Arisierungen“ ging. Von 18 führenden Legionären, die ich biografisch bearbeitet habe, sind mindestens sieben in Arisierungsfälle involviert gewesen. Das war ein Ersatz für die politische Erfolglosigkeit und gleichzeitig ein Versuch, die pseudo-sozialrevolutionären Energien der SA-underdogs einzudämmen und zu kanalisieren.​
Meiner Kollegin Andrea Hurton ist aufgefallen, dass alle branchenfremd waren: Die haben Betriebe übernommen, von denen sie nicht die geringste Ahnung hatten. In anderen Bereichen waren zum Beispiel „arische Prokuristen“ in jüdischen Unternehmen, die ihre früheren Arbeitgeber beraubt haben, aber zumindest von dem Geschäft eine Ahnung hatten. Aber wenn ein Hilfsarbeiter, der keinen Pfennig hat, als Legionär einen Betrieb übernimmt, den er zuvor noch nie betreten hatte, dann braucht man das nicht weiter kommentieren.​

Bundesarchiv Berlin
SS-Intensivtäter Siegfried Seidl

Die dritte Tätergruppe sind die SS-Männer, die Sie als „Intensivtäter“ beschreiben. Der gebürtige Tullner Siegfried Seidl zum Beispiel hat in Berlin Karriere gemacht …
Schafranek: Er war der erste Kommandant von Theresienstadt und hat diese Funktion von Ende 1941 bis Juli 1943 bekleidet. Zu der Zeit sind über 120.000 Menschen nach Theresienstadt deportiert worden, 25.000 sind dort gestorben. Seidl hat auch persönlich die Transporte in die Vernichtungslager ab Sommer 1942 kontrolliert und überwacht, vor allem nach Auschwitz. Im Ghetto hat er nach der Darstellung eines tschechischen Historikers gelebt wie eine Made im Speck. Seidl hatte ein Rennpferd, ein privates Cabriolet, einen Mercedes als Dienstwagen und alle Vergünstigungen, die man sich nur vorstellen kann.​
Werden Sie weiter die Geschichte des Nationalsozialismus in den Regionen erforschen?
Schafranek: Ich sehe das eher als Anregung an die Adresse der scientific community, sich mit dem mittleren Führungsapparat der NSDAP in Österreich zu befassen. Ich habe mir exemplarisch Niederösterreich bzw. „Niederdonau“ ausgesucht. Es wäre sicher aber sicher auch sehr interessant, das für alle anderen Bundesländer bzw. „Gaue“ zu machen.​
Interview: Ulrike Schmitzer, Ö1-Wissenschaft

Literatur:
Hans Schafranek: Wer waren die niederösterreichischen Nationalsozialisten? Biografische Studien zu NSDAP-Kreisleitern, SA und SS. Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich Band 42. Herausgegeben vom Verein für Landeskunde von Niederösterreich.
Das Forschungsprojekt wurde gefördert vom Amt der NÖ Landesregierung, St. Pölten, Abteilung Wissenschaft und Forschung, und vom NÖ Landesarchiv.

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