Mit der Empörung über das Werbevideo der FPÖ-Jugend bekommt eine alte Problemzone der Erinnerungskultur neue Aufmerksamkeit: Seit Jahren pocht das Haus der Geschichte Österreich (hdgö) darauf, den „Hitler-Balkon“ zum aktiven Gedenkort umzugestalten. Direktorin Monika Sommer setzt darauf, „dass steter Tropfen den Stein höhlt“ – und bietet nun „aus aktuellem Anlass“ Sonderführungen an.
„Wir stehen hier, weil so wenig daran gearbeitet wurde. Es ist nicht geglückt, diesem vulnerablen Ort der österreichischen Zeitgeschichte ein anderes Framing zu geben“, so Sommer bei einer Journalistenführung, die sie angesichts des medialen Interesses kurzerhand ins Leben gerufen hatte. Ab 7. September hat Sommer Sonderführungen angesetzt, deren Durchführung sie selbst übernimmt, der Titel: „(K)ein Hitler-Balkon. Zu einer offenen Wunde der Zeitgeschichte“.
Die offene Wunde, das ist der Altan der Neuen Burg, der genau genommen kein Balkon ist, sondern eine weit ausladende, 200 Quadratmeter große Terrasse über dem Gebäudeeingang. Dort hielt Adolf Hitler am 15. März 1938 seine vielbejubelte „Anschluss-Rede“, ein Symbol für den österreichischen „Anschluss“ und darüber hinaus für die nationalsozialistische Expansionspolitik.
Roland Schlager/APA/picturedesk.com
2022 betrat die Holocaust-Überlebende Erika Freeman anlässlich einer Schenkung an das hdgö den Altan – eine Ausnahme
Video der FPÖ-Jugend überschreitet „rote Linie“
Der historisch belastete Gebäudeteil, der direkt an den Sonderausstellungssaal des Hauses der Geschichte angrenzt, aber in die Zuständigkeit der Burghauptmannschaft fällt, ist seit Jahren gesperrt und für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Die zuständige Burghauptmannschaft erteilte zuletzt im Jahr 2021 der Forderung nach einer aktiven Erinnerungspolitik eine Absage und argumentierte mit der fehlenden „notwendigen Verkehrssicherheit“.
Seit letzter Woche ist das Thema nun wieder akut, nachdem ein Werbevideo der FPÖ-Jugend publik wurde. Der gut zweiminütige Clip, der in Rhetorik und Bildsprache stark an Social-Media-Auftritte der Identitären und der Alt-Right erinnert, wurde inzwischen vom Verfassungsschutz bei der Staatsanwaltschaft angezeigt.
Man sieht hier marschierende junge Männer und wenige Frauen, manchmal mit Fackeln in der Hand, man sieht rechtsextreme und rechte Ideologen als geistige Väter, als gesellschaftliche Problematiken werden „Kriminalität“, „Massenmigration“, „Bevölkerungsaustausch“ und „Genderwahn“ benannt. Und auf schnell geschnittene Bilder folgt ein Kameraschwenk zu eben jenem Balkon, unterlegt mit den Worten „Wir aber wollen eine Zukunft“. Ob bewusste Provokation oder ernstzunehmende politische Drohung, das will Sommer nicht einordnen, „eine rote Linie“ sei jedoch überschritten.
picturedesk.com/akg-images
Vom Altan verkündete Hitler im März 1938 den „Anschluss“ – die Bilder liegen bis heute wie ein Schatten über diesem Ort
Baustelle Namensgebung
Schon seit dem Einzug des hdgö in die Neue Burg im Jahr 2018 macht sich die Direktorin dafür stark, den Balkon „aufzumachen und zu entmystifizieren“. Fast wie eine Reliquie werde er behandelt, so Sommer. Dadurch, dass es hier „keinen neuen Namen und keine neue Symbolsprache gibt, sind es nach wie vor die Bilder der NS-Propaganda, die diesen Ort in unseren Köpfen prägen“, so Sommer. Schon allein den Begriff „Hitler-Balkon“ hält sie für „eine Baustelle“, man müsse dem Führerkult, der ihn im steckt, entkommen.
Sommer und ihr Team nähern sich dem Altan mit einer Multimediainstallation vor der versperrten Tür – und nun mit den eingeschobenen Sonderführungen. Die ersten beiden Termine seien „innerhalb von Sekunden ausgebucht“ gewesen, weitere werden mittlerweile angeboten, die auf die Leerstelle in der Erinnerungspolitik und die Geschichte aufmerksam machen sollen.
Vom Pferdekutschenunterstand zu Hitlers Rede
Fertiggestellt wurde der Altan im Jahr 1919, ein Gebäudevorsprung, um bei Regenwetter trocken aus der Pferdekutsche steigen zu können, zugleich gedacht als Ehrenloge und Rednertribüne. Als solche wurde er zunächst vom Roten Wien, später in der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur genutzt, um bei Veranstaltungen auf dem Heldenplatz zu größeren Menschenmassen zu sprechen.
Doch nur Hitlers Rede war es, die sich ins Gedächtnis einschrieb und bisher – so eben der Kritikpunkt – nicht überschrieben wurde. Hitler machte sich die Habsburger Architektur zunutze, man bemühte sich nicht einmal, die Hoheitszeichen abzudecken, „das war eine quasi bruchlose Fortschreibung der Habsburgischen Expansionspolitik“, so Sommer.
Diskussionen seit 2015
„Es ist ein sehr wirkungsmächtiger, imperialer Ort“, zeigte sich der Zeithistoriker Oliver Rathkolb, Leiter des wissenschaftlichen Beirats für das Haus der Geschichte, bereits „nachdenklich“, als die Standortwahl 2015 auf die Neue Burg fiel. Vor allem aber die Frage des Altans, den man „nicht einfach stehen lassen“ könne (Rathkolb), wurde schon damals heftig diskutiert. In der Planungsphase wurde auch angekündigt, viel dafür zu tun, ihn zu „dekonstruieren“.
Dass bisher nichts passiert ist, ist für das Museum ein mehrfaches Ärgernis, könnte man sich doch als Kompetenzzentrum der Erinnerungspolitik stärker beweisen, den als schwierig geltenden Standort in der Neuen Burg stark aufwerten und dem Museum neue Besucherschichten erschließen.
Den „Baustellen der NS-Erinnerungskultur“ widmet das hdgö derzeit auch eine eigene interaktive Plattform. Auf einer
Webpage des Museums kann man NS-bezogene Denkmäler zur Diskussion stellen oder bereits verzeichnete Orte kommentieren.
Silvesterparty auf dem Altan
Kurz nach Kriegsende wurde der Altan an einem Eck zerstört, nach dem Wiederaufbau wurde er nicht mehr für öffentliche Auftritte verwendet. Dass das Bewusstsein für den sensiblen Ort der Erinnerungspolitik „noch sehr frisch“ ist, so Sommer, davon zeugt der Umgang, der noch vor wenigen Jahren gepflegt wurde: „Als wir eingezogen sind, waren die Jalousien unten, und man konnte den Altan mieten“, so Sommer, die von einer privaten Silvesterparty erzählt, die zum Jahreswechsel 1999/2000 auf dem Altan abgehalten wurde.
Ein dezidiertes Betretungsverbot existiert erst seit drei Jahren. „Man müsste sicherlich die Balustrade erhöhen“, so Sommer, die sich aber optimistisch zeigt, dass die Republik nachzieht: Bauliche Hürden seien immer zu bewältigen. Als neue Zielgröße nennt die Direktorin des Hauses des Geschichte eine Bespielung ab dem 27. April 2025, dem 80. Jahrestag der Republik.
Debatten auch über Hitlers Geburtshaus
Wie kann man umgehen mit kontaminierten Gebäuden? Diese Frage beschäftigt auch an anderen Orten, es breche „gerade viel auf“, so Sommer, die als Ursache den Übergang zum kulturellen Gedächtnis ausmacht, also dass nun die letzten Zeuginnen und Zeugen sterben. Eine einheitliche Lösung kann und darf es freilich nicht geben. Von der Gestaltung als Gedenkorte über ein versuchsweises Ignorieren bis zu einer absichtlichen Auslöschung des Ortes wie etwa beim „Führerbunker“ in Berlin gibt es höchst unterschiedliche Ansätze.
In Österreich ist diese Frage nicht zuletzt bei Hitlers Geburtshaus in Braunau virulent, dessen Nutzung seit Jahren heftig debattiert wird, zuletzt neu befeuert durch den Dokumentarfilm „Wer hat Angst vor Braunau?“ zur Thematik. Das Vorhaben, eine Polizeistation einzurichten, hat laut einer aktuellen Umfrage nur sechs Prozent Zustimmung der Bevölkerung – für Sommer ein Negativbeispiel. Sollte es zur Bespielung des Atlans kommen, wünsche sie sich einen Gestaltungsprozess mit breiter gesellschaftlicher Einbindung.
09.09.2023, Paula Pfoser (Text, Gestaltung), ORF Topos, Selina Maurovich ORF Topos
Links:
Termine Sonderführungen „Hitler-Balkon“ (hdgö)
Geschichte des Altans der Neuen Burg (hdgö)
Artikel „Sonderführungen zum ‚Hitler-Balkon‘“ (wien.orf.at)
Artikel „NS-kontaminierte Gebäude als verstörende Orte“ (science.orf.at)
„Baustellen der Erinnerung“ (hdgö)
„Aktionswoche gegen Antisemitismus“ (hdgö)