Wie bereits Rudolf Haunschmied und Martha Gammer seit den 1980er Jahren immer wieder betont haben, ist die Region der Lager und Untertage-Verlagerungen von Langenstein/Gusen und St. Georgen/Esche/Bergkristall weitaus schlechter erforscht als verschiedene andere Lager und NS-Rüstungsprojekte (u.a. wegen der in Gusen extrem hohen Todesrate, daher weniger Zeitzeugen, dann wegen der Kompartimentierung der Information in der NS-Zeit (unterschiedliche Geheimhaltungsstufen), und aufgrund der Verdrängung der lokalen Geschichte). Die Gedenkkultur ist durch die Bemühungen von Haunschmied und Gammer enorm gefördert worden, erst viele Jahre später haben auch offizielle und akademische Stellen (viel zu spät und zögerlich) reagiert. Eine Monographie ähnlich wie über Quarz/Roggendorf (Perz) oder Zement/Ebensee (Florian Freund) scheiterte meines Wissens daran, dass der damit betraute Dissertant damals diese Arbeit nicht vollendete. Es gibt nun ein vom Innenministerium (Mauthausen-Abteilung) übersetztes Werk eines polnischen KZ-Überlebenden (Dobosiewicz), wo einige sehr konkrete Aussagen dem derzeitigen Konsens zur Geschichte von Gusen widersprechen. Ebenso (schriftliche) Aussagen eines anderen Zeitzeugen. Ebenso existiert bekanntlich ein Plandokument, das von der Datierung her "unlogisch" wirkt. Und das "berühmte" Foto der Mariengrube. Und die Stollenliste von 1959. Und der merkwürdige Bericht des Endlager-Experten der 1960er Jahre. Die Liste ist lang, viele dieser Widersprüche werden derzeit als "Zeitzeugen irren sich oft", "das Dokument könnte eine Fälschung sein", "das Foto ist halt irgendwie komisch", "die Beamten in Wien hatten null Ahnung", "der Endlager-Experte war halt verwirrt und schlampert" erklärt. Das ist natürlich alles durchaus möglich. (Ich gehe jetzt nicht auf die Details ein, sonst wirds endlos.) In seriöser Wissenschaft sollte man sich allerdings, bei aller Skepsis gegenüber ungewöhnlichen Hypothesen, nicht ganz der Möglichkeit verschließen, dass es kleine oder manchmal auch fundamentale neue Erkenntnisse geben kann, zuweilen sogar die Geschichte in Teilen umgeschrieben werden muss. Das passiert nicht oft, sogar eher sehr selten, aber doch manchmal. Insofern möcht ich ermuntern, dass nicht gar so sarkastisch unkonventionelle Thesen abgeurteilt werden - was in Kronenzeitung oder gar Daily Mail überzeichnet als totales Geschwafel geschrieben wird, ist nicht das, was Personen tatsächlich gesagt oder gemeint haben. Und wer unvorsichtig mit solcher Journaillie spricht, erlebt seine unerfreulichen Wunder, was einem dann gedruckt in den Mund gelegt wird. (Ich hab jahrelang im Wissenschaftsressort eines Wochenmagazins geschrieben und hab dabei das leibhaftige Grausen kennengelernt, wie in solchen Medien gearbeitet wird.)
Abschließend vielleicht der Gedanke, dass in Rüstungsprojekten unterschiedlich starke Geheimhaltungsstufen und (auch schon damals) eine Kompartimentierung (auf Need-to-Know-Basis) existiert hat, sowie eine exzellente Tarnung von Projekten, und dann in bestimmten Fällen ein Abtransport von sämtlichen Unterlagen durch Alliierte, mit Sperre über Jahrzehnte. Wie unfassbar ist doch zB die Entdeckung, wenn es einem der höchsten Nazi-Massenmörder und Technokraten gelingt, seinen Selbstmord im Mai 1945 dermaßen perfekt zu inszenieren, dass dies bis vor kurzem als Lehrbuchmeinung als relativ gesichert galt. Wobei niemand Interesse hatte darüber zu sprechen, dass einer der Hauptkriegsverbrecher wegen seiner Kenntnisse über Nazi-Rüstungsprojekte unter höchster Geheimhaltung den Nürnberger Prozessen vorenthalten wurde.
Was ich hinsichtlich "Gedenkkultur" insbesondere im Raum Gusen somit erhoffe: Dass nicht nur das Lebendighalten der Erinnerung an den Orten des Geschehens, mit all den "begreifbaren" Spuren, möglich ist, sondern dass auch allen Seiten eine entkrampfte und weniger bissige Umgangsform gelingt, auch was neue Forschungsansätze betrifft. Wenn man die noch unpublizierten Erkenntnisse und Dokumente (noch) nicht kennt, die vor der Publikation logischerweise in jahrelanger Arbeit auf ihre Plausibilität, Echtheit und ihren Entstehungshintergrund geprüft werden müssen, sollte man eine Person oder ein Team, das in Medien oder von Expertenrunden als "Spinner" bezeichnet wird, nicht sofort in Bausch und Bogen verurteilen. Bei aller erlaubten und sinnvollen Skepsis, wenn ungewöhnliche Thesen, verformt durch Klatsch-Zeitungen, an die Öffentlichkeit dringen. - Und umgekehrt sollte man vorsichtig sein, wenn Leute sich ausdrücklich als "Expertenrunde" bezeichnen, so als ob sie es nötig hätten, ihre Expertise zu betonen. Einzelne in dieser (Experten-)Runde waren wirklich gut, fachlich hervorragende Leute. Aber jene, die am lautesten geschrieben und immer wieder verkündet haben, "es sei alles 100prozentig fertig erforscht", sind generell mit Vorsicht zu genießen. Die akademische Forschung in Frankreich um 1800 hat auch Leute herablassend verspottet, die von vom Himmel fallenden Steinen berichtet haben, bis 1803 ein großer Meteoritenschauer über der Normandie niederging. Lassen wir uns überraschen, wie sich die NS-Zeit-Forschungen zur Region um Gusen entwickeln werden.