Vor 100 Jahren, am 29. Dezember 1921, wurde die Trennung von Niederösterreich und Wien beschlossen

josef

Administrator
Mitarbeiter
#41
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als das Heer zurück nach Wr. Neustadt durfte - Teil 2
Warten auf Wiener Neustadt
Gleichzeitig wurde der Ausbildung neuer Offiziere großer Stellenwert eingeräumt. Immerhin waren sie nur noch auf den Staat Österreich vereidigt. Die ehemalige Schulungsstätte in Wiener Neustadt war allerdings zum Start des Bundesheers 1955/56 noch nicht bezugsbereit – auch zehn Jahre nach der Zerstörung waren die Schäden dort noch immer nicht behoben. Deshalb wich das Bundesheer vorübergehend ins oberösterreichische Enns bzw. in den Linzer Stadtteil Ebelsberg aus.

Fotostrecke mit 7 Bildern
Heeresbild- und Filmstelle
Nach dem Ende des Kriegs begannen die Arbeiten an dem zerstörten Gebäudekomplex
Heeresbild- und Filmstelle
Jahrelang prägten Gerüste das Bild der Burg
Heeresbild- und Filmstelle
In mühevoller Arbeit wurden die einzelnen Gebäudeteile renoviert
Heeresbild- und Filmstelle
Auch der Dachstuhl wurde komplett erneuert
Heeresbild- und Filmstelle
1958 schließlich war es soweit, das österreichische Bundesheer zog wieder in den Standort in Wiener Neustadt ein
Heeresbild- und Filmstelle
Von nun an wurde hier wieder die Offiziersausbildung durchgeführt
Heeresbild- und Filmstelle
Oberst Heck übernahm den Schlüssel zur Burg

Eine glorreiche Rückkehr
Am 1. Dezember 1958 zogen die Offiziersanwärter wieder in die Militärakademie ein. „Mit einem Güterschnelltransport sind wir nach Wiener Neustadt gekommen und um Mitternacht durch die Bahnhofsgasse laut singend gegen die hell erleuchtete, wiedererrichtete Babenbergerburg marschiert“, erinnert sich Adolf Radauer, General im Ruhestand, gegenüber noe.ORF.at. Es sei eine Szene gewesen, die er nie vergessen werde.
Beeindruckt waren die jungen Soldaten damals auch von den Zimmern, ergänzt Günther Greindl. Er war damals Radauers Kamerad, heute ist er ebenfalls General im Ruhestand. „In Ebelsberg hatten wir 40-Mann-Schlafsäle und hier hatten wir plötzlich Zimmer mit sechs Betten und eigener Dusche. Alles war sauber – das war ein einmaliger Qualitätssprung.“



Geprägt von Soldaten der Wehrmacht
Beim Treffen zum Jahrestag ihrer Ausmusterung erinnern sich die Angehörigen des ersten Jahrgangs in Wiener Neustadt großteils positiv an ihre Ausbildungszeit zurück. Es sei aber auch eine harte Schule gewesen, räumt Radauer ein: „Erzieherisch waren wir geprägt von Offizieren, die noch die Deutsche Wehrmacht erlebt haben. Da waren Befehl und Gehorsam, Strenge und Disziplin das Um und Auf.“

Nur auf der Ebene der Lehr- und Klassenoffiziere habe es Nachkriegspersonal gegeben, großteils aus der Zeit der B-Gendarmerie, erinnert sich auch Alfred Schenner, Generalleutnant in Ruhestand: „Alle Ebenen darüber waren ehemalige deutsche Offiziere. Die wollten natürlich ihren soldatischen Geist auch an uns weitergeben.“

ORF/Felix Novak
Pandemiebedingt fand das Jubiläumstreffen des ersten Jahrgangs in Wiener Neustadt erst im 61. Jahr nach der Ausmusterung statt

Er sei damals auch durchaus beeindruckt gewesen von hochdekorierten Weltkriegsveteranen der Wehrmacht. „Als Zugskommandanten hatten wir zuvor in der Garde einen kriegsgedienten Ritterkreuzträger, der uns immer wieder vom Krieg erzählt hat. Das war für mich ein Vorbild“, sagt der pensionierte Soldat.

Erziehung nur „im demokratischen Geist“
Schenners Kamerad Radauer relativiert. Man habe sehr wohl „den soldatischen Geist und die Einsatzfreude“ bewundert, politisch sei „von der Nazizeit oder Wehrmacht“ hingegen nie die Rede gewesen. „Ich habe nie festgestellt, dass uns diese Leute die Gesinnung dieser Zeit weitergeben wollten. Wir waren geprägt von der reinen Aufgabe eines Soldaten zur Verteidigung seiner Heimat.“

Man habe viel über Völkerrecht und die Grundlagen der Republik gelernt, betont auch Greindl: „Damals wurde das nach den österreichischen Vorschriften durchgeführt. Ich habe das schon von Anfang an so empfunden, dass wir im demokratischen Geist erzogen wurden.“

Freude über „eigene Soldaten“
Es habe eine Aufbruchsstimmung geherrscht, die auch im Bundesheer spürbar gewesen sei. „Wenn wir mit der Ehrenkompanie in Wien ausgerückt sind, haben die Leute applaudiert. Da war auf der Mariahilfer Straße ein Spalier“, erinnert sich Schenner. „Die haben sich gefreut, dass wieder eigene Soldaten da sind.“

Am 14. Dezember 1958 gab es auch in Wiener Neustadt Grund für Euphorie: Verteidigungsminister Ferdinand Graf (ÖVP) übergab Josef Heck, dem neuen Kommandanten der Einrichtung, die Schlüssel zur Burg – auf den Tag genau 207 Jahre nach der Gründung der Theresianischen Militärakademie.
14.05.2022, Felix Novak, noe.ORF.at
Als das Heer zurück nach Wr. Neustadt durfte
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#42
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als das Bahnnetz zum Stromnetz wurde
1652733171099.png

In den Aufschwungsjahren nach 1945 machten sich die ÖBB daran, die Bahninfrastruktur zu verbessern. Der wohl größte Kraftakt war die Elektrifizierung der Strecken, etwa auf der Südbahn. Damit wurde – reichlich langsam – das Ende der Dampfloks eingeläutet.
Online seit heute, 18.12 Uhr
Teilen
Es war ein ganz besonderer Tag, das halbe Dorf war am Bahnsteig versammelt. Mädchen und Buben schwenkten kleine rot-weiß-rote Fahnen, das örtliche Blasmusikorchester spielte, der Bürgermeister hielt eine etwas holprige Rede. Der Anlass der Feierlichkeiten rollte langsam in den Bahnhof ein – ohne Gestank und im Vergleich zu den alten Dampfloks fast schon leise: die Elektrolokomotive.

Auf der Lok, die Vertreter der Politik und andere Ehrengäste beförderte, prangte die österreichische Fahne, reichlich geschmückt mit bunten Blumen. Immerhin wurde es als Leistung der jungen Zweiten Republik gesehen: Der Ort war nun an das elektrifizierte Bahnnetz angeschlossen.
Diese und ähnliche Szenen spielten sich in den Nachkriegsjahren in Dutzenden, wenn nicht Hunderten Bahnhöfen in ganz Österreich ab. Die Bundesbahnen hatten sich zum Ziel gesetzt, ihre wichtigsten Strecken zu elektrifizieren. Ein großer Schritt hin zu einer modernen Infrastruktur mit leistungsfähigeren Lokomotiven, deutlich schnelleren Verbindungen und im Gegenzug einer verringerten Abhängigkeit von Kohleimporten.

Seit dem 19. Jahrhundert elektrisch unterwegs
Dabei waren elektrisch betriebene Züge an sich damals keine neue Erfindung – im Gegenteil. Erste Experimente damit hatte es weltweit bereits im 19. Jahrhundert gegeben, parallel zur weiteren Entwicklung der Dampflokomotiven. Auch in Österreich ging in den 1880ern erstmals eine elektrifizierte Strecke in Betrieb: die Lokalbahn Mödling-Hinterbrühl, eine Mischung aus Zug und Straßenbahn.

wikimedia commons/public domain
Die elektrische Lokalbahn Mödling-Hinterbrühl (hier 1925) war bis in die 1930er-Jahre in Betrieb

Es handelte sich dabei um die erste dauerhaft mit Oberleitung betriebene Bahn der Welt. Sie brachte viele Herrschaften in die für Sommerfrische beliebte Hinterbrühl. Die knapp 4,5 Kilometer lange Strecke entlang des Mödlingflusses wurde 1932 stillgelegt – mehr dazu in Mödling: Schulstadt im Grünen (noe.ORF.at; 13.4.2016).

Generell war der Süden der Hauptstadt Vorreiter in diesem Bereich, auch etwa durch die Badner Bahn im Jahr 1899, die einige Jahre später für Personen- und Gütertransporte nach Wien verlängert wurde oder auch die Pressburger Bahn, die ab 1914 Wien mit Bratislava verband.

ÖBB
Das Personal musste den Umgang mit Elektrizität erst lernen

„Das war ein ganz interessanter Betrieb“, erzählt ÖBB-Historiker Alfred Klein-Wisenberg. "Auf beiden Stadtstrecken, sowohl in Wien als auch in Bratislava, waren Straßenbahnfahrzeuge eingesetzt, im Bereich zwischen Schwechat und Engerau (slowakisch „Petržalka") gab es hingegen einen Vollbahnbetrieb mit 15.000-Volt-Elektrolokomotiven“, sagt Klein-Wisenberg. Betrieben wurde diese eigenwillige Konstruktion bis 1923 von den Niederösterreichischen Landesbahnen, erst danach übernahmen die ÖBB.

Zuerst die Bahn, dann die Gemeinden
Auch anderswo in Niederösterreich gab es rund um die Jahrhundertwende Experimente mit elektrisch betriebenen Bahnstrecken. Prominentestes Beispiel ist die Mariazellerbahn. Sie startete schon im Jahr 1907 mit dem elektrischen Betrieb.

Für deren Versorgung war für die damalige Zeit extrem viel Strom notwendig. Deshalb wurde in Wienerbruck (Bezirk Lilienfeld) ein eigenes Wasserkraftwerk errichtet. Das damalige Landeselektrizitätswerk entstand als Abspaltung aus den Landesbahnen – und bedeutete den Startschuss für die gesamte Elektrifizierung des Bundeslands – mehr dazu in Neue Kraftwerke beenden kuriose Monopole (noe.ORF.at; 7.1.2022).

privat
Die erste E-Lok auf der Strecke der Mariazellerbahn

Kaum elektrifizierte Strecken
Die Österreichischen Bundesbahnen, aus dem Zerfall der Monarchie hervorgegangen, hatten in der Zwischenkriegszeit ebenfalls E-Loks im Einsatz, allerdings nur in kleinem Ausmaß und auf wenigen Strecken. Nach einem ersten Elektrifizierungsgesetz 1920 startete man in erster Linie im Westen Österreichs.


ÖBB
Die Arlbergstrecke war eine der ersten, die in den 1920ern mit Elektroloks betrieben wurden

Hier gab es mehr steile Streckenabschnitte – und Dampflokomotiven waren in vielen Fällen kaum eine Option. Nur die stärkeren Elektromotoren konnten die erforderliche Leistung entwickeln. Zusätzlich war die Stromversorgung durch Wasserkraftwerke in den Gebirgsregionen vergleichsweise einfach.

Im Osten war das über weite Strecken anders, deshalb verzichtete man vorerst auf größere Investitionen in Leitungen, in Umspannwerke – und in Kraftwerke, denn von Beginn an wollten die ÖBB den benötigten Strom selbst herstellen. „Man war immer bemüht, die Bahnstromversorgung mit eigenen Kraftwerken zu erhalten“, sagt der ÖBB-Historiker. Nicht zuletzt deshalb war eine Modernisierung mit großen Kosten verbunden. Auf fast allen Strecken blieb man deshalb vorerst bei der älteren, langsameren, teureren und wartungsintensiveren Dampflok.

Wiederaufbau im Vordergrund
Das sollte sich erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ändern, wenn auch nur langsam. Fast die Hälfte der Bahnstrecken war durch Kampfhandlungen zerstört. Im Vordergrund stand in den späten 1940er-Jahren die Wiederherstellung des grundsätzlichen Schienennetzes.
„Es war örtlich sehr unterschiedlich, aber viele Bahnhöfe und auch Brücken waren völlig zerstört – die Eisenbahn war immer ein strategisches Ziel, um den Nachschub zu unterbinden“, so Klein-Wisenberg. Erst nach diesen Reparaturarbeiten machten sich die wiedererrichteten ÖBB in einem zweiten Schritt daran, die Strecken zu modernisieren.
ÖBB
Mitte April 1945, wenige Wochen vor dem Ende des Kriegs, war ein guter Teil der Bahnlinien Österreichs unbefahrbar, vor allem im Osten des Landes

Ganz oben auf der Prioritätenliste standen dabei die Hauptverkehrsrouten Richtung Wien. „Die erste Streckenelektrifizierung begann 1949 mit der Westbahn von Attnang-Puchheim Richtung Linz und später dann, 1952, nach Wien“, erzählt ÖBB-Historiker Klein-Wisenberg. Das sei auch ein wichtiges Zeichen für die Entwicklung der besetzten Hauptstadt gewesen.

Fotostrecke mit 7 Bildern
ORF
Tausende Kilometer Stromleitungen wurden entlang der Schienen verlegt
ORF
Sie wurden auf großen Rollen auf Waggons transportiert
ORF
Zusätzlich kamen spezielle Fahrzeuge zum Einsatz…
ORF
…mit denen die Arbeiter die Oberleitungen installieren konnten
ORF
Es war eine langwierige…
ORF
…und immer wieder auch gefährliche Arbeit…
ORF
…die nahezu überall in Österreich durchgeführt wurde

Bei der Eröffnungsfeier am Wiener Westbahnhof sprach auch Bundespräsident Theodor Körner – mit reichlich Pathos. Ein „neues, unzerreißbares Band“ sei gespannt, „das Ost und West, die Bundesländer und Wien, nunmehr unlösbar verbindet. Dem gesamten Volk Österreichs, allen zusammen, gehören die Bundesbahnen. Dem ganzen Volk dient auch das große Werk, dessen Vollendung wir heute feiern.“ Die ÖBB hätten damit „aufs Neue bewiesen, dass sie alle technischen Errungenschaften zielbewusst zu nützen versehen“, sagte der Bundespräsident.

13 Jahre Bauzeit auf der Südbahn
„Etwas anders lief es im Bereich der Südbahn“, sagt Historiker Klein-Wisenberg. Dort habe man für die Strecke von Wien bis zur italienischen Grenze immerhin 13 Jahre gebraucht. Der Startschuss fiel ebenfalls 1949, und zwar am Semmering. Dort gab es bislang nur eine Tunnelröhre, für zwei Gleise samt Oberleitungen war kein Platz. Deshalb musste eine zweite Röhre her.

Dieser Semmeringbahntunnel war binnen drei Jahren, 1952, fertig. Er wurde anfangs allerdings ebenfalls mit Dampfloks befahren. „Erst 1959 wurde der elektrische Betrieb von Gloggnitz nach Mürzzuschlag in Betrieb genommen“, so der Bahnhistoriker. In den 60er-Jahren schließlich war die ganze Südbahnstrecke elektrisch nutzbar.

16.05.2022, Felix Novak (Redaktion) und Alexander Katholitzky (Archiv), noe.ORF.at
Als das Bahnnetz zum Stromnetz wurde

Hier geht es zum restlichen Beitrag
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#43
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als aus einem NS-Projekt ein Badesee wurde
1653115337286.png

Die Nationalsozialisten wollten die Donau mit der Oder verbinden und so eine europäische Hauptverkehrsroute für den Schiffsverkehr schaffen. Bis auf wenige Kilometer wurde daraus nichts. Ab 1960 entstanden aus dem ehemaligen NS-Großprojekt mehrere Badeseen.

Hier geht es zum gesamten Beitrag des ORF-NÖ.
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#44
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als das Impfen noch unumstritten war
1653333812931.png

Kinderlähmung war in den 1950er-Jahren eine der größten Bedrohungen, vor allem am Land. Erste Impfungen brachten nicht den gewünschten Erfolg. 1961 startete Österreich als erstes westliches Land mit einer ursprünglich sowjetischen Schluckimpfung.
Online seit heute, 18.16 Uhr
Teilen
Die Debatte im Nationalrat dauerte kaum länger als zehn Minuten. Es war der dritte Tagesordnungspunkt: „Öffentliche Schutzimpfungen gegen übertragbare Kinderlähmung“. SPÖ-Abgeordnete Rosa Rück erklärte in aller Kürze das Gesetzesvorhaben: Mit der neuen Polio-Impfung habe man eine Waffe gegen diese „besondere Gefahr für die Volksgesundheit“, den „Schrecken der Mütter“ in der Hand. Freiwillig sei sie, betonte Rück, und vom Obersten Sanitätsrat empfohlen, der Bund übernehme die Kosten für alle bis zum Alter von 21 Jahren.

„Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor“, sagte Franz Olah (SPÖ), Zweiter Präsident des Nationalrats, daraufhin – laut Protokoll – entfalle daher ein Schlusswort. „Wir kommen sofort zur Abstimmung.“ Auch diese ging schnell über die Bühne. Der Nationalrat sprach sich am 28. November 1960 für das neue Impfgesetz aus. Einstimmig.

Lähmungen bei nur einem Prozent der Erkrankten
Die Poliomyelitis, auch bekannt unter den Begriffen Polio bzw. Kinderlähmung, war damals immer mehr zum Problem geworden, die erste Epidemie in Niederösterreich hatte es bereits 1908 gegeben. Es handelte sich um eine hochinfektiöse Viruskrankheit, die vor allem bei Jüngeren zu schwerwiegenden Problemen führen konnte. Allerdings nur in einem geringen Prozentsatz der Fälle: 90 Prozent der Infektionen verliefen komplett symptomlos, weitere neun Prozent mit tagelangen grippalen Symptomen, in einzelnen Fällen kam es hier auch zu einer Hirnhautentzündung.
Das eigentliche Problem war das letzte Prozent: Jeder und jede Hundertste litt unter Lähmungserscheinungen. Diese konnten Arme und Beine betreffen – oder im schlimmsten Fall die Atmung. Auf diese Weise konnte die Krankheit rasch zum Tod führen. Das einzige Mittel, das zumindest einem Teil der Patienten in diesem Stadium half, war die sogenannte Eiserne Lunge. Der gesamte Körper unterhalb des Kopfes lag hierbei in einer Art Tonne, die einen Unterdruck erzeugte. So konnte die gelähmte Atemmuskulatur unterstützt werden – oft war das allerdings über einen langen Zeitraum oder sogar permanent notwendig.


wikimedia commons/National Museum of Health and MedicineCC BY 2.0
Eine „Eiserne Lunge“ in den USA

Wer überlebte, war noch lange nicht geheilt. In zahlreichen Fällen blieben die Lähmungen verschiedener Teile des Körpers über Jahre oder gar Jahrzehnte erhalten. Die Medizin nannte dieses Phänomen „Post-Polio-Syndrom“.

Mehr Hygiene, mehr Probleme
Unklar war für die Medizin damals, unter welchen Bedingungen sich die Kinderlähmung ausbreitete. Klar war, dass eine Infektion sowohl über Körperflüssigkeiten als auch durch verschmutzte Nahrungsmittel bzw. kontaminiertes Wasser ausgelöst werden konnte.

Gleichzeitig wurde die Krankheit vor allem in jenen Ländern zunehmend zum Problem, in denen die hygienischen Bedingungen vergleichsweise am besten waren. Mit der Verbesserung der Lebens- und Hygienesituation in den Nachkriegsjahren kam es immer öfter zu Lähmungen und Todesfällen. „In Amerika heißt es allgemein, die Poliomyelitis ist der Preis, den wir für unsere hohen hygienischen Lebensverhältnisse zahlen müssen“, sagte der niederösterreichische Zahnarzt und ÖVP-Politiker Oswald Haberzettl 1960 in einer Debatte im Bundesrat.

Diese scheinbar paradoxe Situation war innerhalb von Ländern ebenfalls zu beobachten, auch in Österreich. In den Städten, in denen die hygienischen Bedingungen im Allgemeinen schlechter waren und sich Krankheitsüberträger üblicherweise schneller ausbreiten konnten, war die Kinderlähmung kaum ein Problem. In ländlich geprägten Regionen, darunter Niederösterreich, hingegen sehr wohl.

„Das Land-Stadt-Gefälle wird darauf zurückgeführt, dass die Durchseuchung der Bevölkerung in der Stadt durch das enge Beisammenleben sehr viel früher stattgefunden hat“, sagt die Historikerin Marina Hilber von der Universität Innsbruck. „Die Kinder in der Stadt haben sich sehr früh mit diesem Virus infiziert, aber nur sehr milde Verlaufsformen aufgewiesen.“

Bei einem Erstkontakt in späteren Jahren hingegen waren die Verläufe im Schnitt schwerer – und nur die schweren Verläufe wurden überhaupt registriert. Wie weit sich der Erreger in der Bevölkerung tatsächlich ausgebreitet hatte, war deshalb kaum abzuschätzen. Flächendeckende Testprogramme, um auch Symptomlose aufzuspüren, waren im 20. Jahrhundert unmöglich und daher kein Thema.

Rasanter Anstieg nach dem Weltkrieg
Die besorgniserregende Entwicklung nach dem Krieg zeigte sich auch in Österreich. Aufschluss darüber gibt eine Statistik des damaligen Bundesministeriums für soziale Verwaltung. Demnach hatte es in den letzten Kriegsjahren 1944 und 1945 auf dem Gebiet des späteren Österreich jeweils nur etwa 200 symptomatische Erkrankungen und 20 Todesfälle gegeben. 1946 waren es bereits über 400 schwere Verläufe bzw. 69 Tote, am Höhepunkt ein Jahr später sogar 3.500 Fälle, 315 davon endeten tödlich. Es folgten weitere Infektionswellen, die jährlichen Zahlen schwankten stark.

Die Lösung für das weltweite Problem versprach ein neuer Impfstoff des US-Amerikaners Jonas Salk. Nach Jahren der Entwicklung wurde diese Methode 1954 in größerem Ausmaß klinisch getestet. Zugelassen wurde die Impfung wenige Monate darauf.

Es handelte sich um einen sogenannten Totimpfstoff. Dem Körper wurde dabei mit der Spritze eine Form des Virus verabreicht, die zuvor künstlich inaktiviert – also abgetötet – worden war. Dadurch sollte die Krankheit im Körper nicht ausbrechen, aber sehr wohl ein Immunschutz dagegen aufgebaut werden. Für den optimalen Schutz vor der Kinderlähmung, so hieß es damals, waren drei „Salk-Impfungen“ nötig.

ORF
Injektion mit dem Totimpfstoff von Jonas Salk

Impfskandal erschütterte Vertrauen
In Österreich war das Interesse daran grundsätzlich groß, es gab aber schon bald ein Problem: In den USA kam es kurz nach der Zulassung 1955 zu einem folgenschweren Unfall, der weltweit das Vertrauen in den Impfstoff erschütterte. In einer Produktionsstätte war die Inaktivierung des Virus fehlgeschlagen, damit war eine ansteckende Form des Virus in die betroffenen Produktionschargen gekommen. Die Folge: Hunderttausende Kinder wurden infiziert, bei vielen von ihnen brach die Krankheit auch aus. In Dutzenden Fällen blieben dauerhafte Lähmungen, fünf Kinder starben an den Auswirkungen ihrer Polio-Erkrankung.

„Der Zwischenfall hat der anfänglichen Euphorie einen gewissen Abbruch getan“, sagt Hilber. „Österreich wollte die Salk-Impfung eigentlich sehr schnell einführen, war schon in den Startlöchern.“ Nach dem Unglück sei man vorsichtig geworden. „Es gab die Angst, dass man die österreichische Bevölkerung als Versuchskaninchen missbrauchen würde“, führt die Historikerin aus. Der Bund habe die Impfung daher für zu unsicher befunden.

„In Österreich hat es leider sehr lange gedauert, bis dieser Totimpfstoff freigegeben wurde“, so Hilber. Während 1957 einzelne Ärzte bereits „illegal“ mit eigens importierter Ware impften, kam es erst 1958 zur Zulassung – und auch da nur bedingt. So weigerte sich der Bund, eine österreichweite Kampagne zu starten und die Kosten und damit die Verantwortung zu übernehmen. Diese blieben an den Bundesländern hängen. „Jedes Land kochte dann sein eigenes Süppchen – oder in manchen Bundesländern auch nicht“, sagt die Forscherin.

Epidemie in Niederösterreich
Negativbeispiele waren Niederösterreich und Vorarlberg. Hier verpasste man vor dem Sommer 1958 den richtigen Zeitpunkt für eine größere Kampagne. Die Folge: eine massive Epidemiewelle mit vielen Toten. Dieses Trauma führte allerdings gleichzeitig zu einer hohen Impfbereitschaft in den Monaten danach. Auch seitens des Landes war plötzlich der Wille da, rasch großflächig zu impfen. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern kamen nicht nur Amtsärzte zum Einsatz, sondern alle Mediziner.

Alleine zwischen 1958 und 1960 ließen sich 790.000 Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher impfen, gut 260.000 davon holten sich auch den „Dritten Stich“ – „das sind 33 Prozent der Bevölkerung der Altersgruppe null bis 40 oder fast alle Kinder Niederösterreichs“, sagte Bundesratsabgeordneter Haberzettl laut Protokoll. Komplikationen bzw. unerwünschte Nebenerscheinungen seien nicht beobachtet worden. Haberzettl sprach von einem „vollen Erfolg“.

Das stimmte jedoch nur zum Teil. Tatsächlich ging die Zahl der schweren Verläufe in ganz Österreich in jener Zeit deutlich zurück: von etwa 700 (98 Todesfälle) im Jahr 1959 auf knapp 300 (27 Todesfälle) im Jahr 1961. Die Impfung verhinderte die Übertragung allerdings nicht.

Keine Herdenimmunität vorhanden
Das Virus breitete sich weiterhin ungehindert aus, die Bevölkerung als Ganzes blieb vor Infektionen ungeschützt. Wer aus diversen Gründen ungeimpft war, war anfällig für schwere Verläufe – und auch vor dauerhaften „Post-Polio“-Beschwerden gab es kaum einen Schutz.
Wenige Jahre später sollte eine neue Erfindung zum durchschlagenden Erfolg werden: die Schluckimpfung. Der sowjetisch-amerikanische Arzt Albert Sabin hatte die Methode seines Kollegen weiterentwickelt. Im Gegensatz zu Salk setzte er auf einen Lebendimpfstoff, der über den Mund verabreicht werden konnte. Er setzte im Darm an, wo sich das Virus zuerst vermehrt, und verhinderte so auch eine Übertragung.
Getestet worden war die Schluckimpfung Ende der 1950er-Jahre in der Sowjetunion, im Jahr 1960 waren dort bereits zig Millionen Kinder damit immunisiert. Nun, als die Salk-Impfung nicht die gewünschten Ergebnisse brachte, wuchs auch im Westen das Interesse an dieser Alternative.

Neutrales Land mit guten Russland-Kontakten
Während die USA in diesem Jahr erste Versuche damit starteten, ging das kleine Österreich einen Schritt weiter. Im November und Dezember bekannten sich Nationalrat und Bundesrat einstimmig zur Schluckimpfung. Die Republik sprach sich für ein Impfprogramm bisher ungeahnten Ausmaßes aus – allerdings nach wie vor auf freiwilliger Basis.

Bereits in den Jahren zuvor hatte der Sanitätsrat in Österreich über diese Neuerung diskutiert, erzählt Hilber: „Man war hierzulande sehr interessiert daran, die Schluckimpfung frühzeitig einzuführen.“ Als Brückenland im Kalten Krieg hatte Österreich gute Kontakte in die Sowjetunion. „Millionen Menschen wurden dort damals schon geimpft – erfolgreich, wie die Sowjetunion immer vermeldet hat.“ Österreich versuchte, den Impfstoff aus sowjetischer Produktion zu bekommen „und war schon sehr weit fortgeschritten“, so die Tiroler Historikerin.

Schließlich scheiterten die Verhandlungen aber. „Man hat zwar den Angaben der Sowjetunion Vertrauen geschenkt und sich auch die Produktionsstätten angeschaut, aber die Sowjetunion weigerte sich, Testprotokolle zur Verfügung zu stellen.“ Deshalb wartete Österreich ab, bis der US-Pharmakonzern Pfizer diesen Impfstoff nach westlichen Standards herstellte.

Vorreiter der westlichen Welt
Ende 1961 kamen in Niederösterreich und allen anderen Bundesländern fast zeitgleich die ersten Lieferungen an. „Österreich war auch zu diesem Zeitpunkt noch das erste Land in der westlichen Welt, das eine so groß akkordierte nationale Impfung mit diesem Lebendimpfstoff durchgesetzt hat“, sagt Hilber. Verabreicht wurde die Impfung in erster Linie über getränkten Würfelzucker. Die Effekte dieses kleinen Stücks Zucker zeigten sich binnen kürzester Zeit in den nationalen Statistiken.

ORF
Die aufgereihten Würfelzucker, die mit dem Wirkstoff getränkt sind, dürften einer ganzen Generation bekannt sein

Die Infektionsketten waren plötzlich durchbrochen und die Zahl der schweren Fälle reduzierte sich in eindrucksvollem Tempo auf einen Bruchteil: von knapp 300 im Jahr 1961 auf lediglich acht im folgenden Jahr.

Sieg über die Poliomyelitis
Noch dramatischer zeigte sich diese Entwicklung anhand der Todesfälle. 1961 hatte es – wie erwähnt – 27 tödliche Verläufe gegeben, 1962 waren es nur noch zwei – und diese gingen laut Gesundheitsministerium auf Erkrankungen vor der Impfkampagne zurück. Zwischen 1963 und 1967 wurde überhaupt nur ein einziger Todesfall in Folge von Polio verzeichnet, nämlich im Jahr 1964. Die Kinderlähmung galt als besiegt, 1980 wurde in Österreich der bisher letzte Fall registriert.

Im Gegensatz zu den Pocken, die seit den 1970ern weltweit als ausgelöscht gelten, treten allerdings in einigen Ländern auch heute noch Fälle der Kinderlähmung auf, darunter Pakistan, Afghanistan und Nigeria. Deshalb wird in Österreich auch noch immer dagegen geimpft.
Eine Rückkehr zu den Wurzeln: Zum Einsatz kommt heute nämlich nicht mehr die Sabin-Schluckimpfung, sondern eine Variante des älteren Salk-Impfstoffs. Über die Jahrzehnte hat sich gezeigt, dass dieser zu weniger Nebenwirkungen führt. Konkret zu weniger Kontaktinfektionen, also Ausbrüchen der Krankheit nach der Impfung. Der Totimpfstoff, der nach dem Unglück 1955 unter noch höheren Sicherheitsvorkehrungen produziert wurde, war hier im Vorteil. „1997 beschloss der Oberste Sanitätsrat in Österreich, dass man diese Schluckimpfung aussetzt, 1999 wurde sie vollständig eingestellt.“ Der Salk-Impfstoff biete heutzutage ausreichend Individualschutz, so Hilber.

Licht und Schatten der Impfgeschichte
Die Geschichte der Polio-Impfung ist eine der enttäuschten Erwartungen in Impfstoffe, aber gleichzeitig ist es auch einer der größten Erfolge der Medizin – in einer Zeit, in der das Impfen an sich zumindest in der Politik kaum umstritten war. Auch in der Bevölkerung polarisierte das Thema damals nicht besonders stark. „Es hat sicher in gewissen Regionen Impfskeptiker und auch Widerstände gegeben, aber das waren zahlenmäßig sehr kleine Gruppierungen“, sagt Historikerin Hilber. „Groß organisiert, so wie wir das heute kennen, war es nicht.“

Die Akzeptanz der Schluckimpfung sei hoch gewesen, auch weil sich „die Bundesregierung sehr ins Zeug gelegt hat, um sie zu popularisieren“, sagt die Tirolerin. Etwa mit einer systematischen Werbekampagne mit Plakaten und Radioaufrufen. „Es sind auch alle Ärzte flächendeckend informiert worden. Man hat versucht, sie ins Boot zu holen“, so Hilber, „um die Informationen durch seriöse Kanäle an die Menschen zu bekommen“.
23.05.2022, Felix Novak, noe.ORF.at
Als das Impfen noch unumstritten war
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#45
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Die autofreie Stadt „mitten in der Pampa“
1653653208422.png

In den 1960er Jahren ist in Maria Enzersdorf (Bezirk Mödling) auf der grünen Wiese der Prototyp einer autofreien Gartenstadt entstanden: die Südstadt. Das Projekt brachte aber auch so manche Konflikte und galt zwischenzeitlich als eine Art „Pensionopolis“.
Online seit heute, 8.51 Uhr
Teilen
„Es gab keine Wege, wir sind nur in Gummistiefel herumgelaufen, das war furchtbar“, erinnert sich Leopold Kummer, einer der ersten Bewohner der Südstadt, an den Einzug im Jahr 1963. Weil auch die Gartenmauern noch fehlten, liefen oft Schaulustige über die Grundstücke und schauten durch die Fenster in die Häuser. „Dann sind sie erschrocken, dass schon jemand drinnen sitzt und sind weggelaufen.“

Zu diesem Zeitpunkt waren nur wenige Häuser fertig – vor allem jene in der ersten Reihe. Bei Leopold Kummer schlug in der Bauphase sogar der Blitz ein, wodurch das Gebäude einbrach und neu aufgebaut werden musste, erzählt der ehemalige EVN-Mitarbeiter. Doch trotz einiger Strapazen wollte Kummer aus der Südstadt nicht mehr weg.

Beginn der Stadtentwicklung
Die treibende Kraft hinter dem Projekt war das Land. Als das Groß-Wien der NS-Zeit 1954 auf die heutige Größe reduziert wurde und zahlreiche Orte zu Niederösterreich zurückkehrten, wurden diese Stadtentwicklungspläne wieder aufgegriffen. Das Land plante, die Verwaltungszentralen der landeseigenen Energiegesellschaften NEWAG und NIOGAS (heute in der EVN AG zusammengefasst) von Wien nach Niederösterreich zu verlegen.

In Verbindung mit den neuen Firmenzentralen sollte auch eine Großsiedlung für die Betriebsangehörigen entstehen – für bis zu 5.000 Menschen. „Es war aber keine Werkssiedlung der Newag und Niogas“, betont EVN-Unternehmenshistoriker Georg Rigele – das Konzept war eine Wohnstadt mit zentraler Infrastruktur, also Nahversorger, Kirche, Schule, Kindergarten sowie der EVN.

Utopie einer Gartenstadt
Das Besondere daran: Die Südstadt wurde von Anfang an als möglichst autofreie Stadt konzipiert, mit großzügigen Grünflächen und einer klaren Gliederung nach Funktionsgruppen. Zwischen den Straßen und Häusern gibt es etwa 70 Meter breite Wiesen. „Es ging darum hier eine städtebauliche Utopie zu verwirklichen“, ergänzt Rigele, der nicht nur von einer Garten-, sondern einer Parkstadt spricht.

Bis 1975 wurden mitten auf der grünen Wiese Wohnräume für fast 2.000 Familien gebaut. Um eine Ghettobildung zu vermeiden, wurden teurere Einfamilienhäuser mit Garten und günstigere Kleinwohnungen in Mehrparteienblöcken direkt nebeneinander errichtet. Der tägliche Bedarf – vom Nahversorger über Banken, Frisör, Trafik bis zu Fleischhauer, Restaurants, aber auch Bildungs- und Sportangebote – war fußläufig erreichbar. „Ich glaube besser kann man eine Planstadt nicht bauen.“

Fotostrecke
EVN
,Wo sich heute SCS, Gewerbe- und Siedlungsgebiete aneinanderreihen, gab es in den 1960-er Jahren noch viel freie Fläche
EVN
Um eine Ghettobildung zu vermeiden, wurden teurere Einfamilienhäuser mit Garten und günstigere Kleinwohnungen in Mehrparteienblöcken direkt nebeneinander errichtet

EVN
Die Baustelle der neuen Verwaltungsdirektion der beiden Landesenergieversorger NEWAG und NIOGAS, am Pult spricht NEWAG-Generaldirektor Viktor Müllner

EVN
Ab 1963 zogen die ersten Familien in die neugebaute Anlage ein

EVN
Da es innerhalb der Südstadt für Autos keine Straßen gibt, sei die Anlage für Kinder wie ein Paradies gewesen


EVN
Die neue Verwaltungszentrale der damaligen Landesversorger NEWAG und NIOGAS (heute EVN)

Nicht alles perfekt
Und trotzdem war auch in der Südstadt nicht alles perfekt. Viele der Bewohner waren auf ein Auto angewiesen, um Einkäufe zu erledigen und Arbeitsplätze, Freizeit- und Kultureinrichtungen zu erreichen. Denn während heute rundherum Gewerbe- und Industriegebiete dominieren, existierten damals noch grüne Wiese und Ziegelteiche. Öffentliche Verkehrsmittel wurden zwar verstärkt, können aber das weitflächige Siedlungsgebiet im Wiener Becken nur zum Teil bedienen.

Ab Mitte der 1960-er Jahre entwickelte sich in der Stadt zwar etwas „Leben“, ohne den Pflanzen- und Baumbewuchs wirkte die Anlage aber noch sehr kahl und rundherum gab es nur weites Land. Nach außen hin fühlten sich viele Leute deshalb ausgesetzt. Zugleich kämpften einzelne Bewohner mit teils gravierenden Bauschäden.

„Wo sind wir da hingekommen?“
„Man war mitten in der Pampa“, erinnert sich Johann Zeiner, heute Bürgermeister von Maria-Enzersdorf, der 1966 als Zwölfjähriger mit seinen Eltern aus dem Zentrum Klosterneuburgs in die Südstadt kam. Seine Schwester fragte sich damals nur: „Wo sind wir da hingekommen?“ Erst bis Mitte der 1970-er hatte sich die Stadt so weit etabliert, dass alles gut funktionierte, sagt Rigele.

Für die Kinder sei die Südstadt jedenfalls ein „Paradies“ gewesen, erzählt EVN-Sprecher Stefan Zach, der im Alter von wenigen Wochen in die Südstadt zog und sie seither wohnsitztechnisch nie verließ. „Zwischen den Häusern gab es eine Unmenge an Platz und überhaupt keine Barrieren.“ Die Straßen verlaufen nämlich um die Südstadt herum, innerhalb gibt es keine Fahrbahn, „die uns den Weg irgendwo hin in der Südstadt verwehrt haben.“

Fotostrecke
ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer
Bäumen, Wiesen und Sträuchern wurde in der Südstadt viel Raum gegeben. In der Südstadt stehen einst teure Bungalows …

ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer
...neben günstigeren Wohnhäusern

ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer
Innerhalb der Südstadt dominieren Fußgänger und Radfahrer

ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer
Die Straßenbezeichnungen erinnern fast alle an Kraftwerksstandorte der EVN

ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer


ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer
Die alten Bürogebäude wirken mittlerweile etwas aus der Zeit gefallen

ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer

ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer
Die Pfarrkirche – 1970 geweiht – war zu Beginn neben dem Sportzentrum einer der beiden Treffpunkte der Bewohner

GEPA pictures
Das Fußballstadion, in dem heute die Admira zuhause ist, wurde schon 1967 eröffnet

Eigentlich sollte die Südstadt ein Prototyp für weitere Gartenstädte sein, die entlang von Entwicklungsachsen wie eine Perlenkette entstehen sollten. Konkrete Pläne gab es dazu etwa auch im Norden Wiens. Dazu kam es aber nie. Möglicherweise auch deshalb, weil in den folgenden Jahren auch der Boden nicht mehr in dieser Dimension zur Verfügung stand.

Kurios wirkt aus heutiger Sicht, dass die Planer und Architekten damals mit einer Lebensdauer der Häuser von 25 Jahren rechneten. Laut Rigele war das auch dem damaligen Wirtschaftswachstum und dem Fortschrittsglauben geschuldet. „Es war das Zeitalter der Atomkraft, man flog zum Mond und dachte, dass nach einer Generation schon das nächste kommt.“

Umzug nach Niederösterreich identitätsstiftend
Für die heutige EVN sei die Übersiedelung von Wien nach Niederösterreich ein wichtiger Schritt gewesen, meint EVN-Sprecher Stefan Zach, „hin zu einer Niederösterreich-Identität“. Ein aus Sicht des Unternehmens erfreulicher Begleiteffekt: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren nicht mehr von den städtischen Kaffeehäusern abgelenkt, „man war von all dem sehr weit entfernt“, merkt Zach süffisant an.

Genauso eng wie die EVN ist auch das Sportzentrum mit der Südstadt verbunden – neben der Pfarre das zweite Zentrum vieler Bewohnerinnen und Bewohner. Das Sportgelände wurde im Jahr 1967 vom Bund übernommen, nur zwei Jahre später stellte Leichtathletin Liese Prokop im Fünfkampf einen Weltrekord auf. In den Jahren 1971 bis 1975 entstand in der Folge das Bundessport- und Freizeitzentrum Südstadt, das in seiner Art die größte Anlage Europas darstellen soll.

Altort vs. Südstadt
Für die Gemeindeverwaltung sei die Integration „kein leichter Prozess gewesen“, meint Bürgermeister Zeiner. Innerhalb weniger Jahre hatte sich die Einwohnerzahl verdoppelt. Zum einen war die Infrastruktur wie Schulen eine Herausforderung, andererseits gab es zwischen dem alten und neuen Ortsteil – die nicht einmal direkt miteinander verbunden sind – Gegensätze: die alteingesessene Ortsbevölkerung gegen die gut ausgebildeten „Zuagrastn“ aus Wien.

Und das nicht ohne Grund: Denn im Altort kämpfte man noch in den 1960-er Jahren mit den Auswirkungen der sowjetischen Besatzungszeit während in der Südstadt alles neu war. „Vornehm formuliert: die da unten, die alles bekommen, und wir haben das Nachsehen“, so Zeiner. Die Gegensätze bestanden unterbewusst sogar bis in die 1990-er Jahre, und lösten sich erst mit dem natürlichen Wechsel der Bevölkerung auf.

Südstadt wurde „Pensionopolis“
Da die Südstadt in den 1960er- und 1970er-Jahren besiedelt wurde, wurden die Bewohner auch gemeinsam älter. Zum Jahrtausendwechsel lebten überwiegend Pensionisten in der Südstadt. Die Zahl der Kinder sank, während die Zahl der Hunde stieg. „Alle sind gealtert, es war beinahe ein Pensionopolis“, meint Wolfgang Broer, der seit 1973 in der Südstadt lebt.

Die Häuser und Wohnungen, in denen anfangs noch drei, vier oder fünf Menschen lebten, schrumpften meist auf Zwei- oder Ein-Personen-Haushalte. Die Kinder, die in der Südstadt aufwuchsen, fanden in der unmittelbaren Umgebung oft keinen Wohnplatz und zogen weg. Die Einwohnerzahl ging daraufhin stark zurück, in den Schulen machte sich ein „drastischer Rückgang“ bemerkbar, sagt der Ortschef.

Wirtschaftlicher Verfall
Damit setzte auch ein wirtschaftlicher Verfall ein. „Ein Geschäft nach dem anderen hat zugesperrt“, fügt Elisabeth Broer hinzu. Daran war laut Bürgermeister nicht nur der Bevölkerungsrückgang Schuld, sondern auch der damalige Eigentümer, die Austria AG. Zwar wurde etwa in einen Zubau mit Büros investiert, „um zusätzliche Einnahmen zu generieren, aber nie in die Substanz, deshalb hat langsam der verfall begonnen.“

Daraufhin wurde die Anlage mehrmals verkauft, zunächst an die oberösterreichische Brandschadenversicherung, dann an eine Immobiliengruppe. „Man hatte den Eindruck, dass die Südstadt ein ungeliebtes Kind ist“, sagt Zeiner. Saniert wurde immer nur „oberflächlich“, damit seien die Gebäude immer mehr gealtert.

Erst ab dem Jahr 2000 stabilisierte sich diese Entwicklung. Mittlerweile habe auch ein Generationswechsel begonnen, berichtet Südstadt-Bewohner Elisabeth Broer: „Man merkt bereits deutlich, dass wieder jüngere Familien zuziehen. Es gibt wieder eine bunte Durchmischung. Wohnungen, die früher lange Zeit leer gestanden sind, können wieder verkauft werden.“

Neuer Impuls belebt Zentrum
Einen neuen Impuls brachte das neue Südstadtzentrum, das innerhalb von zwei Jahren errichtet wurde. Ein Drittel des neuen Zentrums der Südstadt – 13.000 Quadratmetern Nutzfläche – ist weiterhin für Geschäfte vorgesehen. Dazu kamen eine Tiefgarage, ein Ärztezentrum, mehr als 100 Mietwohnungen und 30 Wohnungen für betreutes Wohnen.

Fotostrecke mit 3 Bildern
ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer
2020 hat die Südstadt ein neues Zentrum mit mehr Wohnungen und modernen Geschäften erhalten
ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer
Das Areal hat dadurch wieder einen neuen Impuls erhalten

ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer
Die Südstadt soll damit – wie zu Beginn – wieder zu einer lebendigen Familienstadt werden

Um den Charakter der Südstadt – die vielen großzügigen Freiflächen – langfristig zu erhalten, erwarb die Gemeinde schon in den 90-er Jahren große Teile davon. „Für die Gemeinde war das kein gutes Geschäft“, betont Zeiner, „weil wir Flächen gekauft haben, die man nicht nutzen will.“ Es sei aber ein Signal an die Bevölkerung gewesen, dass hier keine Wohnraumverdichtung möglich sei.

Südstadt bleibt eine Insel
Bei der Energieversorgung ist die Südstadt bis heute quasi eine Insel. Entgegen den umliegenden Gemeinden sowie dem Altort von Maria Enzersdorf, die über Wiener Netze mit Strom versorgt wird, bildet die Versorgung in der Südstadt hier eine Insellösung der EVN. Auch die Gasversorgung erfolgt über Leitungen der EVN, die Wärmeversorgung über das EVN-eigene Biomasseheizkraftwerk Mödling, das ursprünglich gleichzeitig mit dem Südstadtbau in Mödling als Erdgas als Primärenergieträger errichtet wurde.

Der Zusammenhang zwischen der Südstadt und der damaligen NEWAG ist bis heute an Straßennamen der Siedlung, die an Standorte von NEWAG-Kraftwerken erinnern, erkennbar: Erlaufstraße, Dobrastraße, Ottensteinstraße, Thurnbergstraße, Kampstraße, Theißplatz, Hohe-Wand-Straße, Wienerbruckstraße und Donaustraße.

ORF/Stefan Schwarzwald-Sailer
Das EVN-Gebäude als markantes und von weitem sichtbares Wahrzeichen der Südstadt

Mögliche Landeshauptstadt?
Eine urbane Legende, die aber in Gesprächen mit Ortsbewohnern immer wieder vorkommt, ist, dass die Südstadt auch zu einer Art neuen Landeshauptstadt ausgebaut werden sollte. „Von der Konzeption mit der EVN, den Sport- und Wohnanlagen wäre es schon vorstellbar“, meint Zeiner. Auch einer seiner Vorgänger machte offenbar Aussagen dahingehend. „Ich kenne aber keine konkreten Pläne oder Unterlagen, ist also bestenfalls zwischen den Zeilen herauszulesen.“

Die Einwohnerzahl der Südstadt beträgt heute etwa 4.000, das ist ungefähr die Hälfte der Gesamteinwohnerzahl von Maria Enzersdorf. Auch der „Ureinwohner“ Leopold Kummer wollte seither nicht mehr wegziehen. „Es war eine harte, aber schöne Zeit mit einem guten Zusammenhalt“, betont der rüstige Pensionist, „auch wenn viele schon gestorben sind.“
27.05.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

Link:
Die autofreie Stadt „mitten in der Pampa“
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#48
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
A1: Brüchige Lebensader nach Hitlers Plänen - Teil 1

Die Strecke durch den Wienerwald ist in den 1960ern der letzte große Bauabschnitt der Westautobahn, der ersten Autobahn Österreichs. Der Spatenstich war bereits 1938 erfolgt – durch die Nazis. Von Beginn an war die A1 mit Sperren und Sanierungen konfrontiert.
Online seit heute, 5.36 Uhr
Teilen
Es sind nicht einmal 30 Kilometer – vom Knoten Steinhäusl bis nach Wien-Auhof, doch die hatten es in sich. Für die Planer war es wie eine Autobahn im Gebirge. Denn der Abschnitt durch den Wienerwald ist von mehreren Tälern durchschnitten.

Zudem erschwerte die Geologie die Trassensuche. Denn in der sogenannten Flyschzone konnte man nicht einfach entlang der Berghänge bauen. „Dabei war die Gefahr zu groß, dass der Hang abrutscht“, erklärt Historiker Martin Wallner. Weil Tunnel damals noch schwieriger zu bauen waren, mussten die Planer auf dem bestehenden Bergrücken „aufsatteln“ – jeweils auf der härtesten Gesteinsschicht.

15 Tonnen Sprengstoff
Allein zwischen Steinhäusl und Großram (beide Bezirk St. Pölten) mussten 1,2 Millionen Kubikmeter Geröll beseitigt werden. In einem einzigen Monat wurden 15 Tonnen Sprengstoff eingesetzt, was auch an der Bevölkerung nicht spurlos vorüberging. Wer das akustische Warnsignal hörte, sollte sich in Sicherheit bringen. Gesprengt wurde jeweils zwischen 12.00 und 13.00 Uhr, „weil man annahm, dass da die Leute beim Mittagessen sitzen und nicht viel kaputt gehen kann“.

Fotostrecke
Archiv ABM Pressbaum
Der Felsabtrag am Fuße des Steinhutberges im Herbst 1961 auf der Richtungsfahrbahn nach Westen ist noch nicht abgeschlossen. Währenddessen wird der Beton auf der Richtungsfahrbahn Wien bereits eingebaut.
Archiv Kohout
Betoneinbauzug bei Kirchstetten

Sammlung Martin Wallner
Schüttmaterialeinbau mit Motorgrader

Archiv Kohout

Archiv Kohout
Unterbetoneinbau in Kirchstetten

Archiv Kohout
Händische Unterstopfen der Seitenschalung

Sammlung Martin Wallner
Schüttmaterialgewinnung, Bodenabtrag mit Schürkübel und Schubraupe im Vordergrund

Archiv Kohout
Schalungsmontage

Archiv Kohout
Bitumensandeinbau mit Fertiger im Sommer 1958 auf Höhe der heutigen Autobahnauf- und Abfahrt in Böheimkirchen

Archiv Kohout
Trassierungsarbeiten in Steinhäusl, hier wurde bereits 1958 mit dem Bau der Brücke begonnen und der Autobahnknoten auf der alten „Reichsautobahntrasse“ vorbereitet

Archiv Leopold Schweyer
Das Lehrgerüst für das Brückentragwerk bei Steinhäusl ist aufgestellt, Bauzustand im Februar 1959

Archiv Leopold Schweyer
Bauzustand im April 1959, die Pfeiler der Steinhäusl-Brücke werden hochgezogen

Heimatmuseum Pressbaum
Brückenbau Grossram im Sommer 1961, im Hintergrund ist der abgetragene Steinhutberg zu sehen

Archiv Straßenmeisterei
Händische Felsräumung am Steinhutberg im Herbst 1961

Archiv Leopold Schweyer
Im Sommer 1959 sind die Fahrbahntragwerke bis zur Brückenmitte fertig

Heimatmuseum Pressbaum
Die Vorspannkabel sind im Tragwerk verlegt, Sommer 1960

Archiv Kohout
Der Betoneinbau im Sommer 1961 im Bereich der Ab- und Auffahrt Altlengbach

Österreichische Bauzeitung
Die Pfalzaubrücke 1963 im Bau, die Gerüstung stammt von DOKA

Immer wieder kam es vor, dass gesprengtes Felsgestein über das Tal flog und in Hausdächer und Gärten einschlug – was manchmal auch zu gefährlichen Situationen führte, weiß Wallner: „Einmal, als das Signal nicht ertönt ist, wurde fast ein Mann verletzt, der gerade noch am stillen Örtchen gesessen ist. Nur wenige Sekunden, nachdem er die Toilette verlassen hatte, flog ein gesprengter Felsbrocken durch das Dach und zerstörte das WC."

Wallner, der über die Westautobahn – „Die Lebensader Österreichs“ – ein Buch geschrieben hat, erinnert sich auch an einen Vorfall im Garten seines Großvaters: „Mein Opa hatte dort Mistbeete mit Glasscheiben. Hie und da hat ein Stein eine Scheibe zerschlagen.“ Daraufhin besichtigten die Baufirmen die Schäden und leisteten anstandslos Ersatz. Zugleich beschädigten die schweren Baumaschinen Straßen teilweise so schwer, dass sie nicht mehr befahren werden konnten.

Artisten in luftigen Höhen
Neben den großen Erdbewegungen mussten vor allem die Täler überbrückt werden – für die damalige Zeit keine einfache Aufgabe. Die Pfeiler der Talübergänge sind immerhin bis zu 60 Meter hoch. Nur erfahrene Bauarbeiter kamen zum Einsatz, die sich – beim Auftauchen der Kamera – aber aufführten, als wären sie auf einem New Yorker Wolkenkratzer. „Es sind da wirklich ein paar köstliche Aufnahmen entstanden: Die Arbeiter turnen über die Brücke wie Artisten – ohne Netz und doppelten Boden“, erzählt Wallner.

Pro Abschnitt waren etwa 3.000 Mitarbeiter beschäftigt. Wobei auf der Baustelle damals „noch wirklich Muskelkraft gefragt war“, betont Erik Neumann aus Rekawinkel. Als 20-Jähriger half er eine Saison beim Bau der Brentenmaisbrücke mit. „Betonpumpen wie heute hat es nicht gegeben, da wurden große Betonkübel mit eineinhalb Kubikmeter vom Kran hochgezogen und dort in überdimensionale Scheibtruhen von zwei Personen auf der Brückendecke händisch verschoben.“
30.05.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
A1: Brüchige Lebensader nach Hitlers Plänen

Fortsetzung siehe Teil 2:
 

Anhänge

josef

Administrator
Mitarbeiter
#49
A1: Brüchige Lebensader nach Hitlers Plänen - Teil 2

Selbstbewusst in neue Zeiten
Das Bekenntnis zum Bau der Westautobahn fiel in den 1950er-Jahren. 1954 beschloss die Bundesregierung den Vollausbau. Ein deutliches Zeichen des Selbstbewusstseins der jungen Zweiten Republik. „Es war ein Zeichen der Wiedergeburt, es geht etwas nach vorne“, schildert Wallner. Ziel war es aber auch, in Zeiten der Wirtschaftskrise Arbeitsplätze zu schaffen und den Tourismus zu fördern. Politisch ging es darum, die Orientierung nach Westen zu dokumentieren.

Bei den Planungen griff man – auch aus Mangel an Alternativen – auf die in den 1930er-Jahren begonnene Reichsautobahn zurück. Die Nationalsozialisten hatten bereits 1937 als Touristen getarnte Ingenieure zur Streckenplanung nach Österreich geschickt. So konnte Hitler keinen Monat nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich am 7. April 1938 im Salzburger Walserberg den propagandistisch inszenierten Spatenstich zum Bau der ersten Autobahn vollziehen.

Bundesarchiv
Den Spatenstich für die erste Autobahn Österreichs nahm Adolf Hitler höchstpersönlich vor

„Hitler setzte alles daran, den Ausbau zügig voranzubringen“, erzählt Wallner. Vor 15.000 Arbeitern kündigte der Diktator vollmundig die Fertigstellung der Autobahn von Salzburg nach Wien innerhalb von nur drei Jahren an. Doch statt zum Straßenbau wurden junge Männer in den folgenden drei Jahren an mehreren Fronten in den Tod geschickt. Die Westautobahn blieb von 1942 bis 1958 ein Rumpfstück von 16,8 Kilometern Länge zwischen Walserberg und Salzburg Nord.

Ein Grund dafür war auch, dass unmittelbar nach dem Krieg die große Not in der Bevölkerung dominierte, weshalb Unmengen an Baumaterial, etwa Bauholz zum Einheizen, entwendet wurden. Die Behörden hatten große Mühe, dieser oft praktizierten freien Entnahme von Kiess, Steinen oder Eisen einen Riegel vorzuschieben. Zudem verlangten die Sowjets, dass die Republik die geplante Trasse – als ehemals deutsches Eigentum – teuer ablösen muss.

Neustart für die Westautobahn
Ab 1954 – die Zeit des Wirtschaftswunders war da und das Veto der sowjetischen Besatzer gegen den Weiterbau weg – konnten die Arbeiten an der Westautobahn fortgesetzt werden. Drei Milliarden Schilling aus dem außerordentlichen Staatshaushalt waren bis 1961 budgetiert. Das von der SPÖ geführte Verkehrsministerium und das von der ÖVP geführte Handels- und Wiederaufbauministerium teilten sich die Kosten jeweils zur Hälfte auf.

Allerdings wurde die Trassenführung etwas geändert. Die Reichsautobahn sollte ursprünglich bis nach Vösendorf (Bezirk Mödling) verlaufen und vom Süden nach Wien führen. „Der Grund dafür war, dass die Deutschen ihre Rüstungsgebiete miteinander verbinden wollten und deshalb wollte man quer durch Österreich eine Verbindung nach Wiener Neustadt“, erklärt der Historiker. Doch mit der Neuplanung war nun auch eine Westeinfahrt vorgesehen.

Fleckerlteppich von West nach Ost
Die Bauarbeiten starteten allerdings im Westen. „Gebaut wurde je nachdem, wie viel Geld da war, und die schwierigsten Abschnitte wurden tunlichst aufgespart“, sagt Wallner. Die Abschnitte im Flachland ohne Brückenkonstruktionen wurden somit vorgezogen. Am 26. April 1958 wurde dort auch als erster neuer Abschnitt ein 23,9 Kilometer langes Segment zwischen Salzburg-Nord und Mondsee freigegeben.

Fotostrecke
Österreichische Bauzeitung
Eröffnung der Autobahnteilstrecke von St. Christophen nach Pöchlarn am 3. Dezember 1958 durch Bundesminister Bock
Österreichische Bauzeitung
Nachdem das Band durchschnitten war, folgte die offizielle Verkehrsfreigabe der neuen Autobahn
Österreichische Bauzeitung
Eröffnungsfahrt am 29. August 1959
Sammlung Martin Wallner
Archiv Kohout
Autobahntrasse bei St. Christophen unter Verkehr 1959
Sammlung Martin Wallner
Autobahn St. Christophen – St. Pölten 1967
Privatarchiv Johann Kubitschka
Wildunfall in Altengbach 1962
Heimatmuseum Pressbaum
Bundesminister Bocks Wagen verlässt den Eröffnungsplatz in Pressbaum Richtung der Auffahrt zur Westautobahn
Heimatmuseum Pressbaum
Die Pfalzaubrücke bei Pressbaum nach ihrer Fertigstellung 1964
LPD NÖ
Übergabe zweier Streifenwagen am Wiener Rathausplatz
ABM Pressbaum
Eröffnungsfahrt am 13,6 km langen Steilstück von Wien-Auhof nach Pressbaum auf provisorischer Asphaltdecke
MA53
Lainzer Tiergarten mit Westeinfahrt Auhof 1964

Von da an erhielten die motorisierten Österreicher und ihre Mitfahrer fast im Jahrestakt ein neues Teilstück. Viele Jahre lang glich die Strecke einem Fleckerlteppich, Autobahn und Bundesstraßenabschnitte wechselten sich ab. Der Wienerwald mit fünf Talübergänge – wobei jener bei Großram kurzfristig sogar die höchste Autobahnbrücke Europas war – kam zum Schluss.

Trotz der luftigen Höhen war das Thema Arbeitssicherheit noch ein Fremdwort. Die Arbeiter trugen teils noch Wehrmachtsgewänder. „Das war erst zehn Jahre nach dem Krieg“, betont Neumann: „Wenn der schöne Schuh kaputt war, dann hat man ihn zum Arbeiten angezogen.“ Einen Helm gab es nur für Mineure beim Tunnelbau. Auf den Brücken lief man hingegen ohne Sicherung herum. „Man hat aufeinander aufgepasst.“

Erste-Hilfe-Bier bei Arbeitsunfall
Tödliche Arbeitsunfälle gab es dennoch so gut wie nie – dafür schwere Verletzungen etwa durch rückschlagende Seilwinden, die Mitarbeiter trafen. „Auch Quetschungen waren gang und gäbe“, weiß Neumann aus eigener Erfahrung. Weil ein Bagger eine Schalung übersah, flog er einmal mit einem Betonkübel durch die Luft. „Die Kollegen mussten mir die Finger aufbiegen, so fest hab ich mich an den Kübel gekrallt“, sagt Neumann, „aber damals hast du ein Flascherl Bier bekommen und der Polier meinte nur, ruh dich zwei Stunden aus.“

Neumann, der aus der Region kommt, war unter seinen Kollegen eine Ausnahme. Die Bau-Arbeitsgesellschaften des Autobahnbaus warben ihr Personal größtenteils aus den weit entfernten Gebieten der Steiermark, dem Burgenland und Kärnten an. „Die Steirer waren die Kraftlackl, die Burgenländer die Artisten und die Kärntner die Ingenieure“, erinnert sich Neumann.

Für Einheimische waren freie Stellen selten, nur einige regionale Gastwirte, Zimmervermieter, Handwerker und Gewerbebetriebe erhielten von den Baufirmen kleinere Aufträge. „Das war auch Absicht“, erzählt Wallner. Denn die Firmen wollten, dass sich die Mitarbeiter von Montag bis Freitag voll auf die Arbeit konzentrieren können. Zudem konnten Einheimische teilweise mehr Gehalt verlangen, weil sie in Wien Alternativen fanden.

Alexander WagnerCC BY-SA 3.0
Die Westautobahn verläuft 292 Kilometer von Wien-Auhof bis zum Grenzübergang Walserberg

Einer der wenigen und laut Wallner wichtigen Betriebe, die aus Niederösterreich kamen, war übrigens Doka. Denn der Brückenbau durch den Wienerwald sei nur durch den Einsatz moderner Gerüst- und Schalungstechnik möglich gewesen. Das Amstettner Unternehmen hatte sich ab 1956 auf Schalungstechnik spezialisiert. Aus dem Ausland hätte man das Material damals nur schwer bekommen, „weil es darauf sehr hohe Einfuhrzölle gab“, weiß Wallner.

Doch am 22. Dezember 1966 war all das vergessen. Mit der feierlichen Eröffnung der Strecke zwischen Pressbaum und Wien war der Weg in den Westen frei, der letzte größere Bauabschnitt der ersten Autobahn Österreichs vollendet.

Bauskandal und Straßensperre
Bereits wenige Monate vor der Eröffnung überschattete allerdings ein Bauskandal die Westautobahn. Beim Autobahnteilstück von Oed nach Amstetten über den Strengberg, das erst Ende 1965 für den Verkehr freigegeben worden war, kam es infolge von mangelhafter Bauausführung zu Fahrbahnsenkungen. „Durch den Frost hatte sich die Asphaltdecke aufgestellt“, erzählt Wallner, riesige Löcher waren die Folge. „Der Abschnitt war absolut unpassierbar.“

Im Zuge der Ermittlungen wurden Preisabsprachen, Amtsmissbrauch und Beamtenbestechung aufgedeckt. Im Unterbau wurde billiges Material eingebracht. Die Autobahn musste daraufhin im Februar gesperrt und aufwendig saniert werden. Unter anderem wurde der zuständige Sektionschef verurteilt, zudem gab es mehrere Geldstrafen.

Der Lückenschluss
Durchgehend von Wien nach Salzburg lässt sich die Westautobahn – die 292 Kilometer lang ist – erst seit 12. Mai 1967 befahren, als die letzte Lücke zwischen Amstetten Ost und Amstetten West feierlich geschlossen wurde. Zuvor hatte der geologische Untergrund den Planern mehrmals einen Strich durch die Rechnung gemacht. Anstatt sich wie bisher fast einen Tag durch viele, viele Orte zu mühen, konnte man nun innerhalb weniger Stunden von Wien nach Salzburg fahren.

Damit kehrte auch in den Ortschaften entlang der Autobahn wieder etwas mehr Ruhe ein. In Pressbaum hatte sich etwa mit der Eröffnung des Autobahnzubringers Richtung Salzburg fast ununterbrochen eine Fahrzeugkolonne durch den Ort gestaut. „Damals gab es noch keine Zebrastreifen, manchmal sind wir eine viertel Stunde gestanden und konnten nicht über die Straße gehen“, erinnert sich Wallner.

Von London nach Istanbul
„Je mehr Straße, desto mehr Verkehr“, ergänzt Neumann ein altes Sprichwort, das sich bis heute hält. Denn bereits ab 1955 war Österreich in die Europastraße 5 eingebunden, die von London nach Istanbul reicht. „Da war die Autobahn noch gar nicht gebaut“, fügt Wallner an. Deshalb stauten sich nicht nur Einheimische auf der Bundesstraße durch die Orte, sondern auch der internationale Fernverkehr.

Fotostrecke
GarfieldairlinesCC BY-SA 3.0
Der Knoten Steinhäusl
Privat

ariannesmidtCC BY-SA 3.0
Von der Westautobahn kann man auch so manche Sehenswürdigkeit sehen, etwa das Stift Melk
Privat
In Niederösterreich verläuft die A1 von St. Valentin bis in die Bundeshauptstadt
Linie29CC BY-SA 3.0
Das Verkehrsaufkommen auf der Westautobahn hat sich seit ihrem Bau enorm erhöht
Karl GruberCC BY-SA 3.0
Die Brücken – wenn auch saniert – stehen seit ihrem Bau

Wobei: So stark motorisiert wie heute war Österreich in den ersten Jahren der Autobahnära natürlich noch nicht. 1971 passierten pro Tag durchschnittlich 14.265 Kraftfahrzeuge die Zählstelle Walserberg. Bis 2017 erhöhte sich das Messergebnis um rund 270 Prozent auf 52.700. Zum Vergleich: Die Zahl der in Österreich zugelassenen Kfz ist im selben Zeitraum um 190 Prozent gestiegen, die der Gesamtbevölkerung um 17,3 Prozent.

Da die A1 die wichtigste West-Ost-Verbindung im österreichischen Straßennetz darstellt, wurden laufend Teilstücke von der Asfinag auf sechs Fahrspuren erweitert. Ziel war ein sechsstreifiger Ausbau zwischen dem Knoten Steinhäusl und dem Knoten Voralpenkreuz. Mit Abschluss der Arbeiten an der Sanierung und Verbreiterung des Abschnitts von Matzleinsdorf bis Pöchlarn wurde dieses Projekt Ende April 2018 abgeschlossen.

Regionsring durch den Wienerwald geplant
Die Westautobahn bildet zudem mit anderen Schnellstraßen und Autobahnen einen Teil des Regionenrings um Wien. Dieser wurde bereits 1958 vom Nationalrat beschlossen. Während der Ring heute über Krems und St. Pölten führt, dachte man ursprünglich daran, den Verkehr bei Korneuburg über eine Brücke nach Klosterneuburg und weiter durch den Wienerwald bis nach Steinhäusl zu leiten. „Eine sehr kühne Idee, die es aber tatsächlich gab“, fügt Wallner hinzu. Statt des Lobautunnels war übrigens eine Brücke geplant.

Neben der Westautobahn gibt es in Niederösterreich vier weitere höchstrangige Verkehrsstraßen: Die Südautobahn (A2) wurde zwischen 1962 (Knoten Vösendorf) und 1985 (Zöbern) gebaut, die Ostautobahn (A4) folgte in den Jahren 1982 (Schwechat) bis 1991 (Bruck an der Leitha). Im gleichen Jahr begann der Bau der Südostautobahn (A3) auf niederösterreichischem Gebiet (Pottendorf), die bis 1996 bis Guntramsdorf verlängert wurde. Am jüngsten ist die Nordautobahn (A5), die in zwei Etappen zwischen 2007 und 2019 von Wien nach Drasenhofen errichtet wurde.
30.05.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
A1: Brüchige Lebensader nach Hitlers Plänen
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#50
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
„Gäste“ übernehmen Jobs, die keiner will
1654273548431.png

Durch den Wirtschaftsaufschwung in den 1960er-Jahren werden dringend Arbeitskräfte benötigt, vor allem im Niedriglohnbereich. Man warb im Ausland intensiv um „Gastarbeiter“. In der Glanzstofffabrik St. Pölten war das zeitweise jeder Zweite.
Online seit heute, 17.22 Uhr
Teilen
„Ich habe Österreich weder gekannt noch gewusst, wo es liegt“, erzählt Hidir Firat, der heute in St. Pölten lebt. Trotzdem entschied er sich 1967, seine Heimat in Anatolien (Türkei) zu verlassen. Der Grund: In seinem Ort, eine Stadt mit 200.000 Einwohnern, gab es nur eine Zuckerfabrik, die pro Jahr etwa 50 Mitarbeitern drei Monate lang Arbeit bot.

Im Gegensatz dazu stand Österreich, wo Anfang der 1960er-Jahre erstmals Vollbeschäftigung erreicht wurde. Trotzdem suchten die Unternehmen händeringend nach weiteren Arbeitskräften – vor allem in der Industrie, dem Baugewerbe und im Tourismus. „Die Nachfrage konnte mit Einheimischen nicht mehr gedeckt werden“, erzählt die Soziologin Anne Unterwurzacher von der Fachhochschule St. Pölten.

Politisches Tauschgeschäft
In den Weihnachtsfeiertagen 1961 überschrieben Wirtschaftskammer-Präsident Julius Raab und ÖGB-Vorsitzender Franz Olah – quasi im Alleingang – ein Abkommen, das neben der Stabilisierung von Löhnen und Preisen erstmals auch die gezielte Rekrutierung von „Gastarbeitern“ für den Arbeitsmarkt vorsah. Sie gaben damit den Startschuss für die Arbeitsmigration nach Österreich.

Archiv WKÖ
Vorsprechende Arbeiter vor der Anwerbekommission in Istanbul 1970

Durch bilaterale Abkommen und an Ort und Stelle eingerichtete Büros sollte die Anreise und die Einteilung der Arbeitskräfte nach einem genau definierten System organisiert werden. So sollten die Arbeiter – laut Raab-Olah-Abkommen – großteils männlich sein, ohne ihre Familien nur für kurze Beschäftigungsverhältnisse nach Österreich reisen und auf jeden Fall wieder in ihr Heimatland zurückkehren.

Nach einem Rotationsprinzip sollten sie möglichst bald wieder in ihre Heimatländer gehen und bei Bedarf durch neue ausländische Arbeitskräfte ersetzt werden. Um der Gefahr der Lohnkonkurrenz vorzubeugen, wurden ausländische Arbeitskräfte zu denselben Lohn- und Arbeitsbedingungen beschäftigt. Darüber hinaus waren sie bei Stellenabbau zuerst zu kündigen.

Erste Anwerbeversuche in Spanien
Die ersten Anwerbeversuche – vor allem für die Bau- und Gastwirtschaft – gerieten aber zum Misserfolg: Für die Arbeitskräfte aus Spanien, das 1961 das erste Anwerbeabkommen unterzeichnete, war das Lohnniveau in Österreich wenig verlockend. „Der Anreiz war nicht so groß“, sagt die Wissenschafterin, „weshalb viele lieber nach Deutschland oder in die Schweiz gingen.“

Archiv WKÖ
Eine Auflistung aller „Gastarbeiter“, die beim 31. „Türkentransport“ Anfang 1965 nach Österreich kamen

Erst das 1964 mit der Türkei abgeschlossene Abkommen wurde zum Erfolg. Noch im selben Jahr nahmen die ersten „Gastarbeiter“ in der Glanzstoff-Fabrik St. Pölten ihre Arbeit auf. Weitere „Hotspots“ waren Mödling, Baden, Berndorf oder Wiener Neustadt, aber auch Herzogenburg und eine Textilfabrik in Himberg (Bezirk Bruck an der Leitha). „Und überall dort, wo die Landesenergieversorger NEWAG und NIOGAS ihre Netze ausgebaut haben“, ergänzt der Betriebsseelsorger der Diözese St. Pölten, Josef Gruber.

„Ein bisschen lügen“
„Am türkischen Arbeitsamt konnte man sich damals aussuchen, ob man in Deutschland, Holland, Belgien oder Österreich arbeiten will“, erinnert sich Arslan Kemal, der auch aus Anatolien stammt. Auf einer Liste standen alle möglichen Berufe, nach denen gerade gesucht wurde. „Viele waren aber Bauern, deshalb musste man ein bisschen lügen.“ Bei den medizinischen Kontrollen habe er sich aber „wie ein Tier“ gefühlt, so wurde das Gewicht gewogen und die Zähne untersucht.

Privat
Die Einreise wurde nur gestattet, wenn keine sanitätspolizeiliche Bedenken vorlagen

Der Vorteil für Österreich: Die medizinischen Voraussetzungen waren in Deutschland wesentlich strenger und wegen der regen Nachfrage kamen viele der „Gastarbeiter“ nur auf Wartelisten. Deshalb wurde Österreich oft als Zwischenstation genutzt. In Österreich musste man hingegen unbescholten sein und eine berufliche Eignung mitbringen. Die ersten „Gastarbeiter“, die etwa am Südbahnhof in Wien ankamen, wurden noch mit Blasmusik empfangen.
1966 wurde ein weiteres Abkommen mit Jugoslawien geschlossen, 1970/71 folgte ein Probeabkommen mit Tunesien, „das aber nicht offiziell abgeschlossen wurde“, sagt Unterwurzacher. Damit sorgten die „Gastarbeiter“ auch für viele neue Jobs, die den Einheimischen zugutegekommen seien: „Ohne Einwanderer wäre die Arbeitslosigkeit unter Österreichern damals viel höher gewesen“.

Schichtbetrieb und Akkordlohn
Wobei den Österreichern meist die „besseren“ Büro- und Facharbeiterarbeitsplätze zukamen, während den Migranten überwiegend nur Hilfstätigkeiten oder unbeliebte Arbeitsplätze offenstanden. Die Arbeit war mit Schichtbetrieb, Akkordlohn und Fließbandarbeit sehr anstrengend und schmutzig, in der Industrie mitunter gesundheitsgefährdend.

Besonders hart sei die Arbeit in den Chemiefabriken gewesen. „Manche sind nach sechs Stunden ganz weiß rausgekommen“, weiß Kemal, der in Baden bei einem Betrieb arbeitet, der Dichtungen herstellte, „das war ein giftiges Klima“. Zu trinken bekamen die Arbeiter damals Milch, und trotzdem erhielten einige von ihnen später die Diagnose Krebs.

Gesundheitliche Ausfälle
„Jeden Tag sind vier, fünf Leute mit Patzaugen nach Hause gegangen“, erinnert sich auch Abdelhamid Essid, der 1971 aus Tunesien kam, an seine Zeit in der Glanzstoff-Fabrik, „dann mussten die anderen die Arbeit auch noch mitmachen“. Oft waren nur der Chef und der Vorarbeiter aus Österreich, alle anderen aus dem Ausland. Erst 1984 sei in der Halle eine Klimaanlage und ein Ablüftung eingebaut worden.

Fotostrecke mit 6 Bildern
ORF
Den Gastareitern standen überwiegend nur Hilfstätigkeiten oder unbeliebte Arbeitsplätze offen
ORF
Es waren meist jene Jobs, die Einheimische nicht machen wollten

ORF
Besonders viele Gastarbeiter waren auch in der Industie gefragt

ORF

ORF

ORF

In der Anfangsphase kam es deshalb immer wieder vor, dass zahlreiche „Gastarbeiter“ nach kurzer Zeit der Arbeit fernblieben, auf andere Arbeitsplätze wechselten oder ins Ausland gingen. „Die Leute wollten besser verdienen“, sagt Firat. Zudem seien immer wieder auch gezielt ausländische „Abwerber“ nach Österreich gekommen, erzählt die Soziologin, so sei etwa die Olympiabaustelle in München „ein Magnet“ gewesen.

Reisepässe eingezogen
Die Firmen beklagten sich über die „Vertragsbrüchigkeit“ und forderten die Anwerbepauschalen von der Wirtschaftskammer zurück. In einigen Fällen behielten die Firmen deshalb sogar die Reisepässe der Gastarbeiter ein, „bis sich die Botschaft und der Betriebsrat eingeschaltet haben“, sagt Gruber, und verweist u.a. auf die Glanzstoff-Fabrik. Auch über Fehlanwerbungen – etwa wegen vorliegender Schwangerschaft oder mangelnder Eignung – ist in den Akten zu lesen.

Archiv WKÖ
Ein Betrieb beschwert sich über die ihm zugewiesenen Fremdarbeiter

In dieser Phase versuchten Firmen wie die Glanzstoff-Fabrik zunehmend ihr Glück auf eigene Faust und schickten Personalrecruiter etwa in die Türkei. Vom Betriebsarzt wurden sie dabei gleich vor Ort untersucht und auf Listen aufgenommen. „Da wurden 200, 300 Leute zusammengetrommelt, und am Ende nur ein paar auch ausgesucht“, kann sich Kemal noch erinnern.

Rotationsprinzip scheitert an Unternehmen
In der Praxis hatte das zwischen Raab und Olah ausverhandelte Abkommen aber auch Tücken. Denn das vorgesehene Rotationsprinzip scheiterte nicht zuletzt an den Arbeitgebern, „für die es kontraproduktiv war, ständig neue Arbeiter anzulernen“, erklärt Unterwurzacher. So wurden die öffentlichen Vermittlungsstellen vor allem durch Mundpropaganda umgangen, um bereits eingeschulte „Gastarbeiter“ länger beschäftigen zu können.

Statt der Anfang der 1960er-Jahre anvisierten 47.000 „Gastarbeiter“ waren bis zum Ende des Jahrzehnts gut 230.000 Arbeitskräfte aus den Partnerländern in Österreich beschäftigt. Die meisten von ihnen reisten mit Touristenvisa ein, die sich in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs problemlos in Beschäftigungsbewilligungen umwandeln ließen.

Die zeitliche Begrenzung des Aufenthalts war damit zu Beginn der 1970er-Jahre kein Thema mehr, stattdessen ließen sich immer mehr der angeworbenen Arbeiter in Österreich nieder. Familien wurden nachgeholt, Kinder geboren und Existenzen in der neuen Heimat aufgebaut. Dass Österreich aus eigenem Willen und auf Grund eigener Interessen de facto zu einem Einwanderungsland geworden war, wurde aber konsequent ausgeblendet.

Stadt St. Pölten
Entwicklung der Bevölkerung mit türkischer, (ex-)jugoslawischer und tunesischer Staatsbürgerschaft in St. Pölten

Keine Arbeit für Frauen
Arbeiten durften aber praktisch nur die Männer, Frauen nicht. „Man hat sich immer beschwert, dass sie sich nicht integrieren, aber man hat sie auch nicht arbeiten lassen“, betont Unterwurzacher. Erst nach zwei Jahren konnten Frauen um Arbeit ansuchen, „aber das war auch nicht sicher“, sagt Kemal.

Zudem erschwerte das sogenannte Ersatzkräfteverfahren die Jobsuche. Denn sofern es für eine Stelle einheimische Bewerber gab, mussten diese genommen werden. So kam es, dass eine junge Türkin in Österreich zwar erfolgreich ihre Friseurlehre abschloss, danach aber keinen Job fand, weil es jeweils genügend österreichische Friseurinnen gab.

Privat
Die jährliche Verlängerung der Arbeitserlaubnis vom Magistrat St. Pölten

Anwerbestopp in den 1970er Jahren
Mit dem „Erdölpreisschock“ begann in Österreich ab 1973 eine Phase der Rezession, die Stimmung auf dem heimischen Arbeitsmarkt schlug um. „Das war der Knackpunkt, auch weil weniger Leute gebraucht wurden“, weiß Unterwurzacher. Mit einem Anwerbestopp versuchte man die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte zu reduzieren und gleichzeitig die bereits in Österreich Beschäftigten wieder zur Rückkehr in ihre Heimatländer zu bewegen.

Zudem wurde die Aufenthaltsgenehmigung an ein aufrechtes Arbeitsverhältnis gekoppelt. „Damit waren die Gastarbeiter gezwungen, jede Arbeit anzunehmen“, erklärt Unterwurzacher. Zudem wurde die neuerliche Einreise erschwert. „Ich habe damals eineinhalb Jahre keinen Urlaub gemacht“, erzählt Firat. Doch die Maßnahme wirkte: Innerhalb von zehn Jahren ging die Zahl der „Gastarbeiter“ – wie von den Gewerkschaften gefordert – um fast 40 Prozent zurück.

Dolmetsch statt Integration
Erst ab 1985 folgte ein erneuter Anstieg der Zuwanderung, vor allem durch die Ostöffnung bzw. den Jugoslawien-Krieg. Am „Gastarbeitermodell“ hielt man bis weit in die 1980er-Jahre fest. Doch eine gesellschaftliche Integration der Arbeiter war in all der Zeit „nicht vorgesehen“, bedauert die Wissenschafterin. So wurden in den Betrieben meist eigene Dolmetscher eingesetzt, anstatt den Mitarbeitern Deutschunterricht anzubieten.


Josef Gruber
Ab den 1990er-Jahren wurden Feste der Begegnung organisiert

Die ersten „Gastarbeiterkinder“ erhielten auch keine sprachliche Betreuung in den Schulen. Oft war das nur der Eigeninitiative von engagierten Lehrkräften zu verdanken. Ab Anfang der 1970er-Jahre wurden zwar spezielle Fördermaßnahmen als Schulversuche eingeführt, doch erst zwei Jahrzehnte später in den Lehrplänen aller Pflichtschulen verankert. Mit Eltern, die anfangs die Sprache kaum beherrschten und von morgens bis abends arbeiteten, waren viele Kinder weitgehend auf sich alleine gestellt.

Ab in die Sonderschule
Das Risiko, dadurch in die Sonderschule überstellt zu werden, war für die Nachkommen der Zugewanderten bis weit in die 1990er-Jahre hoch. In der Gemeinde Herzogenburg (Bezirk St. Pölten) wurden etwa in einem Schuljahr von 37 türkischen Pflichtschülern 35 in die Sonderschule eingeschult. „Nur weil sie nicht gut genug Deutsch gesprochen haben“, weiß Gruber.

Die geringe soziale Durchlässigkeit und die Folgen des „Gastarbeitersystems“ – unsichere Aufenthaltsperspektiven, Leben im Dauerprovisorium, beengte Wohnverhältnisse und die jahrelang fehlenden Integrationsverhältnisse – wirkten sich nachteilig auf die Bildungswege der Kinder mit Migrationshintergrund aus.

Steigende Angst vor „Fremden“
Hinzu kam, dass sich ein Großteil der österreichischen Gesellschaft durch die „Fremden“ im eigenen Land bedroht fühlte. Alte und neue xenophobe Stereotypen prägten den öffentlichen Diskurs, es mangelte an Konzepten für ein gelungenes Zusammenleben und an einem Austausch zwischen den Bevölkerungsgruppen. In den 1990er-Jahren initiierte Gruber deshalb in St. Pölten Feste der Begegnung.
Josef Gruber
Die „Gastarbeiter“ fühlten sich damit zunehmend integriert
Doch im Alltag waren „Gastarbeiter“ immer wieder mit Rassismus konfrontiert. „Wir wollten einmal ein Bier trinken gehen, und der Besitzer hat uns rausgeschmissen“, erzählt Firat. Als er die Polizei rief, meinten die Beamten nur: „Wenn der Lokalbetreiber nicht will, kann man nichts machen.“

Ein Wandel bei der Integration
Erst im Laufe der 1990er-Jahre veränderte sich die Einstellung zum Thema Integration, als die Politikgestaltung allmählich von den Sozialpartnern ins Innenministerium verlagert wurde. Die Integrationspolitik hat sich seit damals – als sie quasi erst erfunden werden musste – enorm verändert und entwickelt. Viele Fehler der damaligen Politik, etwa die fehlende Weiterbildungsperspektiven für die Zuwanderer der ersten Generation, spiegeln sich bis heute wieder.

„Wir tun uns aber immer noch schwer mit dem Thema Mehrsprachigkeit umzugehen und haben große Vorbehalte“, meint Unterwurzacher, die dieses Thema in ihrer Dissertation untersuchte. Zudem gelte die heimische Migrations- und Integrationspolitik europaweit nach wie vor als sehr restriktiv, etwa beim Thema Staatsbürgerschaft.

Dabei bieten gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ausländische Arbeitskräfte Potenzial. Denn im Rückblick lässt sich heute sagen: „Ohne ‚Gastarbeiter‘ hätte es den Boom in den 1960er- und 1970er-Jahren nicht gegeben“, sagt Unterwurzacher. Die heimische Wirtschaft hätte sich in nicht in dem Ausmaß entfalten können, wie sie es tat.
03.06.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
„Gäste“ übernehmen Jobs, die keiner will
 
Zuletzt bearbeitet:

josef

Administrator
Mitarbeiter
#51
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Gemeindereform: Zweckehen und Scheidungen
1654842393556.png

Bis in die 1960er-Jahre herrschten in den Gemeinden „abenteuerliche Strukturen“. 1965 beschloss das Land, die Zahl der Gemeinden drastisch zu reduzieren. Mehr als 200 wurden zwangsfusioniert, bei manchen endete der Schritt mit einer Scheidung.
Online seit heute, 6.56 Uhr
Teilen
1. Jänner 1968: Von bisher 700 Einwohnern wuchs die Gemeinde Kirchberg am Wagram (Bezirk Tulln) mit dem Jahreswechsel auf mehr als 3.100 Menschen an. Gleichzeitig lösten sich neun weitere Gemeinden auf. „Wir sind interessiert, dass die Gemeinde Kirchberg weiterhin das wirtschaftliche Zentrum des Bezirkes bleibt“, begründete der damalige Bürgermeister Johann Damböck die freiwillige Fusion.

Die neun anderen nunmehrigen Katastralgemeinden, die zwischen 127 und 432 Einwohner hatten, erhofften sich vor allem finanzielle Vorteile. „Wir haben als Gemeindeeinkommen nur die Grundsteuer. Die finanziellen Anforderungen sind derart groß, dass wir das in Zukunft nicht mehr schaffen können“, begründete der Bürgermeister von Mitterstockstall, Johann Daschütz, den Schritt.

ORF
Die Zahl der Einwohner der späteren Großgemeinde Kirchberg am Wagram vor der Fusion

In den 1960er-Jahren begann für die Gemeinden eine neue Ära. Die Zeit des Wiederaufbaus war nun auch in Niederösterreich weit fortgeschritten. Zudem beschloss der Bund 1962 die Autonomie der Gemeinden. „Das war ein großer Einschnitt, damit konnten sie ab sofort selbst über ihre wirtschaftliche Entwicklung entscheiden“, erklärt Historiker Franz Oswald.

Für Autonomie fehlte Struktur
Das Problem: Die Gemeinden bzw. deren Struktur waren dafür nicht gerüstet. In Niederösterreich gab es damals 1.652 Gemeinden, davon hatten 1.300 weniger als 1.000 Bewohnerinnen und Bewohner und 72 sogar weniger als 100 Einwohner. Die meisten waren aber reine Verwaltungseinheiten, die gar keine eigene Gemeindeverwaltung hatten, also einen Amtsleiter bzw. Sekretär.

In einem Sonderdruck der Amtlichen Nachrichten wurde die Gemeindezusammenlegung so begründet: „Viele dieser Klein- und Kleinstgemeinden waren so finanzschwach, dass sie mit eigenen Mitteln nicht einmal den ordentlichen Haushalt ausgleichen konnten, geschweige denn, dass man in solchen Gemeinden an die Errichtung von modernen kommunalen Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Kanalisation, Wasserleitungen, Sportstätten usw. denken konnte.“

„Abenteuerliche Verhältnisse“
Die Amtsstunden waren tatsächlich noch auf wenige Stunden beschränkt – und zwar pro Woche. Stattdessen hätten oft Lehrer oder Gendarmeriebeamte die Gemeindeverwaltung – nebenbei – mitgemacht und auch die Gemeindekasse geführt. „Das waren abenteuerliche Verhältnisse“, erzählt Oswald, „aber ohne jegliche Form, wirklich zu gestalten“. Die Struktur hätte geradezu nach einer Reform „geschrien“.

Ein Extrembeispiel war der Bezirk Horn, der vor der Reform aus 134 Gemeinden und 156 Katastralgemeinden bestand. Nur drei Gemeinden (Horn, Eggenburg und Gars) hatten mehr als 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Nur sechs verfügten über einen eigenen Amtsleiter. In einigen Kleinstgemeinden scheiterte man sogar an der Aufstellung der erforderlichen neun Gemeinderäte (Anm.: Heute gibt es im Bezirk nur noch 19 Gemeinden).

1.000 Einwohner pro Gemeinde als Ziel
Ab 1964 sollte die Gemeindestruktur deshalb auf moderne Beine gestellt werden. Der Landtag beschloss dafür zum einen eine neue Raumordnung, zum anderen eine Änderung der Gemeindeordnung, wodurch ab sofort Gemeindezusammenschlüsse möglich waren. Das Ziel waren zumindest 1.000 Einwohner pro Gemeinde. In den beiden Landtagsfraktionen ÖVP und SPÖ war man sich über diesen notwendigen Schritt einig, betont der Historiker.

ORF
Mit deser öffentlichen Kundmachung wurden Zwettl und 60 weitere Orte zu einer Großgemeinde fusioniert

Doch hinter den Kulissen waren nicht alle Beteiligten von Beginn an überzeugt. So sah das etwa Landeshauptmann Leopold Figl, in dessen Amtszeit die Grundsatzentscheidung für die Zusammenschlüsse fiel, zunächst sehr skeptisch. Figl fürchtete vor allem um den Verlust zahlreicher ÖVP-Bürgermeister und um seine politische Basis. Doch am Ende setzten sich die „Reformer“ durch, wie Oswald betont.

Finanzielle „Zuckerl“
Die Gemeinden wurden wiederum mit finanziellen Zuckerln gelockt. Gemeinden mit mehr als 1.000 Einwohnern bekamen vom Bund mehr Geld aus dem Finanzausgleich. Zugleich wurden diese Gemeinden bei Bedarfszuweisungen des Landes „in erster Linie berücksichtigt“ und die Beihilfen, die nicht mehr zurückbezahlt werden mussten, wurden verdoppelt, wie es im Antrag an den Landtag hieß.

Die ersten Früchte gab es bereits mit Jahresbeginn 1965: Als erste neue Großgemeinde entstand Randegg (Bezirk Scheibbs) – aus vormals acht Kleingemeinden. Doch nicht überall erfolgten die Zusammenschlüsse so schnell und reibungslos. Vielmehr lösten die Pläne quer durch das Land teils heftige Diskussionen aus, erinnert sich Oswald, vor allem dort, wo ÖVP- und SPÖ-Gemeinden „heiraten“ sollten.

Neue Bildungsstruktur
Parallel zur kommunalen Zusammenlegung wurde auch eine Reform des Bildungswesens umgesetzt. Konkret wurden damals 700 ein- und zweiklassige Volksschulen geschlossen. Denn obwohl die Hauptschule für alle zehn- bis 14-Jährigen schon 1927 eingeführt worden war, gab es gerade in den Dörfern noch immer ein- und zweiklassige Schulen, in denen Kinder mehrerer Altersstufen gemeinsam unterrichtet wurden.
Gleichzeitig wurde das Netz an Hauptschulen kräftig ausgebaut, zudem Gymnasien und Fachschulen an zentralen Orten etabliert. Laut Oswald war das nur deshalb möglich, weil sich das Einzugsgebiet für die Schulen vergrößert hatte. Besonders kreativ war man etwa in der heutigen Gemeinde Ardagger (Bezirk Amstetten). Als es darum ging, wo die neue Schule gebaut werden sollte, wurde zwischen den vier Ortsteilen mit dem Lineal einfach ein Schnittpunkt errechnet.

ORF
Durch die Zusammenlegungen wuchs auch die Zahl der Städte mit mehr als 10.000 Einwohnern – um sechs auf 20

Die Landesspitzen „nutzten jede Veranstaltung, um dafür zu werben“. Schließlich ging es auch darum, „den Leuten eine Zukunft am Land zu bieten“, sagt Oswald. Denn in den Jahrzehnten davor war Niederösterreich laut Volkszählung von einer stetigen Abwanderung konfrontiert – „weil die Gemeinden nicht imstande waren, die notwendigsten Bedürfnisse zu erfüllen“. Erst ab 1971 sollte es wieder bergauf gehen.

Weinende Frauen mit Kindern
In dieser Phase war vor allem Landeshauptmann Andreas Maurer, der 1966 sein Amt antrat, gefordert, erzählt Oswald, der damals auch dessen Pressesprecher war: „Ganze Ortsdelegationen mit verzweifelten Bürgermeistern und oft weinenden Frauen sind aufmarschiert und haben für die Selbstständigkeit ihrer Gemeinde gekämpft. Vergebens.“ Mit der Auflösung des Amtes waren weniger finanzielle Einbußen als Prestigeverlust verbunden. Auch für die Bürgermeistergattinnen.

Trotz allem Widerstand gelang es, dass innerhalb weniger Jahre die Zahl der Gemeinden von 1.652 auf 814 halbiert wurde. Ein großer Schritt, doch das Ziel, dass alle Gemeinden mindestens 1.000 Einwohner hatten, wurde nicht ganz erreicht. Auf Landesebene bildeten sich daraufhin zwei Lager, sagt Oswald: „Jene, die gesagt haben, das ist genug, und die anderen, die auch die restlichen Kleingemeinden fusionieren wollten.“
Auch hier setzten sich die progressiven Kräfte durch, wobei die Zusammenlegungen nicht mehr freiwillig, sondern durch das Gesetz erfolgten. „Nach einem jahrelangen Diskussionsprozess hat die Regierung gesagt, jetzt ist Schluss, wir legen zusammen“, schildert der Historiker. Am 3. November 1971 beschlosss der Landtag die Zusammenlegung, wodurch die Zahl der Gemeinden auf etwa 550 sank.

Widerstand in dutzenden Gemeinden
Dieser Schritt wurde aber nicht von allen Gemeinden akzeptiert. Die Gegner – etwa 70 Gemeinden – formierten sich in einem Aktionskomitee unter der Führung des Bürgermeisters von Altenwörth (Bezirk Tulln), Hans Knofel (ÖVP), das an Kirchberg am Wagram angegliedert wurde. Weil sie das Gesetz als verfassungswidrig ansahen, wandten sie sich mit einer Beschwerde an das Höchstgericht.

Die Landesregierung setzte unterdessen Kommissäre ein, die die Agenden der einzelnen Gemeinden übernehmen sollten, bis neue Bürgermeister gewählt waren. Doch auch diese Übernahme gelang nicht immer reibungslos, wie in der ehemaligen Gemeinde Tattendorf (Bezirk Baden), die ab 1972 in der zwangsweise gebildeten Großgemeinde Steinfelden aufging. Die Bürgermeister waren davon überzeugt, dass sie nicht mit Gewalt aus ihrem Amt entfernt werden können.

„Das war ein Schlag in die Magengrube“, erzählt der heutige Bürgermeister von Tattendorf, Alfred Reinisch von der Fraktion „Unabhängige Liste Tattendorf“, die damals entstand. Als seit Jahrzehnten bekannter Weinort war die „Identität plötzlich komplett verloren“, der Name wurde aus allen Landkarten gestrichen. Deshalb wurde die Fusion von Beginn an bekämpft – mit Erfolg.

Scheidung nach 16 Jahren
Als eine von wenigen Gemeinden wurde die einstige Zwangsehe hier nach 16 Jahren wieder aufgelöst. Seitdem gehen Blumau-Neurißhof, Günselsdorf, Tattendorf und Teesdorf (jeweils Bezirk Baden) wieder getrennte Wege. „Das ist ein Beispiel, dass Zwang nicht sinnvoll ist.“ Stattdessen gibt es heute eine starke Kooperation mit den Orten, etwa in Verbänden, „und zwar dort, wo es für jede Gemeinde Sinn macht“, betont Reinisch.

Privat
Tattendorf wehrte sich als traditionsreicher Weinort von Beginn an gegen die Zwangsfusion

Ein Weg, den auch der Bürgermeister von Ardagger (Bezirk Amstetten) und Präsident des ÖVP-Gemeindebundes im Land, Johannes Pressl, nur zu gut kennt. Seine Heimatgemeinde – eine zwangsweise Fusionsgemeinde aus ehemals vier Orten – stand auch vor der Trennung, ehe den Orten wieder „ihre Identität“ zurückgegeben worden sei. Heute verfügt die 3.300-Einwohner-Gemeinde wieder über vier Kindergärten, vier Volks- und Musikschulen und vier Dorferneuerungsvereine.

„Keine homogene Gemeinde“
Den damaligen Schritt zur Fusion bezeichnet Pressl zwar als „richtungsweisend“, weil die Gemeinden durch den Bau von neuer Infrastruktur wie Schulen und Kanalisation gefordert waren und auch die Verwaltung „professioneller“ wurde. Trotzdem wurde aus seinen vier Ortsteilen bis heute „keine homogene Gemeinde“, sagt Pressl und betont, dass ein „Zwang – damals wie heute – absolut nicht mit unserem demokratischen Bild übereinstimmt“.

ORF
Ähnlich argumentiert Pressls Pendant, Rupert Dworak, Präsident des SPÖ-Gemeindevertreterverbandes. Die damaligen Politiker hätten „Weitblick“ bewiesen, „weil die Kleinstgemeinden nicht überlebensfähig gewesen wären“. Erst dadurch sei der Grundstein für die Entwicklung des heutigen Niederösterreichs gelegt worden. Mit den 573 Gemeinden gibt es laut Dworak nun „eine Struktur, mit der man gut arbeiten kann“.

Kooperation statt Fusion
Statt Fusion heißt das neue Schlagwort deshalb Kooperation – sowohl bei Projekten als auch in Verbänden, beim gemeinsamen Fuhrpark, Maschinen, beim Winterdienst oder bei der Abrechnung. Ein aktuelles Beispiel ist für Pressl auch die Kleinstkinderbetreuung, „wo es in kleineren Gemeinden oft nicht ausreichend Kinder für eine Gruppe gibt, aber wenn sich zwei, drei zusammenschließen, schon“.

Doch wie vor 50 Jahren sieht Pressl auch aktuell einen „Umbruch“ in den Gemeinden, „aber anders als damals“, konkret durch die digitale Entwicklung. Immer mehr Aufgaben wie die Abgabenverrechnung könnten sogar bezirksweit zusammengeschlossen werden, was „eine bessere Spezialisierung“ ermöglicht, „ohne dass der Bürger etwas merkt“. Zudem gewinnen Kleinregionen an Bedeutung, in denen sich Bürgermeister immer öfter austauschen und abstimmen.

Gemeindegrenzen verblassen
Im Alltag der Bürger würden die Gemeindegrenzen ohnedies eine immer geringere Rolle spielen, ist der Präsident des Gemeindebundes überzeugt. Auch deshalb seien die Hunderten Zusammenlegungen bis 1972 im Alltag der Bürger kaum noch Thema, ergänzt der heutige Bürgermeister von Kirchberg am Wagram, Wolfgang Benedikt, auch wenn „damals schon eine große Emotion dahinter war“.

Damit das so bleibt, sei aber der Ortschef umso mehr gefordert, „überall präsent zu sein“ und alle Katastralgemeinden – sei es im Gemeinderat oder bei Projekten – gut einzubinden. Diskussionen wie damals sind heute beinahe verstummt, nur vor zwei Jahren „ist etwas aufgekommen“, als die beiden Fußballklubs Kirchberg und Altenwörth fusionierten.
10.06.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

Link:
Gemeindereform: Zweckehen und Scheidungen
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#52
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Als Österreich von Moskau abhängig wurde
1655140506550.png

Im August 1968 greift die sowjetische Führung in der Tschechoslowakei hart durch: Der „Prager Frühling“ wird mit Panzern niedergerollt. Österreich reagiert zurückhaltend – auch, weil wenige Tage später erstmals sowjetisches Erdgas in Baumgarten ankommt.
Online seit heute, 18.41 Uhr
Teilen
Termine beim Bundespräsidenten und Bundeskanzler, höchste Sicherheitsvorkehrungen in der abgesperrten Wiener Innenstadt, Tausende Schaulustige. Die offizielle Republik gab sich für diesen Staatsbesuch am 5. Juni 2018 so viel Mühe wie bei kaum einem anderen. Seit Tagen hatte nur ein Thema die Medien dominiert. Immerhin war es ein Besuch bei Freunden: auf der einen Seite Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Bundeskanzler Sebastian Kurz, auf der anderen Russlands Präsident Wladimir Putin.

Anlass für den besonderen Staatsbesuch war ein besonderes Jubiläum, denn 50 Jahre zuvor hatte diese Freundschaft ihren Anfang genommen, zumindest aus wirtschaftlicher Sicht. Damals, im Juni 1968, hatte Österreich seinen ersten Gasliefervertrag mit der Sowjetunion geschlossen – als erstes westliches Land überhaupt. Mehr noch: An diesem Tag hatte die Energieabhängigkeit halb Europas von Moskau seinen Ausgang genommen.

Österreich als „Schlüsselland“ für Moskau
Ein halbes Jahrhundert später sprach Van der Bellen in seiner Rede von einer „Zusammenarbeit, die über die Jahrzehnte ausgezeichnet und für beide Teile zufriedenstellend funktioniert hat“. Sein Amtskollege Putin bezeichnete Österreich als „Schlüsselland“ für die westeuropäische Energieversorgung: „Das Jubiläum symbolisiert die vorteilhafte Zusammenarbeit, die sich bewährt hat, und die Zusammenarbeit wollen unsere beiden Länder auch in der Zukunft stärken.“ Konkret mit einem neuerlichen Liefervertrag der OMV mit der russischen Gazprom. Eine langfristige Entscheidung, denn gelten sollte er bis ins Jahr 2040.
APA/OMV
Gazprom-Chef Alexei Miller und der damalige OMV-Vorstandsvorsitzender Rainer Seele unterschreiben im Vordergrund den Vertrag, Russlands Präsident Putin und sein damaliger österreichischer Amtskollege Sebastian Kurz feiern im Hintergrund mit (v.l.)

,Doch wie kam jener folgenreiche Vertrag 1968 zustande – in einer Zeit, in der die Welt für die meisten Menschen am Eisernen Vorhang endete? Die Wurzeln dafür sind Anfang der 1960er zu finden. Seine Energie bekam Österreich damals in erster Linie durch Kohleimporte. Die Sowjetunion spielte energietechnisch keine Rolle – dorthin wurde vielmehr exportiert. Konkret hatten die Sowjets von Österreich als Teil des Staatsvertrags 1955 zehn Millionen Tonnen Rohöl gefordert, eine Art Reparationszahlung, die binnen zehn Jahren zu leisten sein würde.

Erdgas spielte bis zu diesem Zeitpunkt eine untergeordnete Rolle. Zum Teil entstand es als Nebenprodukt bei der Erdölgewinnung, meist kam aber lediglich „Stadtgas“ zum Einsatz. Diese Form wurde aus Kohlevergasung gewonnen und vor allem bei der Beleuchtung eingesetzt – allerdings war sie vergleichsweise ineffizient und aufgrund ihrer Giftigkeit auch gefährlich.


wikimedia commons
Laternen wurden meist mit Stadt- bzw. Leuchtgas betrieben

Der Run auf das Erdgas
Die Aufschwungsjahre nach dem Krieg brachten dieses System an seine Grenzen. Insbesondere Industrieunternehmen wie der Stahlkonzern Voest erkannten das große Potential von Erdgas. Für Energiekonzerne wurden Gaskraftwerke für Wärme und Strom zunehmend interessant – und auch private Haushalte begannen, mit Erdgas zu heizen. Das alles sorgte für einen bisher nicht gekannten Energiebedarf, nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa.

Die OMV betrieb zwar im Marchfeld neben Ölfeldern auch Gasförderung, doch für das erhoffte Wirtschaftswunder würde diese Inlandsproduktion bei weitem nicht reichen. Verantwortliche der Politik und der staatlichen und staatsnahen Betriebe erkannten, dass Österreichs Wirtschaftsmotor ohne zusätzliches Erdgas abzusterben drohte.

Algerien, Libyen oder die UdSSR?
Deshalb wurden ab 1960 alle Möglichkeiten eines Imports geprüft. Als Optionen wurden Vorkommen in Algerien, Libyen, Kuwait und Saudi-Arabien sowie in den Niederlanden eingestuft – und ab 1964 in zunehmendem Ausmaß jene in der Sowjetunion, wie Marie-Louise Skolud schreibt. Sie hat für ihre Diplomarbeit zum ersten Gasliefervertrag historische Quellen aus dem EVN-Archiv ausgewertet.

Viele Hürden erschwerten in den 1960ern die Verhandlungen: neben den technischen Herausforderung eines Pipelinebaus insbesondere politische Umwälzungen. So befreite sich Algerien in diesen Jahren in einem blutigen Unabhängigkeitskrieg von der französischen Kolonialherrschaft. Gleichzeitig lieferten sich in Österreich die staatliche Mineralölverwaltung (ÖMV) und die Energiegesellschaften der Bundesländer einen Machtkampf, der die Gespräche über einen Import weiter verzögerte.

Kurs auf österreichische Gaskrise
Jährlich 1,7 Milliarden Kubikmeter Erdgas förderte die ÖMV 1964 in Österreich – allerdings konnte diese Produktion laut ÖMV-Generaldirektor Fritz Hoynigg ohne neue Aufschlüsse „nur noch drei bis vier Jahre aufrecht erhalten werden“. 1966 war die Lage bereits so dramatisch, dass ein kurzfristiger – und damit teurer – Liefervertrag mit der Tschechoslowakei abgeschlossen werden musste, um eine akute Gaskrise zu verhindern.

Trotz neuer Aufschlüsse blieb die Inlandsförderung langfristig rückläufig, bestätigte Rudolf Schaffer, der Pressechef der ÖMV, im Jänner 1968. Damals waren die Verhandlungen mit der Sowjetunion auf ihrem Höhepunkt angelangt, „sehr dringend“ benötige man Erdgas von außerhalb. Ernsthafte Alternativen zum sowjetischen Gas gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, alle anderen Verhandlungen waren in einer Sackgasse angelangt.

Hoffnungen auf 50 Prozent Erdgas aus dem Osten
Die Hoffnungen in die Lieferungen aus dem Osten waren enorm – zumindest für damalige Verhältnisse. „Bisher war der inländische Verbrauch zwangsläufig durch die Inlandsförderung begrenzt. Wenn genügend Importgas zur Verfügung steht, wird der Verbrauch steigen“, so Schaffer, „und es kann zu einem späteren Zeitpunkt sein, dass er etwa zu gleichen Teilen aus der Inlandsförderung und dem Import gedeckt wird“. Zum Vergleich: Heute werden etwa 80 Prozent aus Russland importiert, zehn Prozent aus anderen Ländern und nur weitere zehn Prozent kommen aus heimischer Produktion

Die Initiative für den Vertrag mit den Sowjets war 1964 von Österreich ausgegangen. Das Land hatte schon in den Jahren zuvor für westliche Verhältnisse gute Beziehungen zur UdSSR gepflegt. In der Entspannungsphase nach der Kubakrise 1962 sah man die Zeit für weitere Schritte gekommen. Die Kontaktaufnahme gestaltete sich allerdings schwierig, erst vier Jahre später waren die Sowjets zu ernsthaften Verhandlungen bereit.

Das totalitäre sozialistische Regime hatte nun die enormen Möglichkeiten erkannt, die ein Vertrag mit Österreich bieten würde – zum einen als Türöffner in andere westliche Staaten, zum anderen auch, um die eigene Infrastruktur zu verbessern. Deshalb bemühte man sich, die österreichische Stahlindustrie mit an Bord zu holen. Sie sollte die Rohre für sibirische Pipeline-Projekte zur Verfügung stellen.

1. Juni 1968 als Meilenstein
Tatsächlich kam es im Frühjahr 1968 zur Einigung, am 1. Juni wurde in den Wiener Räumlichkeiten der ÖMV der erste Gasliefervertrag fixiert. Die Voest verpflichtete sich, Bleche für 520.000 Tonnen Rohre zu liefern. Nun seien Beschränkungen bei der Gaslieferung an Verbraucher vom Tisch, sagte ÖMV-Generaldirektor Ludwig Bauer damals zur APA. Die Laufzeit des Vertrags: 23 Jahre – „doch wird seine Bedeutung für die österreichische Wirtschaft weit über diesen Zeitraum hinausreichen“, prognostizierte er.


OMV
Die Unterzeichnung am 1. Juni 1968 in Wien: Im Hintergrund ist Margarethe Ottillinger zu erkennen. Sie war während der Besatzungszeit von den Sowjets entführt und jahrelang im Gulag inhaftiert worden – bei den Gasverhandlungen profitierte die ÖMV von den Russischkenntnissen ihrer Vorständin.

Nach jahrelangen Streitigkeiten zwischen der ÖMV und den Landesenergiegesellschaften wie der niederösterreichischen NIOGAS hatte man sich auf folgende Lösung geeinigt: Als Importeur an der Grenze sollte ausschließlich die ÖMV auftreten, sie war damit alleinige Vertragspartnerin der Sowjets. Den Energieversorgern der Länder, die das Gas an die Endkunden lieferten, wurden identische Konditionen zugesichert.
Der wohl größte Vorteil der Lieferungen aus dem Osten waren die geringen Investitionskosten. Die UdSSR hatte bereits 1964 eine „Bruderschaftspipeline für Erdgas“ in ihre Satellitenstaaten gebaut. Bis nach Österreich, konkret nach Baumgarten an der March (Bezirk Gänserndorf), waren von Bratislava aus nur wenige Kilometer zu überwinden.

Binnen drei Monaten sollten alle Arbeiten abgeschlossen sein, das erste Erdgas aus dem Osten sollte bereits im September in Niederösterreich ankommen. Die langfristige Vertragsdauer sah man als Gewinn an – die Vertragsklauseln, die auch im Kriegsfall keine Ausstiegsmöglichkeiten vorsahen, ebenfalls.

Sowjetische Panzer im Nachbarland
Genau das sollte wenige Wochen später tatsächlich eine gewichtige Rolle spielen; zwar nicht in Österreich, aber in einem Nachbarland. Die Tschechoslowakei (CSSR) hatte sich über Jahre hinweg politisch immer weiter von der sozialistischen „Schutzmacht“ UdSSR entfernt. Sie hatte unter dem Kommunisten Alexander Dubcek Reformen wie die Abschaffung der Zensur verabschiedet und Öffnungsschritte gesetzt. Am 21. August schritten die Truppen des Warschauer Pakts ein, Panzer rollten durch Prag und Bratislava.

Die Folgen für das Nachbarland Österreich waren dramatisch. Das Bundesheer warnte die Regierung bereits früh vor 150.000 bis 200.000 Flüchtlingen – tatsächlich sollten es bis 1969 mehr als 210.000 werden, wie Historikerin Silke Stern in ihrem Artikel „Die tschechoslowakische Emigration: Österreich als Erstaufnahme- und Asylland“ festhält. Außerdem kam es entlang des Eisernen Vorhangs zu etlichen Grenzverletzungen durch Soldaten des Warschauer Pakts.

Keine Verurteilung der Invasion
Trotz dieser enormen Auswirkungen blieben die Reaktionen der österreichischen Staatsspitze auf die Invasion sehr verhalten, schreibt Peter Ruggenthaler in seinem Text „Der Neutralität verpflichtet: die sowjetisch-österreichischen Beziehungen 1968“. Bundeskanzler Josef Klaus (ÖVP) verurteilte den Einmarsch in die Tschechoslowakei nicht. Das „Schicksal anderer Länder und Völker“ sei Österreich nicht gleichgültig, allerdings verhalte man sich strikt neutral. Die Bundesregierung nahm die Erklärung des sowjetischen Botschafters hin, dass es sich um eine interne Angelegenheit handle. Moskau habe lediglich auf einen kommunistischen Hilferuf aus Prag reagiert, so die offizielle Version.


wikimedia commons/Reijo Nikkilä
Brennender sowjetischer Panzer in den Straßen von Prag

Auch gegen die wiederholten Grenzverletzungen durch sowjetische Kampfjets legte Wien keinen diplomatischen Protest ein. Man wies Moskau nur darauf hin und bat die Sowjets, diese Vorfälle in Zukunft zu unterlassen.

Sowjetische Kritik am ORF
Die Diplomaten der UdSSR waren über diese Haltung Österreichs durchaus erfreut, zumindest am Anfang. Der Ton verschärfte sich rasch, weil sie mit der Berichterstattung der österreichischen Medien nicht einverstanden waren, insbesondere mit jener des ORF. Mit ihrer „tendenziösen“ Haltung hätten sich die Medien zu „Sprechern für die Konterrevolutionäre in der CSSR“ gemacht, kritisierte Botschafter Boris Podcerob.
Für Außenminister Kurt Waldheim (ÖVP) war es ein Drahtseilakt. Auf der einen Seite verwies er auf die Pressefreiheit, auf der anderen Seite habe diese auch Grenzen, „die ihr durch die Verpflichtungen Österreichs durch den Staatsvertrag auferlegt sind“, wie Ruggenthaler zitiert. Die Folge: Waldheim und auch Kanzler Klaus suchten „fast jeden Tag“ das Gespräch mit Medienverantwortlichen wie dem ORF-Generalintendanten Gerd Bacher, „um ihnen Anweisungen zu erteilen, von der neutralen Position der Regierung bei der Beleuchtung der Ereignisse in der Tschechoslowakei auszugehen“.

Erfolg für „Kuschelkurs“
Tatsächlich „besserte“ sich die Berichterstattung aus Sicht der Sowjets. „Der ‚Kuschelkurs‘ Waldheims gegenüber dem sowjetischen Botschafter ging so weit, dass Podcerob nicht umhin kam, lobend festzustellen, die Berichterstattung der österreichischen Medien, vor allem des ORF, über die Ereignisse in der Tschechoslowakei wäre nun ‚objektiver‘ geworden“, heißt es bei Ruggenthaler. Vorwürfe politischer Interventionen wies der ORF damals zurück.

Ein Grund für die äußerst zurückhaltende Reaktion des offiziellen Österreichs waren dem Historiker zufolge fehlende Sicherheitsgarantien der USA – man hatte Angst, als nächstes an der Reihe zu sein. Doch „auch aus wirtschaftlicher Sicht verfolgte Österreich, insbesondere die Bundesregierung Klaus, besonders großes Interesse“, schreibt Ruggenthaler. „Die intensive Reisetätigkeit in Länder des ‚Ostblocks‘ hatte bereits Früchte getragen, was der Regierung von Seiten der Opposition Kritik an deren ‚Ostlastigkeit‘ eingebracht hatte.“

Eröffnung während „militärischer Spezialoperation“
Teil dieser wirtschaftlichen Interessen war zweifellos die Gasversorgung, bei der sich Österreich zu diesem Zeitpunkt für 23 Jahre an die Sowjetunion gebunden hatte. Exakt zehn Tage nach dem Beginn des Einmarsches floss wie vereinbart das erste Gas über den Eisernen Vorhang nach Österreich.

OMV
Eine Pipeline quer durch den Grenzfluss March schloss Österreich ans östliche Gasnetz an

Just an diesem Tag, dem 1. September 1968, gestand der tschechoslowakische Reformer Dubcek seine Niederlage ein, zumindest indirekt. „Wir haben die strategischen Interessen des Warschauer Pakts unterschätzt“, sagte er in einer Rede, in der er die Rückkehr zu Zensur und staatlicher sozialistischer Repression ankündigte.


OMV
Feierliches Abfackeln von Gas durch die Vertreter Österreichs und der Sowjetunion am 17. September 1968

„Terminschwierigkeiten“ beim Festakt
Nach zwei Wochen des Probebetriebs sollte die Erdgasstation Baumgarten Mitte September regulär beliefert werden – dieser Umstand sollte mit einem Festakt gefeiert werden. Hier hatten die diplomatischen Spannungen zum ersten Mal Einfluss auf das Gasgeschäft. „Bisher hat die ÖMV keine Nachricht erhalten, wer sowjetischerseits an der Feier teilnehmen würde“, berichtete die APA am 4. September. Eingeladen waren die beiden Minister für Außenhandel und für Gasindustrie sowie deren Stellvertreter.

Außenhandelsminister Nikolaj Patolitschew sagte schließlich ab – offiziell wegen „Terminschwierigkeiten“ –, Gasminister Alexej Kortunow hingegen nahm an der Feier am 17. September teil. Auf österreichischer Seite war Ludwig Weiß (ÖVP), der Minister für verstaatlichte Unternehmen, anwesend. Der Vertrag eröffne neue Perspektiven für die staatliche Industrie, erklärte Weiß damals. Er hoffe auf einen weiteren Ausbau der sowjetisch-österreichischen Wirtschaftsbeziehungen. Diese Hoffnung teilten auch die Vertreter des kommunistischen Regimes.

Ein Vorbild für halb Europa
Der Liefervertrag mit Österreich sollte in der folgenden Zeit als Blaupause für viele weitere westeuropäische Länder dienen. Frankreich und Italien etwa hatten ebenfalls seit Jahren Interesse an sowjetischem Erdgas gezeigt, in Westdeutschland war ein Deal über Lieferungen von Pipelines an die UdSSR Mitte der 60er-Jahre an einem NATO-Embargo gescheitert.

Nun war das Eis gebrochen, der Beweis für die erfolgreiche Lieferung von sowjetischem Gas in den Westen erbracht. Immer mehr Verträge wurden geschlossen – und Baumgarten an der March spielte auch für Österreichs Nachbarländer eine zentrale Rolle. Hier setzten später die Trans-Austria- und die West-Austria-Pipelines an, die Erdgas in Richtung Italien bzw. Deutschland beförderten.

„Aussuchen, wo wir am liebsten abhängig sind“
Auch Österreich erneuerte in regelmäßigen Abständen die langfristigen Lieferverträge mit der Sowjetunion bzw. später mit Russland. Immer mehr Erdgas wurde nach Österreich geliefert – und die Abhängigkeit wuchs weit über das ursprünglich angedachte Ausmaß hinaus.

Ob das nicht problematisch sei, wurde ÖMV-Chef Ludwig Bauer 1978 von einem ORF-Reporter gefragt. „Die ganze zivilisierte westliche Welt ist abhängig von Energie und kein Land kann sich selbst versorgen“, antwortete er. Man müsse sich „die Länder selber aussuchen, wo wir am liebsten abhängig sind“, meinte der Manager: „Mir ist lieber, dort abhängig zu sein, wo ich der Wirtschaft Energie geben kann, die sie wettbewerbsfähig macht.“ Bauers Nachsatz ist auch heute noch gültig: „Das ist das Problem.“
13.06.2022, Felix Novak (Redaktion) und Alexander Katholitzky (Archiv), noe.ORF.at
Als Österreichs von Moskau abhängig wurde
 
Zuletzt bearbeitet:

josef

Administrator
Mitarbeiter
#53
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Wachau rebelliert gegen „Teufelsmauer“ - Teil 1:
1655751859246.png

Ende 1971 werden Pläne bekannt, wonach in der Wachau ein Donaukraftwerk errichtet werden soll. Gegen die „Teufelsmauer von Dürnstein“ bildete sich in der Region sofort Widerstand. Nobelpreisträger Konrad Lorenz warnte gar vor einer „Kloake“.
Online seit heute, 18.30 Uhr
Es sind zunächst Gerüchte bzw. Aussagen einzelner Politiker, wonach in der Wachau ein Kraftwerk gebaut werden soll. „Das habe ich schon als junger Mann immer wieder gehört, aber das wird noch lange dauern, hat es geheißen, niemand hat es wirklich geglaubt“, erinnert sich Franz Machhörndl, 1971 Gemeindesekretär in Spitz an der Donau (Bezirk Krems).

„Die Pläne hat es schon lange gegeben, aber sie sind nie wirklich zur Diskussion gestanden oder öffentlich gewesen“, ergänzt Winzer Franz Hirtzberger, ebenfalls aus Spitz an der Donau, der damals gute 20 Jahre alt war. „Und dann ist es ernst geworden“, betont Machhörndl im Gespräch mit noe.ORF.at.

Weinorte hinter Dämmen
Ende 1971 wurden schließlich konkrete Pläne für ein Kraftwerk zwischen Dürnstein und Weißenkirchen, auf der Höhe von Rossatz-Rührsdorf (alle Bezirk Krems), vorgestellt. Die Kosten: 3,5 Milliarden Schilling. Der damalige Wasserspiegel sollte um etwa sechs Meter angehoben werden, hieß es zunächst. Der Rückstau sollte 25 Kilometer stromaufwärts Richtung Melk reichen.

Fotostrecke mit 5 Bildern
ORF
Hier sollte das geplante Kraftwerk in der Wachau gebaut werden
ORF
Orte wie Spitz oder Weißenkirchen wären damit hinter meterhohen Dämmen verschwunden

ORF
Der Rückstau sollte 25 Kilometer stromaufwärts Richtung Melk reichen

ORF
Der Grund für den Kraftwerksbau war, dass die Schifffahrt auch bei Niederwasser gewährleistet sein würde

ORF
Für die Landschaft hätte das Kraftwerk einen starken Eingriff bedeutet

Orte wie Weißenkirchen, Spitz oder Wösendorf (Bezirk Krems) wären damit hinter meterhohen Dämmen verschwunden, die entlang der Wachaustraße geplant waren – die Anrainergemeinden betrachteten das als eklatanten Bruch der Schutzbestimmungen. „Der Kraftwerksbau, ich nenne dieses Kraftwerk ‚Die Teufelsmauer von Dürnstein‘ würde die Stromlandschaft zerstören“, kritisierte Franz Hirtzberger (ÖVP), damals Bürgermeister von Spitz an der Donau.

Eine Region wehrt sich
Innerhalb kurzer Zeit formierte sich in der Wachau Widerstand. Die Gegner des Kraftwerks beriefen sich auf den Fremdenverkehr als lebenswichtige Einnahmequelle und erklärten, dass eine landschaftliche Störung der Wachau auch vom Standpunkt des Umweltschutzes zu verurteilen sei. Die Wachau steht als eines der schönsten Stromtäler Europas unter Landschaftsschutz.

Anfang 1972 gründete sich der Arbeitskreis zum Schutz der Wachau. Hirtzberger, der damals auch zu dessen Sprecher wird, ließ nach den Plänen der Donaukraftwerke Holzkonstruktionen in den betroffenen Ortschaften errichten. „Damit konnte man genau sehen, wie hoch die Dämme werden sollen“, erklärt sein Sohn, der ebenfalls Franz heißt. „Da waren alle plötzlich hell auf“, ergänzt Machhörndl. „Wir haben gewusst, es muss etwas passieren.“

„Schmeißen wir ihn wieder hinaus“
Hirtzbergers Sohn erinnert sich im Gespräch mit noe.ORF.at an eine hitzige Informations-Veranstaltung in Spitz mit Landeshauptmann Andreas Maurer (ÖVP), der zugleich Präsident der Donaukraftwerke war. „Maurer war damals Befürworter – wie auch die gesamte ÖVP hinter dem Projekt gestanden ist, und da hat es Stimmen gegeben: ‚Schmeißen wir ihn (Bürgermeister Hirtzberger, Anm.) wieder hinaus‘. Also es hat damals richtig gebrodelt.

ORF
Die schwarzen Kraftwerksstandorte waren 1972 bereits fertig gebaut oder begonnen, die weißen Orte waren bis 1990 geplant

Das Kraftwerk in der Wachau sollte ein Glied in einer Kette von 13 Staustufen sein, mit denen die Donau – unabhängig vom jeweiligen Wasserstand – für den sogenannte Europakahn schiffbar gemacht werden sollte. Dazu war die Republik durch die Donaukonvention verpflichtet, die Arbeiten mussten bis 1990 beendet sein.

Der Donauausbau hing damals mit dem Rhein-Main-Donau-Kanal zusammen. Auf dieser Wasserstraße sollte quer durch Europa – vom Schwarzen Meer bis zur Nordsee – eben der Europakahn fahren. Doch für dieses Containerschiff musste die Donau mindestens 2,70 Meter tief sein. Die damaligen Wasserschwankungen im Bereich der Wachau lagen hingegen im Durchschnitt zwischen 1,20 und vier Metern.

ORF
Der Rhein-Main-Donau-Kanal sollte eine europäische Wasserstraße vom Schwarzen Meer bis zur Nordsee werden

Deshalb sollte der bereits 1954 von den Donaukraftwerken ausgearbeitete Stufenplan der Donau nun gesetzlich verankert werden, die Anlagen sollten nicht nur als Staustufe dienen, sondern auch elektrische Energie erzeugen. Auf Grund dieses Stufenplans wurden bis 1972 die Kraftwerke Jochenstein, Aschach, Wallsee-Mitterkirchen (alle Oberösterreich) und Ybbs-Persenbeug (Bezirk Melk) errichtet. Das Kraftwerk Ottensheim (Oberösterreich) war im Bau.

Bis 1990 sollten zudem die Kraftwerke Mauthausen (Oberösterreich), Melk, Rossatz-Rührsdorf, Altenwörth (Bezirk Tulln), Greifenstein (Bezirk Tulln), Wien, Regelsbrunn (Bezirk Bruck/Leitha) und – gemeinsam mit der ČSSR – Wolfsthal (Bezirk Bruck /Leitha) gebaut werden.

Nobelpreisträger warnt vor „Kloake“
Die Ökologen schlossen sich den Bedenken der demonstrierenden Bevölkerung an. Nobelpreisträger Konrad Lorenz sprach von unabsehbaren Folgen für die Donau und warnte gar vor einer „Kloake“. „Denn es ist nicht vorauszusehen, was biologisch mit der Donau passiert, wenn sie in Staustufen gelegt wird, wenn sie ein Fünftel ihrer Stromgeschwindigkeit nur noch hat und wenn sie außerdem noch in Zwentendorf durch ein Atomkraftwerk aufgeheizt wird.“

Eine solche Gefahr über das gesamte Volk von Österreich herbeizuführen, „ist meiner Ansicht nach von niemandem zu verantworten“, betonte Lorenz. Zudem würde die Donau mit dem Bau der Staustufen seinen Charakter als Strom verlieren. „Das heißt, wir müssen die Bundeshymne umdichten und nicht mehr Land am Strome singen, sondern – wenn Sie mich als Biologen fragen – Land am Kanale.“

Laut Wasserbiologen seien Organismen im Gewässer zwar im Interesse der Selbstreinigungskraft, also des Abbaus von Abwässern notwendig und erwünscht. Allerdings wird durch Staue, wie sie in der Donau errichtet werden, der Organismengehalte außerordentlich stark erhöht, darüber hinaus verändert die Aufstauung die Temperatur im Wasser, und dadurch werden Zuleitungen von warmen Abwässern im Flussstau besonders gefährlich.

Weinbau in Gefahr
Und auch der Weinbau hätte nachhaltig gelitten, betont Franz Hirtzberger. Denn der Weinbau sei in der Wachau von besonderen klimatischen Bedingungen geprägt: Eine große Erwärmung am Tag, und in der Nacht kalte Luft, die vom Waldviertel ins Donautal strömt. „Diese Temperaturunterschiede bringen für die Trauben große Vorteile.“ Durch die Dämme wäre die kalte Luft aber in den Weingärten liegen geblieben, „Weinbau wäre dort nicht mehr möglich gewesen.“

Fotostrecke mit 8 Bildern
ORF
Der Weinbau prägt das Image der Wachau im In- und Ausland
Österreichische Hagelversicherung
Durch das Kraftwerk wären die donaunahen Weingärten bedroht gewesen

Daniela Matejschek
Weil die kalte Luft aus dem Waldviertel in der Nacht nicht abströmen könnte

ORF / Tschandl
Laut Weinbauer Hirtzberger wäre mit einem Kraftwerk hier kein Weinbau mehr möglich

filmgut thomas zeller
Indirekt wäre damit auch der Weinbau auf den berühmten Weinterrassen weggefallen

ORF

ORF/Schwarzwald-Sailer

ORF

Dadurch hätten indirekt auch die bekannten Weinterrassen gelitten. Denn deren Bewirtschaftung sei nur auf Grund der Weingärten in der Ebene möglich. „Jeder Weinbauer hat auch Terrassen, wo die Produktion aber das Drei- bis Fünffache gegenüber Weingärten in der Ebene beträgt.“ Deren Erhaltung sei nur mit einem Mischsystem möglich.

Die Wirtschaft sah in der Donau hingegen den Umschlagplatz von morgen. Denn bis 1981 wird die Donau nach Fertigstellung des Rhein-Main-Donau-Kanals mit der Nordsee, nach der Schaffung des Rhein-Rom- und des Donau-Oder-Kanals auch mit dem Mittelmeer und der Ostsee verbunden sein.
https://noe.orf.at/magazin/stories/3161213/

Fortsetzung siehe Teil 2:
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#54
Wachau rebelliert gegen „Teufelsmauer“ - Teil 2:

Die Argumente der Donaukraftwerke
Das Kraftwerk Wachau sei „eine unbedingte Notwendigkeit, weil nur so die Wassertiefen, die die Schifffahrt auch bei Niederwasser braucht, sichergestellt werden können.“ Die Donaukraftwerke verwiesen zudem auf die bereits vom Ausbau betroffenen Stromabschnitte oberhalb von Ybbs-Persenbeug. Dort sei die „Qualität des Donauwassers einwandfrei besser nachgewiesen worden als im Bereich unterhalb Ybbs“, betonte Direktor Robert Fenz.

Die Ursache die Verschlechterung der Wasserqualität sei dort vielmehr die zunehmende Belastung des Flusses durch industrielle Abwässer und Siedlungsabwässer. „Es gibt in Dürnstein keine Kläranlage, es gibt in sämtlichen Orten flussabwärts keine Kläranlagen. Städte wie Krems, einschließlich der Industrie, leiten ungeklärt in die Donau ein“, ergänzte Fenz damals in einem ORF-Interview.

Fotostrecke
Gregor Semrad
Die Wachau ist von vielen Sehenswürdigkeiten geprägt
ORF
Der Blick vom Kraftwerk Melk auf das Stift

ORF
Der Blick vom Stift Melk auf das Kraftwerk, das damals erst gebaut worden ist

ORF
Stift Melk

ORF
Schloss und Kloster Schönbühel

filmgut thomas zeller
Ruine Aggstein

ORF
Spitz - Ruine Hinterhaus

ORF
Wehrkirche St. Michael

APA/HELMUT FOHRINGER
Dürnstein und Rossatz

ORF/Novak
Dürnstein

ORF
Stift Göttweig

Hirtzberger konterte: „Die Donau hat als wasserfließender Strom die Römer und die Awaren überlebt. Es besteht aber die Gefahr, dass sie die Technokraten der heutigen Zeit nicht mehr überlebt“, wenn der Fluss "in einer stehenden Kette zum langsamen, trägen Dahinfließen verurteilt ist. Die Gegner forderten deshalb vom Bund, dass die Wachau vom Kraftwerksausbau ausgeklammert werden soll.

Dass die Wachau unter Landschaftsschutz steht, brachten die Vertreter des Arbeitskreises damals auch bei einer Vorsprache bei Landeshauptmann Maurer vor, der damals eine Enquete mit Experten und Anrainern versprach. „Es ist unbestritten, dass ein Donauausbaugesetz notwendig ist, ebenso unbestritten ist, dass die landschaftliche Schönheit der Wachau erhalten werden muss“, meinte Maurer.

St. Pölten statt Wachau
Gleichzeitig wurden einige Alternativlösungen diskutiert. Das Einengen der Donau und das Ausbaggern von Fahrtrinnen, wie von Naturschützern gefordert, lehnten Strombaufachleute jedoch ab, weil es das Niederwasserproblem nicht löse. Der Vorschlag zur Rettung der Wachau einen Schifffahrtskanal über St. Pölten zu graben, galt zwar als fachlich begründet, war aber wegen der Milliardenkosten unrealistisch.

Fotostrecke mit 7 Bildern
ORF
ORF
Mehr als 60.000 Unterstützer unterschrieben schlussendlich für den Schutz der Wachau und gegen das Kraftwerk

ORF
Nachdem der 50.000. Österreicher unterschrieben hatte, lenkte die Bundesregierung ein

ORF
Das Blaubuch des Arbeitskreises übergaben die Wachau-Schützer Bundeskanzler Kreisky

ORF

ORF

ORF

Die Bewohnerinnen und Bewohner der Wachauer Gemeinden ließen sich aber nicht aufhalten und initiierten Unterschriftenaktionen. Über Wochen hinweg wurden in allen Gemeindeämtern, Hotels, Bankinstituten, Gaststätten, Geschäften und Privatquartieren Unterschriften für die Erhaltung einer der berühmtesten europäischen Stromlandschaften gesammelt. Ziel war es, 150.000 Unterschriften zu sammeln.

Mit der „Weichen Welle“ – einer Sympathie-Kundgebung mit Trachtenkapellen in Wachauer Tracht und einer Unterschriftenaktion – machten die Gemeinden im Herbst 1972 auch am Wiener Graben demonstrativ auf ihre Forderungen aufmerksam. „Das war damals schon sehr beeindruckend“, erzählt Machhörndl. „Es hat sich damals so eine Stimmung entwickelt – nicht nur von uns, sondern auch von Ausflüglern und Touristen.“

Wichtige Stützen
Entscheidend sei damals auch das Engagement von Winzer und Gastronom Josef Jamek in Joching gewesen, sagt Hirtzberger – „bei dem damals viele Politiker und wichtige Personen ein- und ausgegangen sind.“ Zudem hatte sich auch ein Flussbautechniker der technischen Anstalt in Zürich (Schweiz) gemeldet, „der ganz wesentlich mitgeholfen hat, Pläne zu erarbeiten, wie die Schifffahrt auch in der Zukunft gesichert werden kann.“
Als im Herbst 1973 der 50.000. Österreicher mit seiner Unterschrift gegen die Errichtung protestiert hatte, lenkte die Bundesregierung ein. Bundeskanzler Kreisky (SPÖ) kündigte an, dass das Kraftwerk nicht gebaut werde. Damit überraschte er auch die Donaukraftwerke. Direktor Fenz warnte vor einem volkswirtschaftlichen Schaden: „Wir glauben nicht, dass man in einer derart großen Wasserstraße Rhein-Main-Donau-Verbindung einen Flaschenhals – eine Engstelle – schaffen sollte.“

Wachau erreicht erstes Etappenziel
„Es hat daraufhin zwar noch viele Gespräche und Interventionen gegeben, aber es war fix, dass es nicht gebaut wird“, erinnert sich Machhörndl. Zeitgleich wurde mit Unterstützung der Bundesregierung auch um das europäische Naturschutzdiplom angesucht. „Zum Schutz der Wachau“, ergänzt Hirtzberger, dessen Bruder Hannes damals die Aufgaben des Vaters übernommen hatte.

Nebenbei wurde an Alternativlösungen gesucht, damit die Vorgaben der Donaukonvention umgesetzt werden können. Das Resultat war die Regulierung der Donau, indem eine Schiffrinne gegraben wurde. Weil durch die Strömung Schotter und Geröll immer weiter flussabwärts wandern, muss die Rinne jeden Winter ausgegraben und bei der oberen Kraftwerksmündung wieder abgeladen werden.

ORF/Schwarzwald-Sailer
Sämtliche Akten und Schriftstücke des Arbeitskreises hat der damalige Bürgermeister Franz Hirtzberger aufbewahrt

Damit kann die Schifffahrt bis heute sichergestellt werden – auch wenn bei ganz niedrigen Donauständen, wie in den vergangenen Jahren, die Schifffahrt teilweise schon eingestellt werden musste oder die Frachter zumindest mit weniger Ladung unterwegs sein mussten.

Unterstützer von Hainburg
In den Gemeinden der Wachau stört man sich daran aber nicht. „Wir sind alle dankbar, dass das Kraftwerk nicht gebaut wurde“, meint Franz Machhörndl. Aus diesem Grund wurden auch ein Jahrzehnt später die Anliegen der Aubesetzer in Hainburg (Bezirk Bruck/Leitha) unterstützt. „Wir waren selbst zwei Tage in der Au und haben dort mit Josef Jamek 300 Semmeln verteilt“, sagt Hirtzberger. „Wir waren nicht direkt Aubesetzter, aber wir haben sie verstanden.“

In der Wachau wurde in weiterer Folge mit Hilfe des Arbeitskreises auch ein Fahrverbot für den Durchzugs-Schwerverkehr umgesetzt. Denn für Lkw, die von Wien über Krems kamen, war bis in die 1980er die Wachau der kürzeste Weg bis zur Autobahnauffahrt in Melk. Seither habe der Arbeitskreis jedoch „seine damalige Stellung verloren“, meint Hirtzberger, „wobei man nach wie vor etwa um eine gemeinsame Baukultur ringt.“

UNESCO-Weltkulturerbe
Im Jahr 2000 folgte schließlich der Höhepunkt. Nach dem europäischen Naturschutzdiplom wurde die Wachau auch zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt. Sie war damit die sechste Weltkulturstätte in Österreich. Dieser kurze Abschnitt der Donau – 36 von insgesamt 2.800 Kilometern – sei einmalig, hieß es in der Begründung. Es werde eine großartige Kulturlandschaft bewahrt

Für die Region bedeutet das auch eine gewisse Absicherung, meint Hirtzberger: „Momentan wird zwar nicht an ein Kraftwerk gedacht, aber für alle Zeit würde ich das nicht so sehen, wenn wirklich alle Gletscher abschmelzen, gibt es viel weniger Wasser.“ Machhörndl ist hingegen überzeugt, „dass die Wachau so einen Namen hat, dass da niemand so schnell hin greift.“

Die Wachau sei vielmehr ein Nationalheiligtum, „das war sie schon immer und wird sie auch immer sein“, meint Machhörndl, der einst auch Obmann des Tourismusvereins war. „Wenn ich nur an die Wachaumaler und Steinmauern denke, die die Wachau prägen. Die Kloster Melk und Göttweig inmitten von Burgen und Ruinen. Das ist etwas ganz Besonderes für uns, aber auch für alle anderen.“
20.06.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at

Link:
Wachau rebelliert gegen „Teufelsmauer“
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#55
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Ein Hauch von Afrika mit Todesspringern - Teil 1:
1656098745313.png

„Ein Stück Afrika vor den Toren Wiens“ öffnete 1972 in Gänserndorf: Österreichs erster Safaripark mit Löwen, Zebras und Nashörnern. Zudem sorgten die Todesspringer von Acapulco für Staunen. Doch auch so manche Besucher brachten sich in Lebensgefahr.
Online seit heute, 20.00 Uhr
Teilen
Es war ein Hauch exotischen Afrikas, den man ab 1972 im Marchfelder Föhrenwald hautnah erleben konnte – auf einer 680.000 Quadratmeter großen Anlage, „die den weltbekannten Safariparks von Kenia oder Longleat in exotischer Vielfalt kaum nachsteht“, hieß es damals in den Medien.
Zwei Private investierten damals etwa 19 Millionen Schilling in den Safaripark Gänserndorf. Der große Unterschied zu einem herkömmlichen Zoo: „Hier waren die Tiere im Freien, während die Menschen gewissermaßen in ihrem motorisierten Käfig waren, und sich durch das Gehege bewegt haben“, erinnert sich Josef Zoher, einst Tierarzt im Safaripark, und er spricht den damaligen Höhepunkt der Autowelle an, als auch Autokinos und Drive-in-Lokale boomten.

APA

APA/Harald Schneider

Hier gibt es eine weitere Fotostrecke mit Aufnahmen des ehemaligen Safariparks...

Auch der Tierarzt musste anfangs wesentlich öfter kommen, als notwendig gewesen wäre, weil die Besucher das Fütterungsverbot missachteten. „Immer wieder kommt es vor, dass die Leute mit Nuss- oder Mohnstrudeln die Tiere füttern, die sind gut für junge Mädchen, aber nicht für wilde Tiere“, betonte der Tierarzt. Die Tiere litten deshalb an schweren Verdauungsstörungen, innerhalb der ersten Wochen starben zwei Tiere.

Die Todesspringer
Neben dem reinen Tierpark waren von Beginn an auch Unterhaltung und Shows Teil des Konzepts – ebenfalls ein in den USA bereits boomender Trend. Neben Delfin- und Papagei-Vorführungen sorgten vor allem die Todesspringer von Acapulco für Staunen. Aus 25 Meter stürzten sich die Artisten in ein nur drei Meter tiefes Wasserbecken.

Fotostrecke
ORF
Aus 25 Metern Höhe sprangen die Todesspringer …
ORF
… in ein nur drei Meter tiefes Wasserbecken

ORF
Solche Showeinlagen begeisterten das Publikum

ORF

ORF
Die Papagei- und Delfinvorführungen waren am Höhepunkt über die Grenzen hinaus bekannt

Ein erster kleiner Rückschlag folgte aber bereits im Jahr 1973. Obwohl der Safaripark das ganze Jahr geöffnet war, waren zu Beginn des Jahres die Giraffen plötzlich verschwunden. Betreiber Wiesinger erklärte damals, dass der Winter „für die Giraffen zu heikel ist, die haben wir derzeit nicht hier, wir wollen hier gar kein Risiko eingehen“. Die anderen Tiere waren in beheizten Stallungen untergebracht.
Doch nur eine Woche später musste er im ORF-Interview seine Lüge eingestehen: Die Tiere waren wegen der ungünstigen Witterung verendet. Wiesinger rechtfertigte sich: „Kein Tierpark auf der ganze Welt publiziert den immer bedauerlichen Verlust von Tieren.“ Zudem musste der Park im selben Jahr wegen der Maul- und Klauenseuche in Niederösterreich drei Monate lang schließen.

Tiere warten auf Futter
Trotz allem entwickelte sich der Safaripark im ersten Jahrzehnt seines Bestehens zu einem der zugkräftigsten Tourismusmagnete in Niederösterreich, der die ganze Region wirtschaftlich mitaufschwingen ließ. Damals lebten bereits etwa 500 Tiere auf dem Gelände. Mittlerweile hatten auch die Tiere die anfängliche Scheu vor den Menschen in ihren Autos verloren. „Die haben teilweise schon richtig gewartet, weil sie wussten, da gibt es Futter“, sagt Zoher.

Die freie Haltung wirkte sich offenbar auch auf die Fortpflanzung besser aus als in so manch anderem, herkömmlichen Tierpark. Innerhalb der ersten zehn Jahre wies die Geburtsstatistik in Gänserndorf nicht weniger als 250 Löwenjunge, 70 Antilopen, 27 Tiger, 18 Kamele, 25 Lamas und sieben Zebras auf – ein Großteil davon konnte ins Ausland verkauft werden.

Der erste Konkurs
Nur vier Jahre später folgten dann finanzielle Problemen. Die Betreiber hatten damals eine Schmalspurbahn durch den Tierpark gebaut, wegen Anrainerbeschwerden musste diese aber eingestellt werden. Die laufenden hohen Kosten für die Tierhaltung führten trotz bestehender Subventionen zu 17 Millionen Schilling Schulden. Auch ein Solidaritätskonzert, an dem etwa die Sänger Hansi Dujmic und Gary Lux sowie der Schauspieler Herwig Seeböck teilnahmen, konnte den Tierpark vorerst nicht retten.
Als schließlich auch Schulwandertage wegen der Katastrophe von Tschernobyl vorübergehend verboten wurden, führte das zum ersten Konkurs. Doch zum einen steuerte das Land 500.000 Schilling für Futter und Ausstände bei, zum anderen kamen viele Spenden aus der Bevölkerung, „ohne die der Park ein Sanierungsfall wäre“, betonte Wiesinger. 1987 übernahm der ehemalige Geschäftsführer den Park und führte ihn weiter.
„Sehr geschickt“, wie Zoher anmerkt. Denn die Betreiber setzten damals u.a. auf eigene Büros in den damaligen Ostblockstaaten Ungarn und Tschechoslowakei, „wo sie Touristen rekrutiert haben“. Mit dem Wegfall des Eisernen Vorhanges im Jahr 1989 konnten die Besucherzahlen wieder gesteigert werden. In den 1990er-Jahren erlebte der Safaripark gerade deshalb nochmals einen wahren Besucherboom.

Auf Höhepunkt folgt tiefer Fall
Nach dem Höhepunkt folgte aber der langsame, tiefe Fall. Misswirtschaft, fehlende Attraktivierungsmaßnahmen und der Umstand, dass man Löwen, Elefanten und Giraffen mittlerweile „live“ im günstigen Afrika-Urlaub sehen konnte, führten zum Besucherrückgang und schließlich zum finanziellen Desaster, von dem sich der Safaripark nicht mehr erholen sollte.

Fotostrecke
APA/Harald Schneider
2004 musste der Safaripark ein zweites Mal Konkurs anmelden
APA/Andreas Tröscher
Tierarzt Josef Zoher wollte den Park mit einem veränderten Konzept weiterführen
APA/Harald Schneider
APA/Harald Schneider
APA/Harald Schneider
Nach eine Rettung gescheitert war, wurden die Tiere vom Masseverwalter nach und nach verkauft
APA/Harald Schneider
APA/Harald Schneider
APA/Harald Schneider

Ein neuer Geschäftsführer legte den Fokus ab der Jahrtausendwende zwar auf die Arterhaltung von gefährdeten Tierarten sowie die vermehrte Aufnahme von „ausgedienten“ Geschöpfen: Tieren, die für den Auftritt im Zirkus zu alt waren oder zuvor im Dienste der Forschung ihr Dasein in engen Käfigen gefristet hatten. So wurde damals eine „Elefantenauffangstation“ errichtet und im Affenhaus bekamen Tiere, die als Forschungsobjekte gedient hatten, ein Heim.

Doch am 14. Jänner 2004 musste der Tierpark neuerlich Konkurs anmelden und wurde geschlossen. Zu diesem Zeitpunkt lebten 850 Tiere im Tierpark, die von 64 Mitarbeitern gepflegt wurden. Ein dem Land Niederösterreich vorgelegtes Sanierungskonzept wurde abgelehnt. Dies war das Ende einer Institution, die weit über die Grenzen der Stadt Gänserndorf, des Landes und sogar des Staates Österreich bekannt war.

Wiedereröffnungsversuch
Josef Zoher, der heute Tierarzt in Deutsch-Wagram ist, startete mit anderen ehemaligen Mitarbeitern einen Rettungsversuch. „Mit dem Konkurs ist damals eine große Bewegung entstanden, mit dem Wunsch, den Park weiterzuführen. Die Marke ‚Safaripark‘ war sehr gut, nicht nur in Österreich, sondern auch im Ausland.“ Das Konzept wurde verändert, der Safaripark wäre nicht mehr aus Autos, sondern auf Spazierwegen zu besichtigen gewesen.

Auch das Land trommelte eine Expertenrunde zusammen. „Der Safaripark Gänserndorf darf nicht sterben“, betonte Landeshauptmann Erwin Pröll. Wie Pröll nach dem Gespräch erläuterte, wurde die Gründung einer Gesellschaft vereinbart, die zur Weiterführung Geld zur Verfügung stellen sollte. Ihr gehörten die Österreichische Zoo-Organisation, das Pharma-Unternehmen Baxter und die regionale Entwicklungsgesellschaft Eco Plus an.

Fotostrecke
ORF/Schwarzwald-Sailer
Nachdem 2004 der Konkurs des Safariparks bekannt wurde, riefen mehrere Medien wie die Kronen Zeitung zur Rettung auf
ORF/Schwarzwald-Sailer
ORF/Schwarzwald-Sailer
ORF/Schwarzwald-Sailer

Wegen fehlender Investoren verzögerte sich das Projekt aber. Zudem konnte man sich laut Zoher mit der Gemeinde nicht auf die Pachthöhe einigen. Erst nach einem Bürgermeisterwechsel in Gänserndorf 2008 sei aus dem Rathaus grünes Licht gekommen, doch dann wollte das Land das Projekt nicht mehr unterstützen, ohne Förderung sei eine Neugründung unmöglich gewesen. „Die Anlagen waren verfallen, die Tiere vom Masseverwalter bereits verkauft.“
24.06.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
Ein Hauch von Afrika mit Todesspringern
Fortsetzung siehe Teil 2:
 
Zuletzt bearbeitet:

josef

Administrator
Mitarbeiter
#56
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Ein Hauch von Afrika mit Todesspringern - Teil 2:
Rettung für verbliebene Tiere
Die letzten verbliebenen Löwen wurden zwischen 2007 und 2009 vom Verein „Vier Pfoten“ in ein südafrikanisches Tierreservat gebracht. Nur bei zwei weiblichen Löwen war dies aus gesundheitlichen Gründen erst später möglich. Im Jahr 2013 war das Reservat in Lionsrock etwa 50 Hektar groß und umfasste 33 Gehege.

Nur für die Schimpansen, die früher als Versuchstiere des Arzneimittelherstellers Immuno AG gedient hatten, gab es langzeitige Betreuungsverträge, die auch zur Finanzierung beitragen sollten. Dabei handelte es sich um ein Forschungsprojekt, bei dem die Affen, die ihr Dasein bei Immuno einzeln gefristet hatten, wieder zusammenleben sollten.

Resozialisierung der Aids-Affen
Die Schimpansen waren als Babys gefangen und im Dienste der Forschung oft über 20 Jahre benutzt worden. In den 1970er- und 1980er-Jahren waren die Tiere wegen ihrer genetischen Ähnlichkeit zum Menschen für Tierversuche sehr gefragt. Zu Forschungszwecken wurden sie mit Krankheiten wie HIV und Hepatitis infiziert. Viele starben dabei qualvoll. Als die Versuche mit den Tieren 1997 eingestellt wurden, waren sie endlich erlöst.

Fotostrecke
APA/Harald Schneider
Das Affenhaus, in dem die einst für Forschungszwecke eingesetzten Schimpansen resozialisiert werden
HBF/Livio Srodic
2007 gab Gesundheitsminister Alois Stöger zunächst die weitere Pflege der damals über 50 Tiere bekannt
APA/Harald Schneider
Das von der Firma Baxter errichtete Affenhaus im Safaripark Gaenserndorf
ANP/Ed Oudenaarden
Mittlerweile können die meisten der Schimpansen wieder in der Gruppe leben und fühlen sich sichtlich wohl

Seit 2009 sind die Tiere in der Obhut von Gut Aiderbichl und bekommen endlich ein Stück des Lebens zurück, das man ihnen auf so grausame Weise genommen hatte. Seither werden die Tiere langsam resozialisiert, heißt es von Gut Aiderbichl. Mittlerweile können die meisten der Schimpansen wieder in der Gruppe leben und fühlen sich sichtlich wohl.

„Schade für die Region“
2011 pachteten die Gebrüder Angerer einen Teil des verwaisten Safariparkgeländes und errichteten dort einen Erlebnispark mit Kletterparcours, Bogenschießen und diversen anderen Attraktionen. An das einst beliebte Ausflugsziel der Ostösterreicher erinnert heute nichts mehr. „Ich halte es nach wir vor für schade“, meint Zoher, „schade für die Region und für die Menschen, weil es nach wir vor eine tolle und doch einzigartige Besucherattraktion hätte sein können.“

Das würden vor allem die mittlerweile attraktiven Zoos wie Schönbrunn beweisen, ist Zoher überzeugt, die beliebte Besuchermagneten für Jung und Alt seien. Doch „einen wirklich vergleichbaren Safaripark gibt es in Mitteleuropa bis heute nicht“.
24.06.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
Ein Hauch von Afrika mit Todesspringern
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#57
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Technik schickt Fräulein vom Amt in Pension - Teil 1:
1656359056394.png

1972 wird Karlstein an der Thaya als letzter Ort an das vollautomatische Telefonnetz angeschlossen. Damit waren die handbetriebenen Telefonzentralen in Österreich Geschichte. Trotzdem mussten sich die meisten Haushalte das Telefon weiter teilen.
Online seit heute, 19.45 Uhr
Teilen
„Das war damals umständlich, man musste einen Kilometer gehen, bis man am Postamt war“, erinnert sich der 87-jährige Josef Zauner aus Karlstein an der Thaya (Bezirk Waidhofen an der Thaya). Doch wollte man bis Anfang der 1970er-Jahre telefonieren, musste man diesen Weg in Kauf nehmen, denn das einzige öffentliche Telefon in der Gemeinde gab es am Postamt.

Doch einfach loszutelefonieren, das gab es auch am Postamt nicht, fügt Zauner hinzu: „Dort saß eine Person, bei der musste man erst ein Gespräch anmelden, die hat dann eine Verbindung hergestellt, und dann ist man einer Telefonzelle zugewiesen worden.“ Im Ort besaß bis 1972 kaum jemand ein Telefon.

Doch das sollte sich mit dem 14. Dezember 1972 ändern, Karlstein an der Thaya wurde als letzter Ort in Österreich an das vollautomatische Telefonnetz angeschlossen. Damit war die landesweite Umstellung von handbetriebenen Telefonzentralen auf eine automatisierte Gesprächsvermittlung vollzogen. Das „Fräulein vom Amt“ – über Jahrzehnte ein sicherer Job – wurde damit in Pension geschickt.

Es hat sich ausgekurbelt
Bis dahin wurden Telefongespräche von – meist weiblichen – Telefonistinnen in einer Zentrale angenommen und über ein Steckpult manuell an die gewünschten Teilnehmerinnen und Teilnehmer weitervermittelt. Wegen der höheren Stimmlage waren sie besser zu verstehen als männliche Vermittlungskräfte und außerdem „übten sie größere Geduld und Höflichkeit, und die Teilnehmer seien rücksichtsvoller gegen sie“, hieß es.

Fotostrecke mit 15 Bildern
Archiv Telekom
Fernumschalter Horn

Archiv Telekom
Das Wählamt in Amstetten

Archiv Telekom
Während der Amtszeiten war die Zentrale besetzt

Archiv Telekom
Die Wählsternzentrale in Obersulz

Archiv Telekom
Das letzte Fräulein vom Amt in Karlstein an der Thaya war ein Mann

Archiv Telekom
Das Fernamt in Wiener Neustadt

Archiv Telekom
Der Telefon-Hauptverteiler in Neunkirchen

Archiv Telekom
Das Fernamt in Bruck an der Leitha

Archiv Telekom
Die Umschaltzentrale in Groß-Siegharts

Archiv Telekom
Die Ortsumschalter in Wiener Neustadt

Archiv Telekom
Der Telefon-Hauptverteiler in Poysdorf

Archiv Telekom
Vor allem in der Nacht mussten Männer den Vermittlungsdienst übernehmen

Archiv Telekom
Das Fernamt in Zwettl

Archiv Telekom
Die Ortsumschalter in Mödling

Archiv Telekom
Das Fernamt in Gmünd

Zum Nachtdienst konnten die Damen allerdings nicht eingeteilt werden, da „es zu beachtlichen Unziemlichkeiten führen würde, wenn im Nachtdienst eine Gehülfin mit einem technischen Assistenten, die nach Charaktereigenschaften nicht ausgesucht werden können, nebeneinander sich selbst überlassen blieben“, wie in einer Dienstanweisung zu lesen war. „Das waren noch andere Moralvorstellungen“, erzählt der Unternehmenshistoriker der Telekom, Gerhard Fürnweger.

Nach den Vermittlungsdamen gepfiffen
Wenn ein Teilnehmer ein Gespräch führen wollte, musste er zunächst die Vermittlungskraft auf sich aufmerksam machen. Anfangs geschah dies durch eine „neben dem Telefonapparat hängende Trillerpfeife“, sagt Fürnweger. Die Teilnehmer pfiffen in die Sprechmuschel und in der Vermittlungsstelle trat das Fräulein vom Amt in die Leitung ein, sobald sie das Signal akustisch wahrgenommen hatte.

Doch schon bald wurden die Apparate mit Kurbelinduktoren ausgestattet. Sobald der Teilnehmer die Stimme der Vermittlungskraft in seinem Hörrohr vernahm, teilte er ihr den gewünschten Gesprächspartner mit. Nach Ende des Gespräches musste der Teilnehmer wieder den Kurbelinduktor betätigen, um das Ende des Gespräches zu signalisieren. „Man hat das Gespräch abgeläutet.“


ORF/Schwarzwald-Sailer
Ein Verbindungskasten, mit dem die Gespräche vermittelt wurden

Einen offiziellen Zeitzähler gab es damals übrigens noch nicht. Zu Beginn des Gesprächs wurde die Zeit gestoppt, nach drei Minuten wurde das Telefonat beendet. „Ohne Rücksicht auf Verluste“, ergänzt Fürnweger. Wollte man länger reden, musste man noch ein Gespräch anmelden. Erst im Laufe der Zeit wurden Uhren installiert, damit nach der gesprochenen Zeit abgerechnet werden konnte.

Fortsetzung siehe Teil 2:


Technik schickt Fräulein vom Amt in Pension
 

josef

Administrator
Mitarbeiter
#58
„100 JAHRE NIEDERÖSTERREICH“
Technik schickt Fräulein vom Amt in Pension - Teil 2:
Die ersten Privattelefone
Die erste Konzession für so ein Telefon wurde in Österreich mit Erlass vom 3. Juni 1881 vom k.k. Handelsministerium an die Wiener Privat-Telefongesellschaft vergeben, und zwar für den Betrieb von Telefonanlagen innerhalb eines um den Stephansdom als Mittelpunkt gedachten Kreises von 15 Kilometer Radius. Die erste Fernsprechvermittlungsstelle befand sich im ersten Wiener Gemeindebezirk und wurde am 1. Dezember 1881 mit 154 Teilnehmern in Betrieb genommen.

Zu den ersten Telefonkunden gehörte das Ringtheater in Wien. Als in der Nacht vom 8. auf den 9. Dezember 1881 der verheerende Brand mit fast 400 Toten ausbrach, war der Telefonanschluss gerade acht Tage alt. Helfen konnte er nicht: weder Feuerwehr noch Polizei verfügten damals über ein Telefon. „Der Brand des Ringtheaters war allerdings der Anlass für die öffentlichen Stellen, sich auch bei der Wiener Privat-Telefongesellschaft um einen Telefonanschluss zu bewerben.“

Zierde und Statussymbol
1882 gab es schon fast 1.000 Teilnehmer, allerdings befanden sich darunter fast ausschließlich wichtige Geschäftsleute, die untereinander Kontakt hatten, wie Fürnweger erklärt: „Ein Privater konnte sich das nicht leisten, das hat ein irrsinniges Geld gekostet.“ Das Telefon war deshalb einst auch ein Ziergegenstand. „Es wurde so platziert, dass man es vom Eingang sofort gesehen hat, man sollte erkennen, ich kann mir ein Telefon leisten.“

Fotostrecke mit 13 Bildern
ORF/Schwarzwald-Sailer
Lange Zeit waren Telefone nur Reichen vorbehalten
ORF/Schwarzwald-Sailer
In vielen Haushalten galt ein eigenes Telefon deshalb auch als Ziergegenstand
ORF/Schwarzwald-Sailer
ORF/Schwarzwald-Sailer
Gerhard Fürnweger präsentiert das erste Telefon, bei dem man die Vermittlungskraft noch rufen musste
ORF/Schwarzwald-Sailer
Hier wurden die Gesprächsteilnehmer vom Fräulein vom Amt händisch verbunden
ORF/Schwarzwald-Sailer
Nach drei Minuten wurden die Gespräche einst getrennt
ORF/Schwarzwald-Sailer
Solche Telefonmasten mussten einst auf den Häusern installtiert werden, damit die Leitungen durch den Ort weitergeleitet werden können
ORF/Schwarzwald-Sailer
Ein ehemaliges Faxgerät
ORF/Schwarzwald-Sailer
Ein österreichweites Telefonbuch aus dem Jahr 1928
ORF/Schwarzwald-Sailer
Weil früher nicht jeder eine eigene Uhr hatte, konnte man etwa vom öffentlichen Telefon aus die „Zeit“ anrufen
ORF/Schwarzwald-Sailer
Die Entwicklung der Telefone
ORF/Schwarzwald-Sailer
ORF/Schwarzwald-Sailer
Eines der ersten mobilen Telefone im Kofferformat

Die k.k. Post- und Telegraphenverwaltung blieb zum neuen Medium vorerst auf Distanz und sah keinen Grund, die Telefonie als Nachrichtenmedium anzuerkennen und sie in ihre Aktivitäten einzubeziehen. „Der Staat hatte damals kein Interesse.“ Man stand auf dem Standpunkt, dass Telefonleitungen nichts anderes seien als telegraphische Verbindungen mit akustischen Apparaten.

Vom Privat- zum Staatstelefon
„Erst als man erkannt hat, dass das ein Riesengeschäft ist, hat man alles zurückgekauft“, schildert der Unternehmenshistoriker weiter. Dabei war die Tatsache besonders interessant, dass es mittlerweile möglich war, auf ein und derselben Leitung zu telegraphieren und zu telefonieren. Dadurch ersparte man sich die Errichtung eigener Telefontrassen.

Im August 1886 wurde die erste „Reichstelegraphenlinie“ in Betrieb genommen. An die Telefonzentrale waren die Börse, die Fruchtbörse, das Reichsratsgebäude sowie einige Banken und staatliche Stellen angeschlossen. Auch in Brünn konnten einige Banken und Zeitungsredaktionen über Fernleitungen erreicht werden. Allerdings gab es keine Verbindung zwischen dem staatlichen Netz und den Privatnetzen.

Ein Telefon für die Sommerfrische
Knapp ein Jahr nach Eröffnung der ersten Fernlinie Wien-Brünn war das erste staatliche Telefonnetz betriebsbereit. Dazu wurde das Post- und Telegraphenamt der beliebten Sommerfrische Reichenau an der Rax (Bezirk Neunkirchen) als Telefonzentrale eingerichtet, an die als öffentliche Sprechstellen die Postämter Payerbach, Hirschwang und Prein sowie das Gasthaus in Kaiserbrunn, das Baumgartnerhaus auf dem Schneeberg und das Carl-Ludwig-Haus auf der Raxalpe angeschlossen waren.

Fotostrecke mit 5 Bildern
Archiv Telekom
Das Postamt in Küb
Archiv Telekom
Wollte man hier telefonieren, musste man zuerst ein Gespräch anmelden...
Archiv Telekom
...dann bekam man eine Telefonzelle zugewiesen, in den kleineren Orten gab es anfangs meiste ohnehin nur eine Zelle
Archiv Telekom
Archiv Telekom
In späteren Jahren wurden auch öffentliche Telefonanlagen aufgestellt

Im Laufe des Jahres 1888 erbaute die k.k. Telegraphenverwaltung in der Nähe Wiens neun weitere Telefonzentralen (Baden, Vöslau, Mödling, Wiener Neustadt, Neunkirchen, St. Pölten, Liesing, Rabenstein und Singerin-Naßwald). Die Telefonteilnehmer konnten allerdings nur innerhalb ihres Netzes telefonieren.

Dies änderte sich erst, als die k.k. Telegraphenverwaltung den Bau von Überlandleitungen in Angriff nahm. Nach den erfolgreichen Versuchen mit den Leitungen nach Brünn wurden in rascher Folge an der Südbahn liegende Orte mit Wien verbunden und Leitungen nach Prag (1890), Triest (1892) und St. Pölten (1893) hergestellt.


Archiv Telekom
Eine Freileitung von St. Pölten nach Wilhelmsburg

Qualitätsprobleme
Die damals als Freileitungen verlegten Telefondrähte waren sehr störanfällig. Der Grund: Zunächst wurden Aluminium- anstatt Kupferdrähte verwendet, die bei Bewegung Geräusche erzeugten. „Bei einem Sturm hat man fast nichts mehr verstanden, und wenn die Drähte zusammenschlugen, gab es einen Kurzschluss.“ Doch schon ein Telefonat quer durch Wien hatte kaum Erfolg, „weil die Lautstärke pro Kilometer um ein Dezibel abgenommen hat.“

Das erste unterirdisch verlegte Fernkabel führte ab 1926 von Wien über St. Pölten und Linz nach Nürnberg. Trotz des fortschreitenden Ausbaues lag Österreich im internationalen Vergleich gesehen eher am unteren Ende der Skala. Entfiel in den Städten Paris, Berlin oder Rom Ende 1885 auf etwa 40 Einwohner ein Fernsprechteilnehmer, kam in Wien nur auf etwa 1.050 Einwohner ein Fernsprechteilnehmer.

Ankäufe aller Privatnetze
Da der Staat den Telefonbetrieb von nun an gänzlich selbst in die Hand nehmen wollte, musste er mit dem Rückkauf der erteilten Konzessionen beginnen. „Das Personal wurde über Nacht zu Beamten.“ Ab 1. Jänner 1895 befand sich das gesamte österreichische Fernsprechnetz im Besitz der Staatsverwaltung. Das Netz umfasste 154 Kilometer Leitungen mit 35.493 Meter Draht. An Personal waren damals 334 Telefonistinnen und 160 Telefonarbeiter beschäftigt.



Im Jahr 1900 besuchte Kaiser Franz Joseph die Telefonzentrale in der Wiener Berggasse. Er brachte allerdings nur mäßiges Interesse für die technischen Einrichtungen auf, da er eine Abneigung gegen alles „Neumodische“ hatte, wie Fürnweger sagt. Der Kaiser nannte übrigens auch einen Telefonanschluss in der Hofburg sein Eigen, den er persönlich allerdings kein einziges Mal benutzte.

Die Teilnehmerzahlen entwickelten sich rasant nach oben. Beim Start im Jahr 1881 waren 154 Teilnehmer registriert, zehn Jahre später waren es bereits 11.095 und 1901 nahmen 34.651 Abonnenten am nunmehr aus dem Geschäftsleben nicht mehr wegzudenkenden Dienst teil. Allerdings blieb das Telefonieren sehr personalintensiv.

Nacht- und Wochenendruhe
Zudem konnte man nur während der offiziellen Amtsstunden telefonieren, „wenn das Personal da war. In der Nacht oder am Wochenende konnte man nicht telefonieren“, merkt Fürnweger an. Deshalb wurde 1929 in Klosterneuburg (Bezirk Tulln) österreichweit das erste Wählamt in Betrieb genommen. Dabei konnten wichtige Nummern, wie etwa die eines Spitals oder des Gemeindearztes, an „die übergeordnete Telefonzentrale durchgeschaltet werden. Das war ein Versuch, der sich bewährt hat.“


ORF/Schwarzwald-Sailer
Die Eidesformel für die Beamten der Post- und Telegrafenverwaltung

Das war der letzte Zwischenschritt zur Vollautomatisierung, also der Anschluss jedes Haushalts an das Telefonnetz. Wann diese konkret begann, sei heute nicht mehr festzustellen, sagt Fürnweger, „während des Krieges sind dazu viele Unterlagen verlorengegangen.“ Doch der Abschluss ist mit Karlstein an der Thaya belegt. „Das war reiner Zufall, man hat zuerst dort ausgebaut, wo es mehrere Anschlüsse gab, eine Rotte mit ein paar Einwohnern wurde nicht bevorzugt.“

Freier Telefonverkehr
Ab 1972 konnten aber alle damals 1,16 Millionen Telefonkunden quer durch Österreich miteinander telefonieren – sofern es freie Leitungen gab. Denn trotz Vollautomatisierung waren Fernleitungen, aber auch Ortsnetze oft stundenlang besetzt. Es fehlte an Wählämtern und leistungsfähigen Telefonverbindungen.

Zudem mussten sich damals meist mehrere Haushalte einen Telefonanschluss teilen – es gab also halbe oder Viertelanschlüsse. „Wenn ein anderer gesprochen hat, konnte man selbst nicht telefonieren, dann war die Leitung blockiert“, erinnert sich Zauner. Wer sich mit wem einen Anschluss teilte, sei erst im Laufe der Zeit bekannt geworden. „Aber jeder, der es sich leisten konnte, wollte ein Telefon haben.“

Blockierte Leitungen
Laut Fürnweger wurden die geteilten Anschlüsse auch aus Kostengründen initiiert. So gab es von Beginn an auch ganze Anschlüsse, die aber vor allem Kaufhäusern oder Geschäftsleuten vorbehalten waren. Für viele Private sei die Grundgebühr zu hoch gewesen: „Und wenn ich einen Viertelanschluss habe, konnte ich die Kosten teilen, dadurch hatten auch wenig Begüterte eine Chance.“

Die Teilnehmer eines Viertelanschlusses mussten sich aber verpflichten, eine gewisse Stundenanzahl nicht zu überschreiten. „Sonst wurde ihnen nach Möglichkeit ein ganzer Anschluss gegeben, oder sie wurden verwarnt. Wenn das auch nicht funktioniert hat, dann hat man ihnen den Anschluss wieder weggenommen.“
Furcht vor mithörenden Nachbarn
Manche befürchten damals, dass die Nachbarn heimlich mithören. Doch das sei vom Gesetz her verboten und nicht möglich gewesen, versichert Fürnweger: „In Österreich gibt es das Fernsprechgeheimnis, das stellt sicher, dass kein Unbefugter Gespräch mithören konnte.“ Einzige Ausnahme war die Vermittlungskraft, „und die haben das teilweise wohl auch gemacht, wie man aus Filmen kennt.“

Die Anschlüsse zu den Apparaten waren sogar plombiert, so Fürnweger, weil es immer wieder „sehr findige Köpfe“ gab, die die Anlagen manipuliert und danach „auf Kosten der anderen telefoniert haben“. Für Staunen und Aufregung sorgte schließlich so manche hohe Telefonrechnung, daraufhin wurden Techniker wie Fürnweger, der damals selbst einer war, zur Überprüfung der anderen drei Anschlüsse gerufen.

Der Technikexperte kennt auch einen beliebten Trick, wenn man damals einen blockierenden Teilnehmer aus der Leitung werfen wollte, und zwar mit einer Stecknadel. Denn im Telefonkabel „gibt es eine A- und B-Ader, und wenn man eine der beiden mit der Erdleitung verbunden hat, dann ist der andere aus der Leitung gefallen“. Im Zuge der Kontrollen fielen den Technikern auch diese Löcher immer wieder auf.

Manipulationsreiche Münzautomaten
Sehr manipulationsanfällig waren auch die Münzautomaten, deren gelb-schwarze Holzzellen vielerorts das Stadtbild bis in die 1970er-Jahre prägten. So wurden einerseits Löcher in eine Schillingmünze gebohrt und mit einer Schnur befestigt, damit man diese nach Ablauf der Zeit wieder rausziehen konnte. „Das Problem haben wir insofern gelöst, dass wir Rasierklingen im Inneren angebracht haben.“

Andererseits konnte man bei manchen Münzautomaten die Anzeige mit einem Feuerzeug manipulieren, weiß Fürnweger: „Die Menschen waren sehr erfinderisch, aber wir haben die Münzer dann immer an Standorten ausprobiert, wo die Leute viel Zeit und Ideen hatten.“ Mithilfe eines zweiten, firmeninternen Zählers konnten so schnell Tricks auffliegen.

Das Telefon wird mobil
Bislang war nur vom Festnetztelefon, also dem ortsgebundenen Telefon die Rede. Mit der zunehmenden Mobilisierung der Österreicherinnen und Österreicher entstand der Bedarf, auch „unterwegs“ erreichbar sein. In den Nachbarländern hatte man inzwischen bereits erste Erfahrungen mit Autotelefonen gemacht. Die Länder Deutschland, Österreich und Luxemburg schlossen sich zusammen und begründeten ab 1974 das sogenannte B-Netz. Teilnehmer dieses Netzes konnten in allen beteiligten Ländern telefonieren.
Das B-Netz wies aber einige Mängel auf. „Unter anderem musste man wissen, in welchem Funkbereich sich der gewünschte Teilnehmer aufhielt, um ihn anrufen zu können“, erzählt Fürnweger. Zudem füllte so ein Apparat damals einen ganzen Kofferraum. „Da haben nicht mal mehr Schneeketten hineingepasst, und teilweise war das Autotelefon teurer als das Auto selbst.“

1984 wurde das Nachfolgesystem, das C-Netz, in Betrieb genommen, das unter einer bundesweit einheitlichen Vorwahl zu erreichen war. „Die Geräte waren mittlerweile sehr handlich, in einem kleinen Koffer, die Gebühren waren moderat, aber an der Staatsgrenze war Schluss.“
Weil das „weltweite“ GSM noch nicht zur Verfügung stand, musste ab 1990 als Übergangslösung das D-Netz eingeschaltet werden. Dieses System fand, nicht zuletzt wegen der handlichen kleinen Geräte („Handys“) bald regen Zuspruch. Ab 1996/97 erfolgte auch am Mobilfunksektor eine Liberalisierung.

Illegale Funktelefone
Funktelefone waren in den 1970er-Jahren übrigens begehrte Mitbringsel von Überseereisen. „Da diese Geräte in Österreich allerdings nicht zugelassen waren – sie arbeiteten auf Frequenzen, die in Österreich anderen Diensten vorbehalten waren – kam es immer wieder zu Einsätzen der Funküberwachung“, erzählt Fürnweger. Die betreffenden Geräte wurden konfisziert, die Benutzer der Geräte hatten mit Strafvorschreibungen zu rechnen.

„Die ersten Handys waren auch sehr umständlich, das war auch nicht jedermanns Sache“, schildert der 87-jährige Josef Zauner im Rückblick. Bei den Münzautomaten musste man „immer genügend Schillingmünzen eingesteckt haben.“ Doch durch die technische Entwicklung hat sich in den 50 Jahren seit der Vollautomatisierung „sehr viel geändert“ und mittlerweile ist man durch das Handy „mit der Welt verbunden“.
27.06.2022, Stefan Schwarzwald-Sailer, noe.ORF.at
Technik schickt Fräulein vom Amt in Pension

Link zum "Österreichisches Post- und Telegraphenmuseum" im Kammerhof Eisenerz
 
Zuletzt bearbeitet:

HF130C

Well-Known Member
#59
Danke für den letzten Betrag. Als ein klein wenig Kundiger im Bereich historischer Fernmeldetechnik sträuben sich bei mir die Nackenhaare, wenn ich die ausgeklappten Texte lese.

Hier werden aus Unwissenheit oder "journalistischer Freiheit" Dinge präsentiert, die einfach falsch sind und den unbedarften, aber interessierten Betrachter eine völlig falsche Vorstellung geben, wie sich die historische Fernmeldetechnik entwickelt hat.

Alle Ungereimtheiten in dem Artikel aufzuführen würde den Rahmen sprengen - drei greife ich für Interessierte heraus:

---> Im ersten Teil: "nach den Damen wurde gepfiffen" - das ist ein erfundenes Geschichterl: Bereits 1881 gab es den Gleichstrom-Batterieruf, d.h. die Apparate hatten eine Taste zum Rufen nach der Zentrale und einen Gleichstromwecker im Gerät. Also Ruf der Zentrale mit der Taste, kein Pfeiferl! Die reißerische "Pfeiferltheorie" richtet sich schon von selbst, da die Vermittlungsdame die z.B. 30 Leitungen zu stöpseln hatte, ja keine 30 Hörer am Tisch hatte, um denjenigen Anrufer hören zu können, der gerade an"pfeift". Und alle 30 Leitungen auf einen Hörer zusammenlegen geht technisch nicht. Das schwache Signal vom Teilnehmer würde sich in den verbundenen übrigen 29 Leitungen verlieren.
Also schade dass da so ein Unsinn im "Bildungs-ORF" erzählt wird! Und solche Fehlmeldungen findet sich dann dank Internet immer wieder in zukünftigen Beiträgen, in Abschlussarbeiten, Ausstellungen und irgendwann in Museumsführern und in 30 Jahren ist das "belegtes Wissen" und niemand ist mehr da, der die Fehlinformation richtig stellen kann.

Freilich hat das mit dem Pfeiferl schon einen kleinen Wahrheitsgehalt: Pfeifen hatten die allerersten Induktionstelephonhörer, vulgo "Hanteln" wie man eine in Bild 4 im zweiten Teil sieht (die der Herr in der Hand hält). Freilich wieder mit völlig unsinnigem Text "mit der man die Vermittlungsdame rufen musste"
Diese Induktionstelephonhörer waren so niemals an Telefonzentralen anschließbar.

Diese Hanteln konnten nur mit einer Zweidrahtverbindung mit einer zweiten Hantel verbunden werden. Und damit konnte man nun von einer zur anderen Hantel telefonieren - nicht mehr und nicht weniger. Da die Hantel den tonfrequenten Strom selbst durch einen Permanentmagnet und eine Blechmembran erzeugt, benötigt sie auch keine Batterie. Und das System kann ohne Umschaltung als Sender und Empfänger dienen, je nachdem ob man reinspricht oder hört. Deswegen gibt es auch nur eine Schallöffnung zur Membran.

Jetzt kommt das Pfeiferl ins Spiel: Genau bei so einer Zweierhantelverbindung gab es aber keine Klingel oder sonst ein Mittel, um den entfernten Partner auf den Gesprächswunsch aufmerksam zu machen. Ein findiger Kopf erfand eine Aufsteckpfeife für die Schallöffnung vor der Membran, die nach dem System einer Zungenpfeife einen relativ tiefen Ton erzeugen konnte. Wenn nun der eine Partner da reinblies, war auf der anderen Seite zwar was zu hören, aber da hätte man schon im ganz stillen Kämmerlein lauern müssen, um das aus 1m Entfernung zu vernehmen. Da hätte man gleich laut reinschreien können anstelle zu pfeifen. Jetzt kommt der geniale Trick: In den Pfeifenkörper ist ein Loch gebohrt, in dem ein loser Stift mit einer kleinen Kugel am Ende steckt. Wenn man die Pfeife auf die Schallöffnung steckt und die Hantel aufrecht auf den Tisch stellt, dann fällt das Blechkugerl durch den Stift gehalten runter und liegt auf der Membran auf. Und wenn jetzt der andere in seine Hantel pfeift, dann fängt das Kugerl beim Empfänger auf der schwingenden Membran zu Tanzen und Prellen an und es gibt ein deutlich hörbares schnarrendes Geräusch.
Eine geniale Idee, die es verdient hätte, ohne falsche reißerische Fakten im Bildungs-ORF präsentiert zu werden!

Sogar das Militär hat solche Hantelverbindungen zwischen 2 Orten genutzt, es gibt dafür extra Transportkoffer für den Feldgebrauch, natürlich auch für die Aufbewahrung des Pfeiferls.

Für mehr als ein paar hundert Meter Entfernung war so eine Hantel aber nicht tauglich. Die bald danach aufkommenden batteriegespeisten Kohle- oder Kontaktmikrophone schaffen hier Abhilfe. Die Hanteln wurden dann weiter als reine Hörer genutzt, dafür waren sie gut geeignet. Das Bauprinzip wird neben anderen bis heute für Lautsprechersysteme aller Art verwendet.

---> Erstes Bild zweiter Teil: Wenn man von österreichischer Telefongeschichte schreibt, sollte man nicht unbedingt ein einst in Dänemark eingesetztes schwedisches Ericsson Skeletttelefon an prominenter erster Stelle zeigen ...... Es gab natürlich auch in Österreich diese damals sehr populäre Bauform, jedoch nach österreichischen Anforderungen gebaut, etwa von Kapsch, J. Berliner, und natürlich Ericsson Wien. Die sahen aber völlig anders aus. Das Gerät hat in dem Artikel über Österreich nichts verloren.

---> Das sogenannte Ziertelefon am zweiten Bild im zweiten Teil ist der grauenhafte Versuch eines Händlers, mehr Geld für so einen Apparat zu erzielen: Es handelt sich um einen Typ Ö10, eine Staatstype, die in großer Anzahl von etlichen Firmen nach denselben Staatspost-Vorgaben jahrelang gebaut wurde. Von dieser optisch ansprechenden Ö10 Type gibt es dank nur weniger moderner Ortsbatterie-Nachfolgertypen eine hohe Zahl erhaltener Geräte und nahezu kein Antik-Flohmarktbesuch, wo nicht einige dieser Apparate zum Kauf angeboten werden. Kein Wunder, waren diese doch von der Post bis in die 1960er weitläufig in Verwendung und wurden nach dem Austausch auf neuzeitliche Endgeräte nur vereinzelt zurückgeholt.
Dementsprechend ist der Markt übersättigt, und man sollte eher nicht mehr als 100,-- für ein halbwegs intaktes Gerät auslegen. Wie kann man aber nun den Preis erhöhen? Ganz einfach: Man entfernt die Lackierung, vernickelt das Gehäuse, schraubt ein (telefonhistorisches Fantasie-) Wappen drauf und wartet auf jemanden der das für teures Geld kauft. Ich habe genau diese Ausführung auch einige Male auf Flohmärkten gesehen .....
So etwas in einem Fachartikel als authentisches "Luxustelefon" betuchter Leute zu bezeichnen zeugt von völliger Unkenntnis oder ist es Desinteresse an dem Thema, an dem man schreibt? Das Gerät würde sich super für "Kurioses" eignen, hat auch in einem Museum nichts verloren, außer in einem Kuriositätenkabinett.

Eins noch: Mich erschreckt die Tatsache, dass ich bei 99% der (technischen, historischen) Themen, die die Medien uns präsentieren, nicht dieses sehr spezielle Detailwissen habe und die unzähligen Fehler (von problematischen Vereinfachungen rede ich da nicht) somit gar nicht finden hätte können und einfach darauf vertraut hätte, dass hier für mich neue Erkenntnisse niedergeschrieben wurden, bei denen es sich lohnt, sich diese zu merken und auch bei Bedarf weiterzugeben.
Aber: Wenn die Artikel, bei deren Themen ich mich nicht so detailliert auskenne, auch so ein Unfug sind? Muss man heute alles in Zweifel ziehen, was von serösen Quellen und noch dazu unter Mitwirkung von Museen veröffentlicht wird? Gibt es hierzu Erfahrungen?
 
Oben