Türkei/Syrien: Eines der weltweit stärksten Erdbeben am 06.02.2023 im türkisch-syrischen Grenzgebiet und die Angst vor zukünftigen Beben in Istanbul

josef

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#1
SEISMOLOGIE
Wie Fachleute das schwere Erdbeben in der Türkei einschätzen
Das Beben mit einer Magnitude von 7,8 war eines der weltweit stärksten der letzten Jahre und erinnert an jenes aus dem Jahr 1822
Die Türkei gehört zu den Ländern, die am häufigsten von Erdbeben heimgesucht werden. Allein im 20. Jahrhundert ereigneten sich dort 111 Erdbeben mit einer Stärke von 5,0 oder höher. In den letzten fünf Jahrzehnten fanden in vier Jahren (2020, 1999, 1983 und 1975) die weltweit tödlichsten Beben in der Türkei statt. Die Weltbank schätzt die durchschnittlichen jährlichen wirtschaftlichen Kosten von Erdbeben in der Türkei auf 100 Millionen US-Dollar.

Der Grund für die beständige Erdbebengefahr liegt darin, dass in der Region zwei der größten Kontinentalplatten aneinanderstoßen, nämlich die afrikanische und die eurasische, während die Türkei selbst zum großen Teil auf der anatolischen Platte liegt. An deren nördlichem Rand – der 1.500 Kilometer langen nordanatolischen Verwerfung – traten die meisten der jüngeren Beben auf, wie der Seismologe Götz Bokelmann (Uni Wien) erklärt: "Dort wird auch ein Megabeben befürchtet, von dem dann auch der Großraum Istanbul betroffen sein könnte."

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Die aktuellen schweren Beben am Montag ereigneten sich aber an der ostanatolischen Verwerfung, wo anatolische und arabische Platte aneinanderstoßen und wo es seit der Antike immer wieder zu besonders schweren Erdbeben kommt.

Vergleiche mit dem Jahr 1822
"Das Erdbeben entstand am südwestlichen Ende der ostanatolischen Verwerfung, in der Nähe der Kreuzung mit der verlaufenden Totes-Meer-Verwerfung, in einer Tiefe von etwa 18 Kilometern und breitete sich nach Nordosten aus", sagt Roger Musson vom British Geological Survey.


Der genaue Ort des Bebens von Montagfrüh.
Helmholtz Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ)

Das aktuelle Beben sei vergleichbar mit jenem von 1822, das viele Städte vollständig zerstörte und viele Opfer forderte. "Allein in Aleppo sollen damals etwa 7.000 Menschen getötet worden sein. Die Nachbeben des Ereignisses von Montagfrüh dauern an. Auch das Erdbeben von 1822 hatte viele Nachbeben, die bis in den Juni des folgenden Jahres andauerten."
Das Erdbeben von Montagfrüh hatte laut den Angaben des deutschen Geoforschungszentrums (GFZ) in Potsdam und des US-amerikanischen Geological Survey (USGS) eine Magnitude von 7,7 oder 7,8, das Nachbeben kurz vor Mittag eine von 7,5 oder 7,6. Da die Magnitude ein logarithmisches Maß für die am Erdbebenherd freigesetzte Schwingungsenergie darstellt, werden die Unterschiede nach oben exponentiell größer.

Konkret bedeutet das am Beispiel des türkischen Bebens, dass es "etwa 250-mal so viel Energie freisetzte wie das Erdbeben der Stärke 6,2 am 24. August 2016 in Amatrice (Mittelitalien), bei dem 300 Menschen starben", erklärt Joanna Faure Walker (University College London): "Die höhere Magnitude und die freigesetzte Energie haben zur Folge, dass ein viel größeres Gebiet betroffen ist." Die Bruchlänge wird auf 300 Kilometer geschätzt. Hier hat sich mit den beiden Beben die Spannung mit verheerenden Folgen abgebaut.

Bausubstanz als wichtiger Faktor
Die Zahl der Todesopfer hängt nicht nur von der Stärke des Bebens ab, sondern vor allem von der Zahl der Menschen, die in dem betroffenen Gebiet leben, sowie von der Qualität und der Bauweise der Gebäude, wie Seismologe Bokelmann betont. Gerade bei der Bauqualität gebe es in der Türkei und in der betroffenen Region an der Grenze zum Irak große Probleme.

Zwar verabschiedete die türkische Regierung aufgrund der verheerenden Folgen des Izmir-Erdbebens von 1999 fünf Jahre später ein neues Gesetz, das vorschreibt, dass alle Gebäude modernen, erdbebensicheren Standards entsprechen müssen. "Es ist aber zu bezweifeln, dass diese Vorschriften eingehalten worden sind."

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Kaum Vorhersagemöglichkeiten
Warum erdbebensichere Infrastruktur so wichtig ist, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Erdbeben nach wie vor nicht genau vorhergesagt werden können. In seltenen Fällen sind Vorbeben ein Warnsignal. Aber selbst nach solchen Vorzeichen sei es natürlich problematisch, konkrete Evakuierungsmaßnahmen einzuleiten, so Bokelmann, da meist unklar sei, ob danach wirklich ein Starkbeben erfolgt.

Dass der Twitter-Nutzer Frank Hoogerbeets, Mitarbeiter des niederländischen Forschungsinstituts Solar System Geometry Survey (SSGEOS), das Ereignis mit erstaunlicher Genauigkeit voraussah, halten Fachleute für einen Zufall. Am Freitag twitterte er:

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Hoogerbeets gab aber keinen Zeitpunkt für das Beben an. Da es in der Region bereits mehrere Beben mit mit einer Stärke von 6,0 oder höher gab, konnte man damit rechnen, dass es dort erneut zu einem starken Erdbeben kommen würde, heißt es aus Fachkreisen.
(tasch, 7.2.2023)

Mehr Informationen über dieses und andere Erdbeben:
Laufende Registrierung aller Beben weltweit durch das GFZ in Potsdam
Seismologische Informationen des USGS zum Beben in der Türkei
Wie Fachleute das schwere Erdbeben in der Türkei einschätzen
 

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#2
FAST ZWEI MINUTEN
Erde bebte ungewöhnlich lang
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Die immensen Zerstörungen im türkisch-syrischen Bebengebiet sind auch auf die ungewöhnlich lange Dauer der ersten Erschütterungen am Montag zurückzuführen. Nach Angaben der türkischen Katastrophenschutzbehörde dauerten diese insgesamt fast zwei Minuten. Auch die Missachtung von Bauvorschriften trug das Ihre zur Katastrophe bei.
Online seit heute, 7.46 Uhr (Update: 9.19 Uhr)
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Montagfrüh hatte ein Beben der Stärke 7,7 das Grenzgebiet erschüttert, gefolgt von einem weiteren Beben der Stärke 7,6 zu Mittag. Das erste der beiden Beben am Montag habe etwa 65 Sekunden gedauert, das zweite 45 Sekunden, sagte der Chef der Abteilung für Erdbeben und Risikoverminderung in der Katastrophenschutzbehörde AFAD, Orhan Tatar, am Samstag laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu.

Zahl der Toten steigt rasant
Seither gab es bis Samstag mehr als 2.000 Nachbeben in der Region, wie die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD mitteilte. Das betroffene Gebiet erstreckt sich über ein etwa 450 Kilometer breites Gebiet. Über 28.000 Todesopfer wurden bisher gezählt. Der türkische Vizepräsident Fuat Oktay sprach in der Nacht auf Sonntag von 24.617 Toten. Aus Syrien wurden zuletzt 3.574 gemeldet. Knapp 80.300 Verletzte wurden bisher registriert.

UNO: Zahl der Toten könnte auf mehr als 50.000 steigen
Schätzungen der UNO zufolge wird die Zahl der Toten möglicherweise noch auf mehr als 50.000 ansteigen. UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte am Samstag bei einem Besuch im Erdbebengebiet in der Türkei im Sender Sky News, eine genaue Schätzung sei nach wie vor schwierig, die Opferzahl werde sich aber sicherlich noch „verdoppeln oder mehr“.

AP/Hussein Malla
Die Zerstörungen sind auch auf die Dauer der ersten beiden Beben zurückzuführen

„Schlimmstes Ereignis seit 100 Jahren“
Etwa 24,4 Millionen Menschen sind der Türkei zufolge von den Erdbeben betroffen. Über eine Million Menschen hätten kein Dach mehr über dem Kopf und seien in Notunterkünften untergebracht, sagte der türkische Vizepräsident Fuat Oktay. Hunderttausende Gebäude seien nicht mehr bewohnbar, hatte zuvor Präsident Recep Tayyip Erdogan gesagt.
Trotz schwindender Hoffnungen gelingt es den Rettungskräften aber auch fünf Tage nach der Katastrophe immer wieder, Menschen lebend aus den Trümmern zu retten. 122 Stunden nach den Erdbeben wurden in der Türkei zwei Frauen gerettet. Vorarlberger Rettungskräften gelang es zudem, ein 15-jähriges Mädchen aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses lebend zu befreien – mehr dazu in vorarlberg.ORF.at.

Fünf Monate altes Baby nach 134 Stunden gerettet
Auch wurde in Antakya ein fünf Monate altes Baby nach 134 Stunden lebend aus den Trümmern geholt, wie der staatliche türkische Fernsehsender TRT in der Nacht auf Sonntag berichtete. Auf TV-Bildern war zu sehen, wie ein Helfer kopfüber in ein metertiefes Loch hinabgelassen wurde, um zu dem Säugling zu gelangen. Das sichtlich entkräftete Kind wurde nach seiner Befreiung an Rettungssanitäter übergeben.

Da Menschen nur in seltenen Fällen länger als drei Tage ohne Wasser überleben können und die Vermisstenzahlen noch immer sehr hoch sind, ist zu befürchten, dass die Opferzahlen noch drastisch steigen dürften. UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths bezeichnete am Samstag das verheerende Erdbeben als das „schlimmste Ereignis seit 100 Jahren in dieser Region“.

Festnahmen nach Gebäudeeinstürzen
Dass die Beben so zerstörerisch waren, ist offenbar nicht nur auf ihre ungewöhnlich lange Dauer zurückzuführen. Am Samstag wurden im Süden der Türkei mindestens 14 Menschen wegen mutmaßlicher Fahrlässigkeit festgenommen. Ein Haftbefehl sei auch gegen 33 Menschen in der Stadt Diyarbakir ergangen, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Strafverfolger.

AP/Kamran Jebreili
Die Sicherheitslage im Katastrophengebiet wird zunehmend angespannter

Sie sollen für etwaige Bauschäden wie das Entfernen von Betonsäulen verantwortlich sein, die den Einsturz der Gebäude begünstigten. Einer der Verdächtigen wurde den Angaben zufolge am Flughafen in Istanbul gefasst. Er soll versucht haben, mit Bargeld nach Montenegro zu fliehen. Neun weitere Verdächtige wurden in den Städten Sanliurfa und Osmaniye verhaftet.

Bauvorschriften oft ignoriert
Nach dem großen Erdbeben von 1999 in der Türkei mit knapp 18.000 Toten hatte die Regierung die Baugesetze zwar verschärft, doch die Behörden hätten versäumt, alte Häuser erdbebensicher zu sanieren, kritisierte unlängst Nusret Suna von der Bauingenieurskammer. Und selbst Gebäude, die nach 1999 gebaut wurden, seien trotz entsprechender Regularien oft nicht sicher. Architekten, Bauunternehmen und andere Verantwortliche ignorierten häufig „ethische Prinzipien und moralische Werte“ und agierten von Profitgier getrieben.

AP/Hussein Malla
Viele Häuser stürzten ein, weil die Bauvorschriften missachtet wurden

Oya Özarslan von der Organisation Transparency International in der Türkei, die sich mit Korruption beschäftigt, schilderte ähnliche Probleme. Und der ehemalige Vorsitzende der Bauingenieurskammer, Cemal Gökce, erzählte von der gängigen Praxis: „Ein Grundproblem in der Türkei ist, dass auf vorschriftsmäßig gebaute Gebäude illegale Stockwerke gesetzt werden, ohne auf Vorschriften zu achten.“ Diese Probleme seien aber nicht erst unter der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan aufgetreten, so Gökce.

Mehr als 8.000 Helfer aus 68 Ländern in der Türkei
Insgesamt seien derzeit 8.513 Helfer in den betroffenen Gebieten im Einsatz, teilte das Außenministerium in Ankara am Samstag auf Twitter mit. Einsatzkräfte aus 68 Ländern – darunter auch Österreich – seien im Land. Insgesamt 99 verschiedene Länder hätten Unterstützung angeboten, hieß es. Nach Angaben des Ministeriums werden noch Hilfsteams aus 15 Ländern mit insgesamt 1.657 Helfern erwartet.

Seit Montag mangelt es vielerorts weiter an Lebensmitteln, Trinkwasser und funktionierenden Toiletten. Erdogan sagte, dass in einigen Teilen des Landes der Ausnahmezustand verhängt worden sei. Menschen, die Märkte plünderten oder Geschäfte angriffen, sollten so leichter bestraft werden. Allerdings stieg in der Bevölkerung auch Wut und Verzweiflung über die zu langsam angelaufenen Hilfsaktionen der offiziellen Behörden. Es soll zu Tumulten gekommen sein.

Deswegen mussten mehrere Rettungskräfte ihren Einsatz zeitweise unterbrechen – darunter auch das österreichische Bundesheer. „Es gibt zunehmend Aggressionen zwischen Gruppierungen in der Türkei. Es sollen Schüsse gefallen sein“, sagte Oberstleutnant Pierre Kugelweis der APA. „Momentan hat die türkische Armee den Schutz unseres Kontingents übernommen“, sagte Marcel Taschwer, Sprecher des Verteidigungsministeriums. Auch Deutschland und Ungarn pausierten ihre Einsätze.

Situation in Syrien unklar
Noch sei unklar, ob die Hilfe für Syrien sowohl die von der Regierung als auch die von ihren Gegnern gehaltenen Gebiete erreiche. In der syrischen Stadt Aleppo fanden die Suchteams zuletzt nach Informationen der dpa keine Überlebenden mehr. Aus dem Gebiet dringen nach wie vor nur spärlich Informationen. Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) muss die Hilfe für Syrien deutlich ausgeweitet werden.

APA/AFP/Karim Sahib
Informationen über die Hilfsaktionen in Syrien sind spärlich

Das Welternährungsprogramm der UNO hatte zuvor gewarnt, dass seine Lagerbestände im Nordwesten Syriens zur Neige gingen. 90 Prozent der Bevölkerung sind dort auf humanitäre Unterstützung angewiesen. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen will auch die Hilfsorganisation Jugend Eine Welt ihre Aktivitäten im Krisengebiet verstärken.
12.02.2023, red, ORF.at/Agenturen

Links:
Fast zwei Minuten: Erde bebte ungewöhnlich lang
 

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#5
ERDBEBENOPFER
Warum man auch Tage nach einem Erdbeben noch Überlebende finden kann
Zwei junge Männer wurden 261 Stunden nach dem Erdbeben in der Türkei lebend geborgen. Solche Erfolge gibt es immer wieder. Dass manche so lange überleben, hängt von vielen Faktoren ab

Je länger eine Katastrophe zurückliegt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man noch Überlebende findet. Das kann aber gelingen, etwa wenn Menschen in Hohlräumen eingeschlossen sind und genügend Sauerstoff und auch Flüssigkeit verfügbar sind.
Foto: IMAGO/Sipa USA

72 Stunden – das ist die Zeitspanne nach einer Katastrophe wie dem Erdbeben in der Türkei, in der die Überlebenschancen relativ hoch sind. Bergungen von Überlebenden, die erst (wesentlich) später erfolgen, werden von den Medien dann oft als Wunder tituliert. So weit würde David Wran-Schumer von der Abteilung für Katastrophenschutz beim Roten Kreuz nicht gehen: "Es werden bei quasi allen Erdbeben auch nach dieser Frist von 72 Stunden noch Überlebende geborgen. Aber die Wahrscheinlichkeit nimmt dann immer rascher ab."

Generelle Aussagen darüber, ob es noch Überlebende geben kann oder warum jemand überlebt, kann man nicht treffen, zu viele unterschiedliche Faktoren spielen da zusammen. Zuallererst hängt es sehr stark von der physischen Verfasstheit der verschütteten Personen ab und davon, wie sie eingeschlossen sind. Wran-Schumer erklärt: "In den Trümmern gibt es oft Hohlräume, Verschüttete müssen nicht zwangsläufig eingequetscht sein. Die Sauerstoffversorgung muss auch gewährleistet sein. Gibt es dann noch Zugang zu Wasser und womöglich Nahrung, steigen die Chancen." Auch Kälte kann ein Faktor sein. Normalerweise ist diese ein Problem, doch es kann vorkommen, dass sich der Stoffwechsel dadurch in einer Weise verlangsamt, dass ein längeres Überleben möglich ist.

Richtige Versorgung
Wie hoch die Überlebenschancen nach so einer späten Bergung sind, hängt wiederum von vielen unterschiedlichen Faktoren ab. Liegen außer der körperlichen Schwächung keine oder nur sehr leichte Verletzungen vor, ist die Prognose eine gute. Bei schwereren Verletzungen, vor allem, wenn Körperteile eingeklemmt waren, können in Folge der Bergung sekundäre Probleme auftreten, weiß Wran-Schumer: "Wenn große Muskelgruppen länger eingeklemmt sind, entstehen durch den Muskelzerfall, der dadurch passiert, giftige Zerfallsprodukte, die zu Nierenversagen oder Leberschädigung führen können."

Dieses Crush-Syndrom, wie der Fachausdruck lautet, tritt in der Regel erst nach der Dekompression aus, also wenn die Gliedmaßen befreit wurde. Theoretisch kann man das deshalb mit einer Amputation verhindern. Aber auch hier ist die medizinische Entscheidung individuell und hängt etwa davon ab, wie stark die eingeschlossene Extremität bereits beschädigt ist.

Ein Generalisieren ist also schwierig bis unmöglich, sagt Wran-Schumer. Und je länger es bis zur Bergung dauert, desto wichtiger ist ein medizinisches Assessment über die beste Vorgangsweise schon vor der Bergung. "Man kann weder positiv noch negativ pauschale Aussagen treffen, der menschliche Körper ist da für einige Überraschungen gut. Und es ist tatsächlich immer wieder ein Wunder, was Menschen in so einer Extremsituation aushalten."

Österreichische Expertise
Damit im Ernstfall überhaupt schnelle Hilfe organisiert werden kann, existiert der internationale virtuelle Kontrollraum für Naturkatastrophen "Aristotle". Maßgeblich am Aufbau dieses Krisensystems beteiligt war Geosphere Austria – ehemals Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik. Im Zentrum des Dienstes stehen Ereignisse wie Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis, Überschwemmungen und Extremwetter.

Das Europäische Krisenkoordinationszentrum erhält im Katastrophenfall durch Aristotle eine Einschätzung der Lage und möglicher Entwicklungsszenarien. Diese Informationen erleichtern es abzuschätzen, in welchem Ausmaß internationale Hilfskräfte mobilisiert werden müssen. Fachlich fundierte Beurteilungen gibt es etwa in der Frage, mit welchem Schweregrad an Schäden zu rechnen ist. Im Rahmen des europäischen Zivilschutzmechanismus wird dann die entsprechende Katastrophenhilfe mit den beteiligten Nationen koordiniert.

Das war auch bei dem verheerenden Beben in der Türkei und in Syrien der Fall. "Wir haben innerhalb von drei Stunden einen Report geschickt, aber es war sofort klar, dass es sich um ein außergewöhnliches und besonders starkes Ereignis handelt", erklärt Gerhard Wotawa von Geosphere Austria, der das System federführend mitentwickelt hat.

In den vergangenen Jahren hat sich die Kooperation im europäischen Zivilschutzmechanismus intensiviert, zudem wurden große Investitionen in diesem Bereich getätigt. Zu den beteiligten Nationen zählen überdies auch Länder, die nicht in der Europäischen Union sind, etwa Großbritannien oder die Türkei selbst. Beide Staaten sind auch an Aristotle beteiligt. "Das System hat in diesem Fall gut funktioniert und dazu geführt, dass sehr rasch Hilfe im Gebiet angekommen ist", sagt Wotawa.
(kru, mare, 17.2.2023)
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#6
UN-SCHÄTZUNG
Erdbebenschäden in Türkei belaufen sich auf mehr als 94 Milliarden Euro
Am 16. März findet eine Uno-Geberkonferenz in Brüssel statt. Bisher sind zehn Prozent der für den dringendsten Bedarf benötigten Spenden eingegangen


Bei den Erdbeben Anfang Februar kamen mehr als 50.000 Menschen in der Türkei und in Syrien ums Leben.
Foto: IMAGO/ZUMA Wire

Ankara/Genf/Gaziantep – Die Schäden durch das jüngste schwere Erdbeben werden allein in der Türkei auf mehr als 100 Milliarden Dollar (rund 94 Milliarden Euro) geschätzt. Das sagte Louisa Vinton, Vertreterin des Uno-Entwicklungsprogramms (UNDP) in der Türkei, am Dienstag. An der Schätzung hätten unter anderem die Weltbank, UNDP und die EU mitgewirkt.

Das UNDP organisiert am 16. März in Brüssel eine Geberkonferenz. Wie viel Geld konkret benötigt wird, stand noch nicht fest. Bei dem Erdbeben Anfang Februar waren mehr als 50.000 Menschen in beiden Ländern ums Leben gekommen und Millionen obdachlos geworden, allein 46.000 starben in der Türkei. Auch in Nordsyrien sind die Schäden erheblich.

Asbest bereitet Sorgen
Die Vereinten Nationen hatten kurz nach dem Erdbeben um Spenden in Höhe von einer Milliarde Dollar für den dringendsten Bedarf in der Türkei gebeten. Davon seien bis Anfang dieser Woche erst knapp zehn Prozent eingegangen, sagte Vinton.

Sorge bereitet den Vereinten Nationen Asbest. "Wir sehen darin eine große Gefahr", sagte Vinton. Das UNDP bemühe sich, möglichst schnell Geld für Schutzkleidung für die Arbeiter zur Verfügung zu stellen, die die Schuttberge beseitigen.
(APA, red, 7.3.2023)

Erdbebenschäden in Türkei belaufen sich auf mehr als 94 Milliarden Euro
 

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#7
NATURKATASTROPHE
Erdbeben in der Türkei deutete sich acht Monate zuvor an
Das verheerende Beben an der Grenze zu Syrien forderte mehr als 50.000 Tote. Fachleute fordern bessere Erfassung von Beben, um Vorhersagen zu ermöglichen

Das Erdbeben im Februar ließ in Syrien (hier in der Stadt Dschindires)und der Türkei zahlreiche Häuser einstürzen.
IMAGO/NurPhoto/Hristo Vladev

Das Beben in der Türkei nahe der syrischen Grenze im Februar 2023 zählt zu den fünf verheerendsten Erdbeben der vergangenen Jahre: Etwa 60.000 Menschen verstarben in der Türkei, mindestens 8.000 in Syrien. Mehr als 125.000 Personen wurden bei dem Beben am 6. Februar mit einer Stärke von 7,8 sowie den Nachbeben verletzt, zahllose Häuser zerstört. Das Epizentrum lag in der Provinz Kahramanmaraş.


Das Erdbeben im Februar 2023 zählt zu jenen mit den bislang höchsten Opferzahlen.
USGS, Der Standard

Ein internationales Forschungsteam um Patricia Martínez-Garzón vom Deutschen Geoforschungszentrum Potsdam veröffentlichte nun im Fachblatt "Nature Communications" eine Analyse des Erdbebens. Daraus geht hervor, dass es in dieser Region bereits acht Monate vor dem Beben zu seismischen Aktivitäten kam, die sich beschleunigten und verstärkt Energie freisetzten. Dies kam innerhalb von 65 Kilometern um das Epizentrum vor. Vergleichbare seismische Ereignisse hatte es zuvor seit mindestens 2014 nicht mehr gegeben. Die Wochen vor dem Erdbeben hingegen waren dort relativ ruhig.

Erhöhtes Risiko
Die Zone ist bekannt für ein erhöhtes Bebenrisiko. Dort verläuft die Ostanatolische Verwerfung, die die Grenze zwischen der Anatolischen und der Arabischen Platte markiert. Das verheerende Beben Anfang Februar ging mit einem Riss einher, der an einer Nebenverwerfung auftrat. Dieser breitete sich anschließend auf die Ostanatolische Hauptverwerfung aus, wie das Forschungsteam feststellte.


Im Grenzbereich zwischen Türkei und Syrien treffen die Anatolische und die Arabische Platte aufeinander. Hier kann es vermehrt zu Erdbeben kommen.
Mikenorton (CC BY-SA 3.0)

Zu den bereits Monate zuvor aufgetretenen seismischen Ereignissen kam es sowohl an der Hauptverwerfung als auch an einer Nebenverwerfung, die den Fachleuten zufolge bisher zu wenig beachtet wurde. Eine umfassendere Erdbebenüberwachung und seismische Langzeitaufzeichnungen könnten unsere Möglichkeiten verbessern, Erdbebenvorbereitungsprozesse zu verstehen und sie von ungefährlichen, vorübergehenden Verformungen der Erde in dieser Region zu unterscheiden, schreiben die Geologinnen und Geologen.

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Die Grafik zeigt die Erdbeben mit den meisten Todesopfern seit 1999. Das stärkste Beben seit Beginn der Aufzeichnungen erreichte 1960 in Chile einen Wert von 9,5, dabei starben allerdings geschätzt maximal 6.000 Menschen.

Schwierige Vorhersage
Denn die Schwierigkeit bei Erdbebenwarnungen ist: Wann kann man sich einer nahenden Katastrophe sicher genug sein, um Millionen von Menschen zu evakuieren? Was geschähe bei einem falschen Alarm? Klar ist, dass bestehende Siedlungen in gefährdeten Gebieten nicht ohne weiteres für immer aufgegeben werden, doch in solchen Regionen wäre erdbebensicheres Bauen besonders dringend nötig. Das Fehlen oder Umgehen entsprechender Sicherheitsregeln und das korrupte Verwenden entsprechender Gelder für andere Zwecke wurde im Zuge der Katastrophe in der Türkei und in Syrien stark kritisiert.


In der Stadt Antakya erinnerte eine nichtstaatliche Organisation mit roten Luftballons an verschüttete Kinder.
IMAGO/Kyodo News

Obwohl es dringend notwendig ist, die Bevölkerung rechtzeitig zu warnen und wichtige Infrastruktur zu schützen, sei "eine kurzfristige Vorhersage von Erdbebenstärke, -zeit und -ort derzeit nicht möglich", heißt es in der Studie. Die Beobachtung und Analyse der Prozesse im Vorfeld eines Erdbebens als Indikatoren bleibe eine Herausforderung: Es gibt sehr viele Variablen, die ein mögliches Unglück beeinflussen.

Zukunft türkischer Beben
Um dies künftig sogar auf mittelfristige Sicht zu ermöglichen und Warnsysteme erheblich zu verbessern, müssen Expertinnen und Experten die Phasen besser kennen und interpretieren lernen, die einem Erdbeben vorausgehen. Die Autorinnen und Autoren der Studie fordern mehr lokale und regionale Erfassungsnetze, auch an den Nebenverwerfungen der Erdplatten. Im Idealfall lassen sich große Erdbeben so in Zukunft besser vorhersagen. Die Studie zeige, "dass es auf Basis geeigneter Messungen prinzipiell möglich ist, Orte kommender möglicher Erdbeben bereits Monate vor deren Eintreten zu identifizieren", sagt Studienautor Marco Bohnhoff vom Fachzentrum in Potsdam. "Das gibt den lokalen Behörden wichtige Informationen an die Hand, um die Resilienz von Bevölkerungszentren in der Nähe aktiver Verwerfungen zu verbessern."

Das ist besonders für die Türkei relevant: Dort gab es allein im 20. Jahrhundert 111 Erdbeben mit einer Stärke von mindestens 5,0. Die ökonomischen Kosten dürften pro Beben im Land etwa 100 Millionen US-Dollar betragen. Auch an der Nordanatolischen Verwerfung befürchten Fachleute in Zukunft ein starkes Erdbeben, das in der Metropole Istanbul eine Katastrophe auslösen könnte.
(sic, 29.11.2023)
Erdbeben in der Türkei deutete sich acht Monate zuvor an
 

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#8
ERSCHÜTTERUNGEN
Serie kleiner Erdbeben weckt in Istanbul böse Vorahnungen
In den nächsten 20 Jahren wird es in der Millionenstadt ein größeres Erdbeben geben – dessen sind sich Fachleute sicher. Kleinere Beben Montagfrüh lassen nun viele erneut bang auf die Sicherheit schauen
In der Nacht von Sonntag auf Montag hat es rund 60 Kilometer vor Istanbul ein Erdbeben der Stärke 5.1 gegeben. Das Zentrum lag an der Südküste des Marmarameers bei Yalova. Nach ersten Meldungen kam es weder zu Personen- noch zu Sachschäden. Allerdings war das Beben für etliche Bewohner Istanbuls und der Großstadt Bursa südlich des Marmarameeres deutlich spürbar. Alle kamen mit dem Schrecken davon. Doch dieser fährt nach der Bebenkatastrophe im Südosten der Türkei zum Anfang des Jahres in die Knochen – zumal ein großes Beben in der größten Stadt der Türkei laut Fachleuten nur eine Frage der Zeit ist.


Ein großes Sicherheitsprogramm soll die meisten Häuser in Istanbul auch im Fall eines größeren Bebens sichern. Dass das auch funktioniert, ist aber zweifelhaft.
APA/AFP/OZAN KOSE

In den sozialen Medien löste das Ereignis jedenfalls eine neuerliche Debatte über die Erdbebengefahr für Istanbul aus. Experten verwiesen auch dort darauf, dass die Erdbebengefahr für Istanbul wächst. Entsprechend stellen sich nun viele Leute die Frage, ob dieses schwache Beben ein Vorzeichen für eine größere Katastrophe sein könnte und wie gut die 16-Millionen-Metropole Istanbul auf ein Beben vorbereitet wäre.

Wildes Wachstum erhöht Gefahr
Alle Erdbebenforscher und Geologen sind sich einig, dass in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren ein größeres Erdbeben auf Istanbul zukommen wird. Die Bruchkante verläuft von Ost nach West quer durch das Marmarameer. Die Stärke des Bebens wird davon abhängen, in welcher Länge die Bruchkante bricht. Je größer die Ausdehnung, umso stärker werden die Erschütterungen ausfallen.

Das letzte große Beben am östlichen Rand des Marmarameeres ereignete sich 1999 und forderte mindestens 20.000 Tote. Welche Schäden ein neuerliches großes Beben hätte, hängt vor allem damit zusammen, wie weit die Häuser der Stadt für ein Beben vorbereitet sind. Da die Stadt in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts von drei auf zehn Millionen Bewohner mehr oder weniger "wild und ungeplant" gewachsen ist, gab es einen großen sehr prekären Baubestand, der sich allerdings in den letzten zwei Jahrzehnten stark verbessert hat. Seit 2012 läuft ein großes Bauprogramm, um erdbebengefährdete Häuser zu sanieren oder abzureißen und neu zu bauen.

Auf Sand gebaut
Dadurch hat sich der Bestand an erdbebensicheren Häusern stark erweitert. Es soll aber immer noch bis zu 150.000 Bauten geben, die als nicht erdbebensicher eingeschätzt werden. Gefährdet sind vor allem die Stadtgebiete, die direkt am Marmarameer liegen. Als Zweites kommt es darauf an, wie fest der Baugrund ist. Es sind seit dem Jahr 2000 Karten entstanden, die den Baugrund zeigen und damit auf die Gefahr aufmerksam machen. Das Problem mit der Gebäudesicherheit ist, dass der Staat zur Sanierung erdbebengefährdeter Häuser nur einen kleinen finanziellen Zuschuss geben kann, sodass vor allem in den ärmeren Gebieten Istanbuls die Sicherheit geringer ist.

Im Alltag der Menschen spielt sich die Gefahr vor allem im Unterbewussten ab: Zwar hat es wegen der Erdbebengefahr immer wieder einmal nach Beben in der Türkei eine kleine Abwanderungswelle aus Istanbul gegeben. Generell wird die Gefahr aber eher verdrängt. Die Behörden bereiten sich zwar mit Notfallplänen auf eine mögliche Katastrophe vor, allerdings wird es stark davon abhängen, wo und wie Istanbul getroffen wird, um noch eine gewisse Versorgung aufrechterhalten zu können. Zumindest der größte Teil der Krankenhäuser und Schulen soll nach offiziellen Angaben mittlerweile mehr oder weniger erdbebensicher sein.
(Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 4.12.2023)
Serie kleiner Erdbeben weckt in Istanbul böse Vorahnungen
 
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