Tagesspiegel, 25.11.03
Das ganze Zerfallswissen dieser Welt
Zum Lehrgang bei der ersten „Atommüll-Schule“ in einem Schweizer Stollen – Klassenziel: Wie funktioniert die Endlagerung?
Von Deike Diening, Meiringen
Sein Arbeitsplatz liegt 450 Meter unter dem Fels und zugleich 1730 Meter über dem Meer. „Ich zweifle immer noch, ob das möglich ist mit den Endlagern“, sagt Toni Baer. Baer ist ein gesunder, freundlicher Mann mit gebräuntem Gesicht. Und das, obwohl er hier, im Granitstollen an seinen Arbeitstagen seit 20 Jahren kein Tageslicht sieht. Baer muss eine Schweizer Passstraße oberhalb von Meiringen nehmen, um heraufzukommen, und bei schlechter Witterung die Seilbahn. Eine Tunnelfräsmaschine hat zwei Kilometer Stollen säuberlich in das Granitgestein gegraben. Darin herrschen konstante 13 Grad Celsius, egal, was oben in der Welt passiert. Es ist die Forschungsstation Grimsel, und Toni Baer ist ihr Techniker. Näher kann man der Idee des atomaren Endlagers zurzeit nicht kommen.
Die Schweizer, die Meister der Tunnel, der Tresore und der Bunker, haben eine weltweit einzigartige Schule gegründet. Sie nennt sich ITC, „School of Underground Waste Storage and Disposal“, kurz, eine Schule dafür, wie man atomaren Müll in den Untergrund schafft. Sie hat ihren Sitz im kleinen Innertkirchen, aber sie richtet sich an die ganze Welt. An alle, die zu Endlagern forschen, sie begutachten, bewilligen oder bauen. Ein Endlager soll immerhin eine Million Jahre halten.
Denn die Probleme des „geologischen Tiefenlagers“ sind auf der ganzen Welt ähnlich. Es fängt schon mal damit an, dass es noch gar keines gibt. Keines in Deutschland, keines in der Schweiz, in England oder Frankreich. Seit über vierzig Jahren wird geforscht, ob Granit, Salz oder Ton den richtigen Untergrund bildeten für strahlende, Wärme entwickelnde Abfälle. Aber wenn es so weit ist, will niemand ein Endlager in seiner Nähe wissen. Wie eine heiße Kartoffel halten sie deshalb den Müll in der Luft. Sie schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu, können nicht entscheiden, entscheiden um. Und noch bevor das erste Lager steht, geht die erste Atomgeneration in Pension. Die Hexenmeister verlassen die Bühne, bevor die Zauberlehrlinge alle Sprüche kennen.
Hier, an der Schule, soll nun all das Wissen vernetzt werden, das in der Welt zum Thema Endlager existiert: die Forschungen der Schweden, die Erfahrungen der Deutschen, die Ansichten der Japaner. Nicole Schubarth-Engelschall ist vom Bundesamt für Strahlenschutz. Als sie geboren wurde, lag der Müll schon da. Im Jahr 2000 gab es allein in Deutschland über eine Million Kubikmeter radioaktiven Müll – dazu kommen noch 2000 Kubikmeter Wärme entwickelnde Abfälle. Die Geologin, 30 Jahre alt, ist ebenfalls im Stollen bei 13 Grad gelandet, um „zu gucken, was die anderen machen“ und über alternative Standorte zu Gorleben nachzudenken. Wolfgang Kickmaier, der Geologe und Organisator der Schule, sagt, man müsse die Erfahrungen koordinieren. Sonst mache man ja alles doppelt und dreifach auf der Welt.
Knapp 30 Schüler gehören zur ersten Klasse und hören seinem Vortrag zu. Sie unterhalten sich in Abkürzungen. Sie kommen aus Japan, Litauen, Finnland, Rumänien und Deutschland. Die jüngsten sind Mitte 20. Es ist eine erste Klasse, die aus internationalen Experten besteht: Physikern, Geologen, Ingenieuren. Was man so braucht, um ein Endlager zu bauen. Eine rumänische Nuklearphysikerin im Strickkostüm tippt auf ihre Brust: eine Anstecknadel von Tschernobyl leuchtet darauf, das war einmal ihr Arbeitsplatz. Auf ihrer Umhängetasche steht „Nuclear Energy in Romania“, und sie ist froh, dass man sie eingeladen hat, in ein Land, das mehr Geld für Entsorgung ausgeben kann als Rumänien. Denn hier wird geforscht und präsentiert nach Industrieländerart mit Grafiken, Power-Point-Präsentationen und ausfahrbarem Zeigestock. In einem Punkt sind sich alle Teilnehmer des Seminars einig: Das Problem aus der Welt zu schaffen heißt, es ganz weit in sie hinein zu schaffen. Ins geologische Tiefenlager. Irgendwann zerfällt es dann von selbst. So weit der Plan.
Die Slowakei nickt kurz. Auch Asien dämmert am Rande zum Schlaf. Kein Wunder, wenn man bedenkt, was sie hier in drei Wochen zu verdauen haben: Die Schweizer berichten von ihren Experimenten im Stollen, wie sie mit einem Heizer versuchen, die Wärme entwickelnden Abfälle zu simulieren. Sie beobachten, welche natürlichen Stoffe im Gestein die Radionuklide beschleunigen und welche ihren Transport behindern. Sie erzählen, dass der Mensch – als künstliche Barriere – Zement und Bentonit einbaut. Sie müssen wissen, was mit einem Lager passiert, wenn Gesteinsschichten sich verschieben, wenn Granit in Scherzonen auseinander bricht, wenn Wasser an den Rändern leckt, welche Gase sich entwickeln. Wie man ein Lager überwacht. Wie man in der Bevölkerung für Vertrauen wirbt – was ein ganz heikler Punkt in allen Ländern ist. In der Schweiz gibt es die Nagra, die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle. Sie hat zusammen mit der internationalen Atomenergiebehörde IAEO die Schule angeschoben. Ihr Pressesprecher Heinz Sager steht in der gelblich beleuchteten Station und sagt „Wir sind die Guten“. Die Aufgabe seiner Organisation ist es, für die Schweizer Atomindustrie die Endlager zu bestellen. Die Nagra, sagt er, räumt jetzt quasi nur noch auf, was ohnehin da ist.
Wolfgang Kickmaier, der Geologe und Organisator der Schule, hockt wie ein großer Vogel auf dem Treppengeländer. Sein Oberkörper bleibt stets ruhig, aber zugleich lieben es seine Beine, sich umeinander zu wickeln. Kickmaier – Ehering, keine Angst vor langfristigen Entscheidungen – hatte gesagt, mehr, als man annehmen würde, liege an dem Wort „End“ in Endlagerung. Das sei das grundsätzliche Problem. Es klinge eben so endgültig. Die heutige Generation sei keine mehr, die sich gerne festlegt. Sie habe Angst vor endgültigen Entscheidungen. So, als wäre die nicht längst gefällt, als das erste Atomkraftwerk seine Arbeit aufnahm. Jetzt, sagt Kickmaier, ist das Geld da. Wir haben das Know-how. Warum nicht das Zeug ein für alle Mal loswerden? Toni Baer, der Techniker im Forschungslabor, hatte gesagt: „Und dass wir das wollen, beweisen wir ja jeden Tag, indem wir es produzieren, oder?“
Das ganze Zerfallswissen dieser Welt
Zum Lehrgang bei der ersten „Atommüll-Schule“ in einem Schweizer Stollen – Klassenziel: Wie funktioniert die Endlagerung?
Von Deike Diening, Meiringen
Sein Arbeitsplatz liegt 450 Meter unter dem Fels und zugleich 1730 Meter über dem Meer. „Ich zweifle immer noch, ob das möglich ist mit den Endlagern“, sagt Toni Baer. Baer ist ein gesunder, freundlicher Mann mit gebräuntem Gesicht. Und das, obwohl er hier, im Granitstollen an seinen Arbeitstagen seit 20 Jahren kein Tageslicht sieht. Baer muss eine Schweizer Passstraße oberhalb von Meiringen nehmen, um heraufzukommen, und bei schlechter Witterung die Seilbahn. Eine Tunnelfräsmaschine hat zwei Kilometer Stollen säuberlich in das Granitgestein gegraben. Darin herrschen konstante 13 Grad Celsius, egal, was oben in der Welt passiert. Es ist die Forschungsstation Grimsel, und Toni Baer ist ihr Techniker. Näher kann man der Idee des atomaren Endlagers zurzeit nicht kommen.
Die Schweizer, die Meister der Tunnel, der Tresore und der Bunker, haben eine weltweit einzigartige Schule gegründet. Sie nennt sich ITC, „School of Underground Waste Storage and Disposal“, kurz, eine Schule dafür, wie man atomaren Müll in den Untergrund schafft. Sie hat ihren Sitz im kleinen Innertkirchen, aber sie richtet sich an die ganze Welt. An alle, die zu Endlagern forschen, sie begutachten, bewilligen oder bauen. Ein Endlager soll immerhin eine Million Jahre halten.
Denn die Probleme des „geologischen Tiefenlagers“ sind auf der ganzen Welt ähnlich. Es fängt schon mal damit an, dass es noch gar keines gibt. Keines in Deutschland, keines in der Schweiz, in England oder Frankreich. Seit über vierzig Jahren wird geforscht, ob Granit, Salz oder Ton den richtigen Untergrund bildeten für strahlende, Wärme entwickelnde Abfälle. Aber wenn es so weit ist, will niemand ein Endlager in seiner Nähe wissen. Wie eine heiße Kartoffel halten sie deshalb den Müll in der Luft. Sie schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu, können nicht entscheiden, entscheiden um. Und noch bevor das erste Lager steht, geht die erste Atomgeneration in Pension. Die Hexenmeister verlassen die Bühne, bevor die Zauberlehrlinge alle Sprüche kennen.
Hier, an der Schule, soll nun all das Wissen vernetzt werden, das in der Welt zum Thema Endlager existiert: die Forschungen der Schweden, die Erfahrungen der Deutschen, die Ansichten der Japaner. Nicole Schubarth-Engelschall ist vom Bundesamt für Strahlenschutz. Als sie geboren wurde, lag der Müll schon da. Im Jahr 2000 gab es allein in Deutschland über eine Million Kubikmeter radioaktiven Müll – dazu kommen noch 2000 Kubikmeter Wärme entwickelnde Abfälle. Die Geologin, 30 Jahre alt, ist ebenfalls im Stollen bei 13 Grad gelandet, um „zu gucken, was die anderen machen“ und über alternative Standorte zu Gorleben nachzudenken. Wolfgang Kickmaier, der Geologe und Organisator der Schule, sagt, man müsse die Erfahrungen koordinieren. Sonst mache man ja alles doppelt und dreifach auf der Welt.
Knapp 30 Schüler gehören zur ersten Klasse und hören seinem Vortrag zu. Sie unterhalten sich in Abkürzungen. Sie kommen aus Japan, Litauen, Finnland, Rumänien und Deutschland. Die jüngsten sind Mitte 20. Es ist eine erste Klasse, die aus internationalen Experten besteht: Physikern, Geologen, Ingenieuren. Was man so braucht, um ein Endlager zu bauen. Eine rumänische Nuklearphysikerin im Strickkostüm tippt auf ihre Brust: eine Anstecknadel von Tschernobyl leuchtet darauf, das war einmal ihr Arbeitsplatz. Auf ihrer Umhängetasche steht „Nuclear Energy in Romania“, und sie ist froh, dass man sie eingeladen hat, in ein Land, das mehr Geld für Entsorgung ausgeben kann als Rumänien. Denn hier wird geforscht und präsentiert nach Industrieländerart mit Grafiken, Power-Point-Präsentationen und ausfahrbarem Zeigestock. In einem Punkt sind sich alle Teilnehmer des Seminars einig: Das Problem aus der Welt zu schaffen heißt, es ganz weit in sie hinein zu schaffen. Ins geologische Tiefenlager. Irgendwann zerfällt es dann von selbst. So weit der Plan.
Die Slowakei nickt kurz. Auch Asien dämmert am Rande zum Schlaf. Kein Wunder, wenn man bedenkt, was sie hier in drei Wochen zu verdauen haben: Die Schweizer berichten von ihren Experimenten im Stollen, wie sie mit einem Heizer versuchen, die Wärme entwickelnden Abfälle zu simulieren. Sie beobachten, welche natürlichen Stoffe im Gestein die Radionuklide beschleunigen und welche ihren Transport behindern. Sie erzählen, dass der Mensch – als künstliche Barriere – Zement und Bentonit einbaut. Sie müssen wissen, was mit einem Lager passiert, wenn Gesteinsschichten sich verschieben, wenn Granit in Scherzonen auseinander bricht, wenn Wasser an den Rändern leckt, welche Gase sich entwickeln. Wie man ein Lager überwacht. Wie man in der Bevölkerung für Vertrauen wirbt – was ein ganz heikler Punkt in allen Ländern ist. In der Schweiz gibt es die Nagra, die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle. Sie hat zusammen mit der internationalen Atomenergiebehörde IAEO die Schule angeschoben. Ihr Pressesprecher Heinz Sager steht in der gelblich beleuchteten Station und sagt „Wir sind die Guten“. Die Aufgabe seiner Organisation ist es, für die Schweizer Atomindustrie die Endlager zu bestellen. Die Nagra, sagt er, räumt jetzt quasi nur noch auf, was ohnehin da ist.
Wolfgang Kickmaier, der Geologe und Organisator der Schule, hockt wie ein großer Vogel auf dem Treppengeländer. Sein Oberkörper bleibt stets ruhig, aber zugleich lieben es seine Beine, sich umeinander zu wickeln. Kickmaier – Ehering, keine Angst vor langfristigen Entscheidungen – hatte gesagt, mehr, als man annehmen würde, liege an dem Wort „End“ in Endlagerung. Das sei das grundsätzliche Problem. Es klinge eben so endgültig. Die heutige Generation sei keine mehr, die sich gerne festlegt. Sie habe Angst vor endgültigen Entscheidungen. So, als wäre die nicht längst gefällt, als das erste Atomkraftwerk seine Arbeit aufnahm. Jetzt, sagt Kickmaier, ist das Geld da. Wir haben das Know-how. Warum nicht das Zeug ein für alle Mal loswerden? Toni Baer, der Techniker im Forschungslabor, hatte gesagt: „Und dass wir das wollen, beweisen wir ja jeden Tag, indem wir es produzieren, oder?“