Vor 70 Jahren wurde DDR-Revolte für die Freiheit durch sowjetische Panzer niedergeschlagen

josef

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ZEITGESCHICHTE
70 Jahre DDR-Revolte für die Freiheit
Am 17. Juni 1953 gingen in der DDR Millionen Menschen auf die Straße, um gegen das SED-Regime zu protestieren. Der Arbeiter-und-Bauern-Staat schien am Ende, sowjetische Panzer schlugen den Aufstand brutal nieder

Steine auf Panzer: Das Bild wurde zum Symbol für den Aufstand.
imago images / Photo12

An die Vormittagsstunden des 17. Juni 1953 kann sich Hubert Draegert noch gut erinnern. "Ich war damals 17 Jahre alt, es war ein sonniger Tag, und ich saß gerade im Deutschunterricht." Doch plötzlich durchbrach ungewohnter Lärm die Stille im Berliner Stadtteil Wedding, der unter französischer Besatzung stand. "Wir rannten zum Fenster und sahen hunderte Menschen in Richtung Stadtzentrum ziehen", sagt Draegert.

Aufgebrachte Arbeiter
Auf den Beinen waren aufgebrachte Arbeiter und Arbeiterinnen aus dem Stahlwerk Hennigsdorf. Dieses lag nordwestlich von Berlin in der 1949 gegründeten DDR.
"Die Hennigsdorfer kommen!", so lautete ihr Schlachtruf. An Unterricht war nicht mehr zu denken. Draegert schnappte sich sein Fahrrad, schloss sich dem Pulk an und sah Erstaunliches.

Am Übergang zum russischen Sektor rissen die Demonstranten das Neue Deutschland, das Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei der DDR (SED), aus einem Kiosk und einem DDR-Volkspolizisten (Vopo) die Uniform vom Leib.

Wut in der DDR
"Die Stimmung war aufgebracht, aber es lag so etwas wie Befreiung in der Luft", schildert Draegert das Geschehen. Immer wieder schallten Rufe aus dem Demonstrationszug an jene, die vom Rand aus zusahen: "Kommt mit! Schließt euch an!"
Die Wut in der DDR führte in den Juli 1952 zurück. Da fand die Zweite Parteikonferenz der SED in Ostberlin statt. Der stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates, Walter Ulbricht, verkündete den "planmäßigen Aufbau des Sozialismus".

Der Tod Stalins
Dieser führte die DDR in eine tiefe wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise. Es gab zu wenige Lebensmittel, der LebensStandard sank, die Produktion in der Industrie ebenfalls. Frust und Unzufriedenheit hingegen wuchsen.

Dann starb am 5. März 1953 Josef Stalin. "In Moskau schaute man genau auf die Lage in den abhängigen Staaten. Auch in Ungarn und der Tschechoslowakei bestand Gefahr, dass etwas passieren könnte. Aber nirgendwo war die Gefahr so groß wie in der DDR", sagt der Historiker Jens Schöne, Stellvertreter des Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur im Land Berlin.

Im Mai 1953 setzte die SED-Führung mit der Erhöhung der Arbeitsnormen um 10,3 Prozent bei gleichbleibendem Lohn noch einen drauf.

Missmut im ganzen Land
Dafür musste sie Ende Mai 1953 in Moskau antreten und wurde zu einem moderateren Kurs verdonnert. Als sich die DDR-Vertreter beschwerten, warnte sie der sowjetische Hohe Kommissar Wladimir Semjonow mit seiner Antwort: "In 14 Tagen werden Sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben."

Auf Druck Moskaus nahm das Politbüro der SED dann einige Maßnahmen zum "Aufbau des Sozialismus" zurück, nicht aber die Erhöhung der Arbeitsnormen. Also blieb auch der Missmut im ganzen Land, vom Erzgebirge bis zur Ostsee.

"Mit dem 17. Juni 1953 verbinden viele den Aufstand in Berlin. Tatsächlich aber entlud sich die Wut der Bauern schon ab dem 12. und 13. Juni im ganzen Land, es gab aktives Aufbegehren in vielen Dörfern, der Druck war hoch", sagt Schöne.

"Es war kein isoliertes Ereignis in der DDR, sondern der erste Aufstand im Ostblock, dem in Ungarn 1956 und Prag 1968 weitere folgten."
Historiker Jens Schöne
Bauern verweigerten die Feldarbeit, Bürgermeister wurden verprügelt. In mehr als 700 Städten, Ortschaften und Betrieben gab es Demonstrationen. Die Menschen forderten nicht nur die Rücknahme der Normenerhöhung, sondern auch freie Wahlen, die Wiedervereinigung Deutschlands und die Freilassung aller politischen Gefangenen. Diese Forderungen des Volkes sendete zunächst auch der RIAS in Berlin, der "Rundfunk im amerikanischen Sektor". Doch dann wurde Egon Bahr, der damalige Chefredakteur und spätere SPD-Politiker, von den Amerikanern angewiesen, das doch zu unterlassen.

"Viele hofften 1953, dass die Amerikaner eingreifen. Aber sie taten es nicht, es herrschte Kalter Krieg. Niemand hatte Interesse an einer Eskalation", sagt Historiker Schöne.


Hubert Draegert mischte sich am 17. Juni 1953 unter die Berliner Demonstranten.
B. Baumann
In Berlin erreichte Hubert Draegert am 17. Juni gegen Mittag das Columbushaus am Potsdamer Platz, in dem eine Polizeiwache war.

Polizisten auf der Flucht
Angesichts der Protestierenden warfen die Volkspolizisten "ihre Uniformen aus dem Fenster, zogen Zivilanzüge an, winkten den Demonstranten zu und liefen in den britischen Sektor", schrieb die Berliner Morgenpost über die Ereignisse. Doch auch in der Menge hatte sich die Stimmung gewandelt. "Von Aufbruch war nicht mehr viel zu spüren, als der erste Panzer zu sehen war, bekamen viele Angst, man merkte, die Schlinge zieht sich enger", erinnert sich der 87-Jährige.

In ganz Berlin waren mittlerweile rund eine Million Demonstrantinnen und Demonstranten auf den Beinen. Viele riefen "Wir wollen Freiheit, Recht und Brot, sonst schlagen wir die Bonzen tot".

Niedergeschlagener Aufstand
Gegen 13 Uhr verhängten die Sowjets in Berlin und weiten Teilen der DDR das Kriegsrecht. Panzer rollten, der Aufstand wurde von den sowjetischen Truppen gewaltsam niedergeschlagen.

Belegt ist der Tod von 51 Männern und vier Frauen. Die meisten von ihnen – genau 34 – starben durch Schussverletzungen. Einige wurden hingerichtet oder überlebten die Haft nicht. Auch fünf DDR-Sicherheitskräfte wurden getötet.

Höchst unterschiedlich fielen die Reaktionen aus. Während die SED im Osten erklärte, der Putschversuch sei aus dem Westen gesteuert worden, wurde der 17. Juni in der Bundesrepublik zum Nationalfeiertag ausgerufen. Er blieb es bis zur Wiedervereinigung 1990. Und noch heute trägt die zentrale Verbindungsstraße durch den Tiergarten den Namen "Straße des 17. Juni".

Gedenken wichtig
Auch wenn der Aufstand nun schon 70 Jahre her ist, hofft Schöne, dass das Gedenken aufrechterhalten wird. Denn: "Es war kein isoliertes Ereignis in der DDR, sondern der erste Aufstand im Ostblock, dem zum Beispiel in Ungarn 1956 und in Prag 1968 weitere folgten. Daher ist es wichtig, dass wir uns daran erinnern, zumal die deutsche Geschichte nicht sonderlich reich an Freiheitsbewegung ist."

1961 wurde die Berliner Mauer errichtet, wieder griffen die Amerikaner nicht ein. Das Ende der DDR kam erst am 9. November 1989, als das Volk auf die Straße ging und Moskau nicht mehr eingriff.
(Birgit Baumann aus Berlin, 17.6.2023)
70 Jahre DDR-Revolte für die Freiheit
 
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