Israel und Gazastreifen - Berichte zum aktuellen Nahostkonflikt

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#2
MILITÄRTECHNIK
Wie der Iron Dome Israel vor Raketenangriffen schützt
Terrorattacken mit tausenden Raketen sollen Löcher im israelischen Schutzschirm finden – bislang vergeblich. Doch wie hält das Abwehrsystem der Flut stand?

Eine Iron-Dome-Einheit feuert eine Tahir-Rakete ab.
REUTERS / Amir Cohen

Die israelische Luftverteidigung gilt als weltweit führend. Ein Herzstück ist der Iron Dome, ein angeblich undurchdringlicher Schutzschirm, der feindliche Raketen schon im Anflug erkennt, ihre Flugbahn berechnet und sie bei Gefahr abwehrt, und das vollautomatisch. Selbst die Großangriffe der Terroristen der Hamas konnten noch keine Lücke in der Verteidigung finden.

Schnell, billig, ungewöhnlich
Die israelische Verteidigung stützt sich auf die übliche Strategie der gestaffelten Luftverteidigung, man kann sie durchaus mit einer Zwiebelschale vergleichen. David's Sling und Arrow übernehmen dabei die eher traditionellen Rollen. Letzteres System könnte sogar in Österreich zum Einsatz kommen, ist das israelisch-amerikanische Arrow-System doch ein möglicher Bestandteil von Sky Shield.

Doch Iron Dome ist anders, es soll gezielt einige der eklatantesten Schwächen der aktuellen bodengestützten Luftverteidigung ausmerzen: die eklatanten Kosten. Die Rechnung ist spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine bekannt. Soll man wirklich ein Drohne um wenige Tausend Euro mit einer drei Millionen Dollar teuren Arrow-Rakete abwehren? Der Verteidiger ist aufgrund dieser Tatsache immer im Nachteil: Der Angreifer kann den Himmel mit billigem Fluggerät quasi überschwemmen, während der Verteidiger langsam finanziell ausblutet und noch dazu mit der Abwehr völlig überfordert wird. Denn: Selbst mit einer Trefferquote von 90 Prozent finden bei einem solchen Massenangriff immer noch hunderte Drohnen oder improvisierte Raketen ihr Ziel.

Die Hamas-Terroristen haben diese Taktik bereits mehrfach angewandt, indem sie extrem billig herzustellende Kassam-Raketen in Richtung Israel abfeuerten. Diese verfügten anfangs über kein Steuersystem und wurden nahezu blind auf Israel abgefeuert. Das stellte die Israelis erneut vor ein Problem: Sie brauchten ein System, das Massenangriffe abwehren kann und gleichzeitig Raketen ignoriert, die ohnehin in unbewohntem Gebiet einschlagen oder maximal ein Schlagloch im Asphalt einer kaum befahrenen Landstraße verursachen. Gleichzeitig sollte das neue System ein möglichst großes Gebiet abdecken können.

Genau das ist das Konzept hinter dem Iron Dome. Er ist in der Anschaffung teuer, aber im Betrieb billig, funktioniert auch noch, wenn Werfer und Radarstation sich nicht in unmittelbarer Nähe befinden, und eine Einheit kann in der Theorie bis zu 60 anfliegende Ziele gleichzeitig bekämpfen.

Nicht schnell, aber effektiv
Die Raketen des Iron Dome sind dabei mit einer Höchstgeschwindigkeit von Mach 2 im Vergleich zu den großen Varianten der Systeme David's Sling und Arrow bestenfalls halb so schnell. Aber: Ihre Stückkosten sind vergleichsweise winzig. Während eine Rakete von David's Sling rund eine Million Dollar kostet, sind es bei Arrow drei Millionen. Eine Abfangrakete aus dem Iron Dome kostet nur 50.000 Dollar. Da aber meistens zwei Raketen auf ein Ziel abgeschossen werden, werden die Stückkosten meist mit 100.000 Dollar angegeben, was immer noch nur ein Zehntel der üblichen Kosten ausmacht.

Zum Einsatz kommt eine modifizierte Boden-Luft-Variante der Derby-Rakete mit dem Namen Tamir. Diese ist drei Meter lang und wiegt 90 Kilogramm. Sie ist mit elektrooptischen Sensoren ausgestattet und hat Lenkflossen, die ihr besondere Manövrierfähigkeit verleihen sollen. Der Gefechtskopf ist mit einem Annäherungszünder versehen und besteht aus einer elf Kilo schweren Splitterladung. Die Waffe verfügt über eine Reichweite von knapp 100 Kilometern. Die Werfer werden über eine sichere drahtlose Verbindung ferngesteuert.


Eine Tahir hat ihr Ziel gefunden.
REUTERS/AMIR COHEN

Der Aufbau einer Iron-Dome-Einheit ähnelt jenem anderer Systeme: Eine Radarstation und ein Leitstand steuern bis zu vier Werferbatterien, die je 20 Abfangraketen beherbergen. Diese einzelnen Bestandteile der Einheit sollen laut Angaben des Herstellers Rafael über größere Distanzen als bei anderen Fliegerabwehrsystemen miteinander kommunizieren können. Wie groß die Distanz zwischen Leitstand, Radar und Werfer sein kann, ist geheim. Aber: Eine Iron-Dome-Einheit kann ein Gebiet von rund 150 Quadratkilometern verteidigen. Dieses Prinzip der verteilten Elemente hat gleichzeitig den Vorteil, dass Iron Dome auch in unübersichtlichem Gelände oder in Städten leichter eingesetzt werden kann – Letzteres ist der primäre Einsatzzweck: Wohngebiete, Siedlungen und Städte zu verteidigen.

Selbst wenn eine Iron-Dome-Einheit theoretisch 60 Raketen startklar halten kann, ist das immer noch kein Vergleich zu den hunderten Kassam-Raketen der Hamas-Terroristen. Es wäre immer noch ein Leichtes, den Iron Dome mit einem sogenannten Sättigungsangriff zu überwinden. Damit genau das nicht passiert, kann das Radar (EL/M-2084) die Flugbahn feindlicher Raketen berechnen.

Ungefährliche Raketen werden ignoriert
Im Kontrollzentrum werden anschließend die Einschlagspunkte bestimmt. Schlägt eine Rakete in unbewohntem Gebiet ein, gefährdet sie keine Menschenleben und verursacht nur minimale Sachschäden, lässt die "Eiserne Kuppel" sie passieren. Abgefangen werden nur Raketen, die eine tatsächliche Gefahr darstellen. Dabei arbeitet das System vollautomatisch: Kommt eine feindliche Rakete in einen zuvor definierten Bereich in dem Luftraum, wird sie abgefangen. Das Radar kann laut Herstellerangaben sogar Artilleriegeschosse im 155-Millimeter-Kaliber erkennen und abwehren. Der Iron Dome ist laut Hersteller bei jedem Wetter einsetzbar und kann mehrere Bedrohungen gleichzeitig neutralisieren. Eine Einheit kostet rund 50 Millionen Dollar, in Israel sind aktuell zehn Stück im Einsatz, wobei diese Zahl auf 15 erhöht werden soll.

Doch wie gut der Iron Dome tatsächlich funktioniert, ist umstritten. Eine kritische Studie bescheinigte der "Eisernen Kuppel", eigentlich ein Sieb zu sein. Aber die die "Jerusalem Post" gibt die Genauigkeit mit 90 Prozent an abgefangenen feindlichen Raketen an.
(Peter Zellinger, 10.10.2023)

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#3
PLANUNGEN
Wie eine israelische Bodenoffensive im Gazastreifen aussehen könnte
Die Truppen sind zusammengezogen, die Pläne offenbar erstellt, ein US-Flugzeugträger in der Nähe – für eine Bodenoffensive in Gaza scheint alles bereit. Was noch fehlt, ist die politische Freigabe
Analyse
Die meisten Bedingungen scheinen geschaffen, auch die Signale scheinen eindeutig. Man müsse im Nahen Osten Stärke zeigen, soll Premier Benjamin Netanjahu schon vor Tagen zu US-Präsident Joe Biden gesagt haben, nachdem Hamas-Terroristen am Samstag Orte nahe dem Gazastreifen gestürmt und dort ein Blutbad mit über tausend Opfern angerichtet hatten. Abschreckung sei nun von oberster Bedeutung. Daher "müssen wir nach Gaza". Soldaten und Material werden schon seit Tagen zusammengezogen, 300.000 Reservistinnen und Reservisten einberufen. Dass sich das Land seit 6 Uhr Früh am 7. Oktober im Krieg befindet, hat das Sicherheitskabinett schon am Montag beschlossen. Auf innenpolitischer Ebene liefen schon seit Tagen Gespräche über eine Einheitsregierung aus fast allen Parteien, um Israel durch die Zeit der Krise zu führen. Am Mittwoch gab es eine Einigung.

Fixiert waren auch Besuche der Außenminister der wichtigsten Verbündeten: Der britische Chefdiplomat James Cleverly landete bereits am Mittwochvormittag, am Donnerstag wurde auch US-Außenamtschef Antony Blinken erwartet. Bereits geschickt haben die USA ihre Flugzeugträgerkampfgruppe rund um das Riesenschiff USS Gerald R. Ford. Spätestens nach der Abreise der Minister, so wurde erwartet, könnte es losgehen. Wie genau eine Bodenoffensive aussehen könnte, war aber weiterhin offen. Zwischen den unterschiedlichen Varianten gibt es zahlreiche Abstufungen. Alle gemeinsam haben sie beträchtliches Risiko für Israels Militär – und massive Gefahren für die Zivilbevölkerung in Gaza.

Militär


In der Nähe des Gazastreifens stehen die Panzer bereit – sie tragen auch bereits Kampfmarkierungen.
AFP/GIL COHEN-MAGEN

Militärisch scheint das Kräfteverhältnis auf den ersten Blick klar. Israel hat nicht nur die am besten ausgestattete und ausgebildete Armee der Region – diese ist noch dazu in einem Zustand der ständigen Bereitschaft. Die Einberufung einer Reservistengruppe von 300.000 über wenige Tage zeugt ebenfalls von der organisatorischen Stärke. Auch technisch ist der Vergleich zwischen der israelischen Armee mit ihren Panzern, Kampfjets und zahlreichen technischen Möglichkeiten und der Hamas, die all dies nicht hat, schnell gezogen. Allerdings hat sich die Extremistenorganisation, die seit knapp 20 Jahren den Gazastreifen regiert, angepasst.

Sie hat oft billige Lösungen gefunden, um den hochtechnisierten israelischen Möglichkeiten zumindest irgendetwas entgegensetzen zu können. Eingeschmuggelte Antipanzerminen haben bereits vor mehr als einem Jahrzehnt im Libanon gezeigt, dass sie Israel zumindest Verluste zufügen können. Tausende krude Raketen aus Leitungsrohren und Dünger bringen das Abwehrsystem Iron Dome jedenfalls zeitweise an den Rand der Überlastung. Billige Videodrohnen erlauben den Hamas-Kadern, israelische Truppenbewegungen aus der Ferne zu beobachten. Dass die Organisation im Bereich der militärischen Planung dazugelernt hat, zeigen auch die Ereignisse vom Samstag, als tausende Kämpfer mit Low-Tech-Methoden und schierer Masse Israels ausgeklügelte Grenzblockade überwinden konnten.



Geografie
Der Gazastreifen ist nicht groß und an vielen Stellen dicht bebaut. Um mit Panzern und Militärgerät in Richtung des städtischen Gebiets vorzudringen, von dem aus die Hamas operiert, braucht es landwirtschaftliche Nutzflächen, brache Felder oder zumindest ausreichend breite Wege – oder Landungsflächen für Boote. All das gibt es in Gaza nur in begrenzter Zahl, weshalb es wenige Möglichkeiten gibt, die Hamas militärisch zu überraschen. Der britische "Guardian" nennt in einem militärischen Überblick den Übergang Erez (der am Samstag noch ein Ziel der Hamas-Angriffe war) im Norden, das Gebiet bei Khan Younis im Süden sowie in der Mitte unbebautes Land am Rande von Gaza-Stadt.

Diese Örtlichkeiten hat die Hamas längst militärisch befestigt und zur Abwehr ausgerüstet. Dazu kommt das System von Militärtunneln, das die Terrorgruppe im letzten Jahrzehnt massiv ausgebaut hat – und dessen Umfang und genauer Verlauf Israels Militär wohl nicht vollständig bekannt ist. Verschärft wird die Lage aus Sicht Israels (aber auch der Zivilbevölkerung in Gaza) dadurch, dass ein Großteil des Landstrichs eng bebautes, städtisches Gebiet ist. Israelische Soldaten könnten schnell in den Häuserkampf geraten.

Die Ziele
Viel hängt dabei auch von den Zielen ab, die Israels Regierung für den Krieg gegen die Hamas setzt. In den vergangenen Jahren hat Israel, etwa nach starken Raketenangriffen, immer wieder Luftschläge im Gazastreifen geflogen. Sie waren nach einigen Tagen stets wieder vorbei. "Das Gras mähen" war dazu das militärisch-entmenschlichte Stichwort. Gemeint war damit, die Hamas so zu schwächen, dass sie Israel nicht massiv gefährlich werden kann. Dass das geht, hat sich am Samstag als schreckliche Fehleinschätzung erwiesen.

Die letzte große Bodenoperation, Protective Edge im Jahr 2014, hat aber ebenfalls nicht die gewünschten Ziele erbracht. Sie war damals gestartet worden, um das Tunnelsystem der Hamas zu zerstören. Nach rund eineinhalb Monaten war sie zu Ende, die Hamas vorerst geschwächt, 67 israelische Soldaten, sechs Zivilisten in Israel und über 2.000 Menschen in Gaza tot. Auch hier aber waren die Folgen nicht von langer Dauer. Daher sind nun aus der israelischen Regierung harte Forderungen zu hören, unter anderem jene nach einer völligen Zerstörung der Hamas. Wie genau das gehen soll, ist aber offen. Nicht zuletzt ist dabei auch zu beachten: Wichtige Figuren der Partei sind nicht im Gazastreifen, sondern im Libanon, in Katar und in der Türkei.

Strategie
Auch offen ist die strategische Frage, was nach der Hamas kommen sollte. Eine moderatere palästinensische Gruppe, die ihr folgen könnte, ist nicht in Sicht. Die Aussicht auf eine noch radikalere scheint wenig befriedigend. Israel selbst hat die Besetzung des Gazastreifens, den es 1967 erobert hatte, im Jahr 2005 selbstständig aufgegeben – aus guten Gründen, weil es Zweifel an der Nachhaltigkeit einer weiteren Besatzung gab. Nun, fast 20 Jahre später, wäre eine solche Operation ganz sicher nicht einfacher.

Humanitäres
An dieses Thema schließt sich auch die humanitäre Frage an. Schon jetzt steht es mit der Versorgung des dichtbesiedelten Küstengebietes massiv zum Schlechten. Mehr als die Hälfte der rund 2,3 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner ist für ihre Ernährung von Hilfen abhängig. Ein Großteil der Wasser- und Stromversorgung kommt, bisher aus Israel. Auch der Treibstoff wurde über Israel geliefert. Bisher: Denn seit einigen Tagen hat dessen Regierung eine vollständige Abriegelung des Gebietes durchgesetzt.

Der Strom ist bereits seit Tagen abgeschaltet, das einzige Kraftwerk im Gazastreifen hat mangels Treibstoffs am Mittwoch seine Arbeit eingestellt. Übrig bleibt eine Leitung aus Ägypten, die den Bedarf bei weitem nicht decken kann. Ähnlich ist es beim Wasser, das Israel nun abgestellt hat: Zwar gibt es Entsalzungsanlagen, die teils mit Hilfsgeldern gebaut wurden – ohne Energie sind aber auch diese nicht betriebsfähig. Dazu kommen die Folgen des Krieges: Israel betont, mit seinen Luftangriffen nur die Hamas ins Visier zu nehmen. Doch auch wenn dazu Anstrengungen unternommen werden: Das dichtbesiedelte Gebiet setzt Limits. Frühere Kriege, aber auch Luftangriffe haben viele zivile Opfer gefordert. Bereits nun, nach wenigen Tagen, verschärft sich durch die Zahl der Luftangriffe das Problem Obdachlosigkeit im Gazastreifen. Wie die Lage im Fall einer Besatzung wäre, ist schwer auszumalen.

Innere Sicherheit
Das hätte auch weitere Folgen für die innere Sicherheit in Israel. Die Lage im Westjordanland, galt schon bisher als instabil – was auch als Grund dafür gilt, wieso sich Israels Dienste weniger als bisher auf den Gazastreifen konzentrierten. Schon seit Monaten ist von einem möglichen massiven Ausbruch der Gewalt in dem Gebiet die Rede, vor allem rund um die Siedlungen und im arabischen Teil Jerusalems brodelt es gewaltig. Sollte es zu einer Bodenoffensive im Gazastreifen kommen, droht auch hier die Lage zu explodieren.

Außen- und Geopolitik
Darüber hinaus bestehen außenpolitische Gefahren. Dass die USA die USS Gerald R. Ford in die Gegend verlegten, liegt nicht nur am Konflikt in Gaza. In Washington fürchtet man einen größeren Krieg. Die massiv vom Iran unterstützen Hisbollah-Milizen im Libanon liefern sich schon seit Tagen an der Nordgrenze Israels Scharmützel mit der Armee. Sollte sich die schiitisch-libanesische Miliz zu einem Angriff entscheiden, stünde Israel vor einem Zweifrontenkrieg. Aber auch der Iran selbst ist betroffen. Dessen Regime zählt die "Zerstörung" Israels seit der Revolution 1979 zu seinem Kernprogramm. Teheran droht Israel. Auch den Iran soll die Stationierung des US-Flugzeugträgers abschrecken. Die Gefahr einer Eskalation besteht dennoch.

Dazu kommt, dass sich Israel eigentlich gerade in Verhandlungen über eine Normalisierung seiner Beziehungen mit Saudi-Arabien befindet, mit dem es den gemeinsamen Feind in Teheran teilt. Sollte eine Bodenoffensive lange anhalten und viele Opfer fordern, wären diese Verhandlungen wohl massiv erschwert. Auch jene Staaten, die die "Abraham Accords" schon unterzeichnet haben (zum Beispiel Bahrain, Vereinigte Arabische Emirate, Marokko), könnten dann unter Druck geraten, etwa durch große Proteste ihrer Bevölkerung.


Innenpolitik
Langfristig ist auch offen, wie sich der Konflikt innenpolitisch auswirken wird. Noch steht die Sammlung rund um Flagge und Armee auf der Tagesordnung. Früher oder später wird sich aber auch die Frage stellen, wie es weitergehen soll – und auch, ob etwa Premier Netanjahu oder die gegen ihn gerichtete Protestbewegung Schuld daran tragen, dass die Anzeichen für den Hamas-Angriff übersehen wurden. Spätestens dann kann es auch Streitigkeiten über den künftigen Kurs geben, Notstandsregierung hin oder her. (Manuel Escher, 11.10.2023)

Korrektur 12.10., 15 Uhr: In einer früheren Version dieses Textes wurde die Zahl der getöteten israelischen Soldaten während der Operation Protective Edge mit 470 angegeben. Dies ist falsch, es handelt sich dabei um die Zahl der Verletzten. Tatsächlich lag die Zahl der Toten bei 67, zudem wurden sechs Zivilisten in Israel getötet. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

(Manuel Escher, 11.10.2023)
Wie eine israelische Bodenoffensive im Gazastreifen aussehen könnte
 

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#4
ISRAEL – HAMAS
Die Regeln des Völkerrechts
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Mit Entsetzen und Sorge schaut die Welt auf die Lage in Nahost. Nach dem Hamas-Angriff auf Israel reagierte das israelische Militär mit Luftangriffen. Um die Hamas weiter zu schwächen, ordnete Israel auch eine „Totalblockade“ des Gazastreifens an. Gerade diese Maßnahme wird kritisch gesehen, laufe sie ja auf eine kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung hinaus. Auch für eine anstehende Bodenoffensive gibt es Regeln.
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Unmittelbar nach dem Großangriff der Hamas hatte Israels Regierung die Versorgung des Gazastreifens gestoppt. Die Lieferung von Strom, Treibstoff, Lebensmitteln, Trinkwasser und anderen Gütern wurde von einem Tag auf den anderen eingestellt. Der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, übte scharfe Kritik an den Maßnahmen, die gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen würden. Auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz bezeichnete die Abriegelung als nicht vereinbar mit dem gebotenen Schutz von Zivilisten.

Israel argumentierte die „Totalblockade“, wie sie Verteidigungsminister Joav Galant nannte, mit dem Selbstverteidigungsrecht. „Kein Strom, kein Essen, kein Sprit, alles ist abgeriegelt. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln dementsprechend“, sagte Galant. Energieminister Israel Katz will den Gazastreifen erst versorgen, wenn die Geiseln der Hamas freigelassen werden. „Kein Stromschalter wird umgelegt, kein Wasserhahn geöffnet und kein Treibstofflaster fährt rein, bis die israelischen Geiseln nach Hause zurückgekehrt sind.“

Seit dem Angriff der Hamas am Samstag sind auf beiden Seiten Tausende Menschen gestorben. Zudem wurden etwa 150 Personen durch die Hamas in den Gazastreifen verschleppt. Derzeit laufen intensive Verhandlungen über die Freilassung von Geiseln.



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Kein Krieg im völkerrechtlichen Sinn
Mit der gezielten Tötung von Zivilisten und der Geiselnahme verstößt die Hamas gegen das Völkerrecht. „Terroristen führen per definitionem keine konventionellen Kriege und halten sich nicht an die Gesetze des Krieges“, so die renommierte Journalistin und Historikerin Anne Applebaum im US-Magazin „The Atlantic“. Dass sich die Hamas, die zwar von souveränen Staaten Unterstützung erhält, aber selbst keinen Staat kontrolliert, an internationale Normen und Prinzipien hält, ist ausgeschlossen.

Gemäß Völkerrecht handle es sich um keinen Krieg, wie Völkerrechtler Ralph Janik im Gespräch mit ORF.at sagt. Dennoch spielten Normen und Prinzipien bewaffneter Auseinandersetzungen eine wesentliche Rolle in Nahost. Der Schutz von Zivilisten und Zivilistinnen sei hier das oberste Gebot, sagt er. Was die Abriegelung des Gazastreifens betrifft, stimmt Janik der UNO zu. „Israel kann zwar die Einfuhr bestimmter Güter einschränken, eine Vollblockade ist aber eine kollektive Bestrafung. Diese Maßnahme trifft Zivilisten überproportional.“

Grafik: APA/ORF; Quelle: OCHA

Israels Regierung hält sich eigenen Angaben nach an das Völkerrecht und begründet die Abriegelung mit „militärischer Notwendigkeit“, damit die Hamas nicht weiter angreifen kann. Kurzfristig könnte etwa der Strom im Gazastreifen abgestellt werden, wenn es dazu militärische Gründe gibt und die Abschaltung verhältnismäßig ist, sagt Janik.

Klar sei aber, dass Spitäler Strom benötigen. „Die Menschenrechte gelten auch für eine Bevölkerung, deren Gebiet von Terroristen kontrolliert wird“, so der Experte. Sollte Israel den Gazastreifen nicht selbst versorgen, müssten zumindest Hilfsgüter – auch über andere Wege – durchgelassen werden.

Völkerrechtlerin Yvonne Karimi-Schmidt von der Universität Graz kennt die Situation in Nahost gut. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit dem Konflikt aus völkerrechtlicher Sicht. „Grundsätzlich soll das humanitäre Völkerrecht in Kriegen und bewaffneten Konflikten die dort lebenden Zivilisten und Kämpfenden schützen und unnötiges Leid verhindern“, sagt Karimi-Schmidt im ORF.at-Gespräch. Und unabhängig von einer Belagerung müsse immer sichergestellt werden, dass Zivilistinnen und Zivilisten die Möglichkeit haben, Grundbedürfnisse zu stillen.



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Karimi-Schmidt: Bodenoffensive nicht verboten
Vor der neuen militärischen Auseinandersetzung lebten im Gazastreifen rund 2,3 Millionen Menschen. Die Hamas hatte 2007 gewaltsam die alleinige Macht in dem Gebiet an sich gerissen. Im Anschluss verhängten Israel und Ägypten bereits eine Blockade. Wohl auch wegen einer möglichen Bodenoffensive Israels hatten sich zuletzt die Gespräche über einen Fluchtkorridor für die Zivilbevölkerung des Gazastreifens intensiviert.
Der israelische Völkerrechtsprofessor Juval Schani hatte erst in der „New York Times“ mit Blick auf die Bodenoffensive von einem „ernsten Test“ für Israel gesprochen. Sollten Soldaten und Soldatinnen in den Gazastreifen geschickt werden, stelle sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des möglichen Kollateralschadens, den eine solche Bodenoffensive mit sich bringen könnte. Schani veröffentlichte mit weiteren Fachleuten aus Israel einen offenen Brief, in dem „alle Parteien“ aufgefordert werden, das Völkerrecht einzuhalten.

APA/AFP/Menahem Kahana
Israel bereitet sich derzeit auf eine Bodenoffensive vor und wartet noch auf die politische Entscheidung

Israel habe „selbstverständlich“ das Recht auf Selbstverteidigung, und daher verbiete das Völkerrecht eine Bodenoffensive im aktuellen Fall nicht, sagt Karimi-Schmidt. Vom Gazastreifen aus finden bewaffnete Angriffe auf Israel statt und Geiseln wurden dorthin verschleppt. Die Evakuierung des Gazastreifens sei keine zwingende Vorbedingung für eine „legale Bodenoffensive, sofern es die Möglichkeit gibt, sich in Sicherheit zu bringen“.



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Völkerrechtliche Einschränkungen gibt es allerdings. So dürfe Israels Armee zum Beispiel Hilfskonvois, die die palästinensische Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgen, nicht angreifen, betont die Völkerrechtlerin gegenüber ORF.at. „Beim Transport von Treibstoff, der zur Versorgung der militanten Hamas dient, muss allerdings eine gesonderte Bewertung getroffen werden.“ Janik ergänzt, dass Israel gegen Bedrohungen, die von der Hamas ausgehen, natürlich vorgehen könne. Es gehe um die Sicherheit der Bevölkerung, sagt er. Auf zivile Leben müsse aber Rücksicht genommen werden.

Der Gazastreifen
Jahrhundertelang stand der Küstenstreifen unter osmanischer Herrschaft. Im Ersten Weltkrieg übernahm Großbritannien die Kontrolle, Ägypten sicherte sich den Streifen im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948. Israel eroberte das Küstengebiet im Sechstagekrieg 1967 und zog sich 2005 daraus zurück. Seitdem kontrolliert Israel die Außengrenzen. Die Hamas gewann 2006 die Wahl und sieht sich seither als legitime Regierungsmacht.

Eine Frage der Verhältnismäßigkeit
Janik verweist zudem darauf, dass ein Verstoß gegen das Völkerrecht Debatten auslösen könnte, die sich unter anderem auf militärische Hilfen auswirken könnten. „Völkerrecht ist auch eine Richtschnur für politische Entscheidungen“, sagt Janik unter Verweis etwa auf die USA. Dort hatte US-Präsident Joe Biden Israel bereits aufgefordert, nach den „Regeln des Krieges“ zu handeln. Es sei wirklich wichtig, dass Israel trotz all des Ärgers und des Frusts nach den Regeln des Krieges handle, so Biden. „Und es gibt Regeln des Krieges“, fügte er hinzu.

Theorie ist das eine, Praxis das andere, wie Karimi-Schmidt anmerkt. Denn Israels Armee stehe vor einer „riskanten Herausforderung“, da der militante Flügel der Hamas so eng mit der zivilen Verwaltung in Gaza verwoben sei. Obwohl nur die Bekämpfung von Kombattanten und militärischen Zielen erlaubt sei, könnten auch zivile Ziele sowie Zivilisten und Zivilistinnen zu Schaden kommen. „Es geht vor allem um die Verhältnismäßigkeit“, sagt die Expertin.

Deshalb müsse das israelische Militär jedes Mal überlegen, wie es ziviles Leben schont, selbst wenn die Hamas Raketenwerfer auf Wohnhäuser stellt und sie als Schutzschild verwendet. „Liegen belastbare Beweise vor, dass eine Konfliktpartei zivile Orte militärisch nutzt, dann können sie zu legitimen Zielen werden“, sagt die Völkerrechtlerin. Oft warne Israel Zivilisten wenige Minuten vorab, sollten ihre Häuser Angriffsziele werden. „Auf diese Weise versucht das israelische Militär, diese Verpflichtung des Völkerrechts zu erfüllen.“



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NACH HAMAS-GRÄUELN
Israel vereint in Solidarität

13.10.2023, Jürgen Klatzer, ORF.at

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Israel – Hamas: Die Regeln des Völkerrechts
 

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#5
TUNNELSYSTEM IN GAZA
Israels unterirdische Herausforderung
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Das weit verzweigte Tunnelsystem im Gazastreifen erhält in der aktuellen Gewalteskalation seit dem Überfall der Hamas am Samstag eine enorme Bedeutung. Niemand weiß genau, wie weit das Netz reicht. Durch diese Tunnel werden Waffen und Waren geschmuggelt – nun könnten dort auch israelische Geiseln festgehalten werden.
Online seit heute, 15.09 Uhr
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Schon seit vielen Jahren sind die Tunnel Teil des Konflikts, immer wieder wurden Teile davon durch das israelische Militär zerstört. Das Netz wird nicht nur für den Schmuggel von Waren, Treibstoff und Waffen verwendet, sondern auch für Angriffe. So wurden etwa 2006 aus einem Tunnel heraus zwei israelische Soldaten getötet und ein dritter, Gilad Schalit, entführt. Er wurde erst 2011 im Rahmen eines Gefangenenaustauschs im Gegenzug für mehrere hundert Militante freigelassen.

Seit die Hamas 2006 die Kontrolle über den Gazastreifen übernommen hat, verstärkte sie den Bau der Tunnel. Manche sollen bis zu 30 Meter unter der Obefläche liegen. Tunnel für einmalige Verwendung sind rudimentär eingerichtet, jene für vielmaligen Gebrauch sind ausgestattet mit Betonwänden und -decken, Strom, Licht, manchmal auch Gleisen. Und sie verfügen über Räume zum Verstecken, wie die BBC berichtet.

Hamas spricht von 500 Kilometern
Wie weit das Netz, das in Israel auch „Gaza-Metro“ genannt wird, unter dem schmalen Küstenstreifen verbreitet ist, ist unklar. 2021 gaben die israelischen Streitkräfte (IDF) an, mehr als 100 Kilometer Tunnel zerstört zu haben. Die Hamas hingegen behauptete, ihre Tunnel erstreckten sich über 500 Kilometer, und nur fünf Prozent seien getroffen worden (zum Vergleich: Die Strecken der Wiener U-Bahn messen zusammen 83 Kilometer).

Die Tunnel sollen unter dem gesamten Grenzzaun verlaufen, auch unter der Grenze zu Ägypten, das mit Flutungen gegen den Schmuggel vorging. Viele Tunnel sollen in direkter Nachbarschaft zu israelischen Ortschaften enden. 2013 entdeckte die israelische Armee etwa einen rund 1,6 Kilometer langen Tunnel, der nahe einem Kibbuz endete. Die Anrainer hatten seltsame Geräusche vernommen und die Behörden alarmiert.

IMAGO/ZUMA Wire/Ministry Of Defense Spokesperson
Zahllose Tunnel sollen unter dem Grenzzaun zu Gaza verlaufen

Zwei Schichten Gaza
Für Israel ist klar: Die Tunnel sind allein für die militanten Zwecke der Hamas gebaut. Sie nutze die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen aus, indem sie die Tunnel unter dicht besiedelten Gebieten baue. Denn die Zugangspunkte liegen auch versteckt in Schulen, Moscheen und Krankenhäusern, um Israel von Angriffen abzuhalten.

„Stellen Sie sich den Gazastreifen vor als eine Schicht für die Zivilbevölkerung und eine weitere Schicht für die Hamas. Wir versuchen, zu der zweiten Schicht zu gelangen, die die Hamas aufgebaut hat“, sagte ein IDF-Sprecher am Donnerstag. „Das sind keine Bunker für Zivilisten im Gazastreifen. Sie sind nur für die Hamas und andere Terroristen, damit sie weiterhin Raketen auf Israel abfeuern, Operationen planen und Terroristen nach Israel schicken können.“

Die Armee wirft der Hamas auch vor, Millionen an Hilfsgeldern, die für die Zivilbevölkerung gedacht sind, für den Tunnelbau zu verwenden. Für die Streitkräfte gehören die Tunnel zu den vorrangigen Angriffszielen. Seit der Attacke der Hamas am Samstag zerstörte die Armee nach eigenen Angaben rund 30 Tunnel.

Komplette Zerstörung unrealistisch
Es ist gut möglich, dass Terroristen der Hamas auch am Samstag die Tunnel für ihre Angriffe, bei denen rund 1.300 Israelis getötet wurden, nutzten. Medienberichten zufolge wurde in der Nähe des Kibbuz Kfar Asa, in dem Dutzende Zivilisten massakriert wurden, ein Tunnelausgang entdeckt. Sollten sich diese Berichte bestätigen, wäre der Tunnel unter einer unterirdischen Betonbarriere entlang des Grenzzauns gebaut worden. Die Grenze ist auch mit hochentwickelten Erkennungssensoren ausgestattet.


Grafik: APA/ORF; Quelle: OCHA
Das wäre ein Schock, so Daphne Richemond-Barak von der israelischen Reichman-Universität, gegenüber der BBC. Aber kein Tunnelerkennungssystem sei narrensicher. Es sei auch unrealistisch anzunehmen, man könne das gesamte Tunnellabyrinth, das die Hamas errichtet habe, zerstören. „Es wird Teile des Netzwerks geben, aus denen Zivilisten, aus welchen Gründen auch immer, nicht in Sicherheit gebracht werden. Einige Teile des Untergrundnetzwerks sind unbekannt. Und für einige von ihnen wird der Kollateralschaden zu hoch sein.“ Denn die Zerstörung der Tunnel werde auch zu erheblichen Verlusten an Menschenleben führen – unter den israelischen Streitkräften dort, palästinensischen Zivilisten und Geiseln, so Richemond-Barak. „Die Hamas ist sehr gut darin, menschliche Schutzschilde einzusetzen.“

Sprengfallen in Tunneln
Auch IDF-Sprecher Arje Schalikar vermutete Geiseln, von der Hamas am Samstag verschleppt, in dem verzweigten Tunnelsystem. Es stünden „schwierige Tage bevor“, denn die Tunnel stellten eine Gefahr für die Geiseln, die Zivilbevölkerung und für die israelischen Soldaten dar, so Schalikar zur deutschen „Welt“.

Die Tunnel seien mitunter ausgestattet mit Sprengfallen, so Richemond-Barak. „Die Hamas könnte Soldaten einfach in das Tunnelnetzwerk eindringen lassen und dann das Ganze in die Luft jagen.“ Andrew Galer, ein ehemaliger britischer Offizier, der jetzt als Analyst für den privaten Dienst Janes arbeitet, sprach gegenüber der Nachrichtenagentur AFP von einem „360-Grad-Schlachtfeld, in dem die Bedrohung überall lauert“, auf den Dächern genauso wie unter Tage.
14.10.2023, red, ORF.at/Agenturen

Links:
Tunnelsystem in Gaza: Israels unterirdische Herausforderung
 

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#6
VOR BODENOFFENSIVE
Menschen im Gazastreifen ohne Ausweg
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Eine Woche nach dem verheerenden Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel rückt eine Bodenoffensive der israelischen Armee im Gazastreifen immer näher. Zehntausende Menschen sind bereits in den Süden des Küstengebiets geflohen. Aber es gibt auch viele, die den Aufforderungen des israelischen Militärs zur Flucht nicht gefolgt sind. UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffith sprach am Samstag von einer Lage, die „rasch unhaltbar“ werde.
Online seit gestern, 23.36 Uhr
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Samstagabend wurde endgültig klar, dass eine israelische Bodenoffensive im Gazastreifen nur noch eine Frage des Wann und nicht mehr des Ob sein würde. Die israelische Armee kündigte einen „integrierten und koordinierten Angriff aus der Luft, vom Meer und dem Land“ auf die Terrororganisation Hamas im Gazastreifen an. An der Grenze zum Gazastreifen hatte Israel zuletzt Zehntausende Soldaten zusammengezogen. Bei einem Truppenbesuch sprach Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu von „der nächsten Phase“, die kommen werde.

Bereits am Donnerstag hatte die israelische Armee rund 1,1 Millionen Zivilisten im Norden des Gazastreifens aufgefordert, das Gebiet Richtung Süden zu verlassen. Nach Auslaufen eines ersten Ultimatums gab die Armee den Bewohnerinnen und Bewohnern am Samstag erneut Zeit, sich auf einer eingezeichneten Fluchtroute in den Südteil des Küstenstreifens zu begeben. Nachdem sich das von der Armee angekündigte Zeitfenster am Nachmittag geschlossen hatte, blieb unklar, was das für jene Menschen bedeutet, die der Aufforderung zur Flucht noch nicht gefolgt waren.

Fotostrecke mit 5 Bildern
Reuters/Mohammed Salem
Vor Lebensmittelgeschäften – wie hier vor einer Bäckerei – bildeten sich lange Schlangen

AP/Hatem Moussa
Zehntausende flohen vom Norden des Gazastreifens in den Süden

Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
Schon zuvor war die Stromversorgung im Gazastreifen lückenhaft – inzwischen ist elektrische Energie ein rares Gut

Reuters/Mohammed Salem
Viele Menschen verließen inzwischen ihre Häuser

Reuters/Saleh Salem
Auch Trinkwasser wird inzwischen knapp

Samstagabend hieß es von der Armee jedoch, Israel räume den Bewohnern weitere Zeit ein, „weil es noch eine riesige Menge Leute gibt, die gehen müssen“. „Wir werden den Zivilisten weiterhin Zeit geben, die Orte zu verlassen, die die Hamas nach unserer Überzeugung für ihre terroristische Infrastruktur nutzt“, sagte auch Außenministeriumssprecher Lior Haiat.

Laut Israel versucht die Hamas, Zivilisten von der Flucht aufzuhalten. Augenscheinlich ist, dass die Hamas die Bewohnerinnen und Bewohner zumindest zum Bleiben aufruft. In einer Fernsehansprache forderte Hamas-Chef Ismail Hanija am Samstag die Menschen im Gazastrefen auf, sich der „Vertreibung“ innerhalb des Palästinensergebiets oder nach Ägypten zu verwehren.

Tote bei Angriff auf Fluchtkonvoi
Für Verstörung sorgten am Samstag Bilder und Videos, die einen Angriff auf einen Flüchtlingskonvoi am Freitag zeigen sollten. Dabei wurden laut palästinensischen Angaben auch Kinder getötet. Mehrere Medien, darunter die britische BBC, bestätigten die Echtheit des Materials. Die israelische Armee wollte sich am Samstag nicht zu Details äußern.

WHO: Evakuierungsaufruf für Krankenhäuser aufheben
Der Aufruf zur Evakuierung erging auch an die Spitäler im Norden des Gazastreifens. Mehrere Einrichtungen kündigten allerdings bereits an, der Aufforderung nicht nachzukommen. Nach dem Al-Kuds-Spital in Gaza-Stadt teilten auch das El-Uda-Krankenhaus und das Kamal-Adwan-Kinderspital mit, dass eine Evakuierung nicht möglich sei. Das berichtete die israelische Tageszeitung „Haaretz“ unter Berufung auf die Hilfsorganisation Physicians for Human Rights–Israel.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) forderte Israel auf, den Aufruf zur Evakuierung von Krankenhäusern sofort zurückzunehmen. Gesundheitseinrichtungen, Mitarbeiter und Patienten müssten geschützt werden.

Das Al-Kuds-Spital wurde in den vergangenen Tagen auch Zufluchtsort für zahlreiche Palästinenserinnen und Palästinenser, darunter viele Kinder und alte Menschen. Laut dem Leiter des größten Krankenhauses in Gaza suchen zurzeit 35.000 Menschen im Krankenhaus Schutz. Viele Menschen seien zu alt, zu krank oder zu schwach, um Richtung Süden zu fliehen, hieß es.

Bericht: Hamas plante gezielte Angriffe auf Schulen
Am Samstag berichteten mehrere Medien, darunter die „New York Times“, aber auch davon, wie die Hamas bei ihrem Angriff auf Israel vergangene Woche ganz geplant und gezielt zivile Einrichtungen ins Visier genommen hatte. Laut den Berichten wurden bei getöteten Hamas-Kämpfern detaillierte Angriffspläne gefunden. Darin seien die Hamas-Kämpfer angewiesen worden, in einem Kibbutz Schulen und ein Jugendzentrum zu stürmen, um „so viele Menschen wie möglich zu töten“, Geiseln zu nehmen und sie schnell in den Gazastreifen zu bringen.

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APA/AFP/Gil Cohen-Magen
Über hundert Menschen wurden von der Hamas aus Israel entführt
APA/AFP/Aris Messinis
Die israelische Armee reagierte bisher in erster Linie mit Luftschlägen auf die verheerende Attacke der Hamas

AP/Hatem Ali
Viele Gebäude im Gazastreifen liegen inzwischen in Trümmern

Reuters/Ibraheem Abu Mustafa
Viele Menschen hoffen auf eine Ausreise Richtung Ägypten – derzeit noch vergeblich

Reuters/Amr Abdallah Dalsh
Der Grenzübergang zwischen Ägypten und dem Gazastreifen ist derzeit ebenfalls gänzlich gesperrt

Kein Strom, kein Wasser
Nach dem beispiellosen Massaker an israelischen Zivilisten durch Hamas-Kämpfer flog Israel in den vergangenen Tagen zum einen massive Angriffe auf Ziele im Gazastreifen, zum anderen verhängte es eine Totalblockade über den ohnehin schon weitgehend abgeschnittenen Küstenstreifen. Am Mittwoch musste das einzige Kraftwerk aufgrund von Treibstoffmangel seinen Betrieb einstellen. Die Bewohnerinnen und Bewohner Gazas sind auf Notstromgeneratoren angewiesen. Auch das Trinkwasser im Gazastreifen wird knapp. Ohne Strom kann Wasser auch nicht in obere Geschoße gepumpt werden.

UNO-Nothilfekoordinator: Situation „rasch unhaltbar“
Am Samstag äußerte sich auch der UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffith zur Lage im Gazastreifen. Diese werden derzeit „rasch unhaltbar“, so der Leiter des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) in einer Erklärung. Im Gazastreifen gebe es keinen Strom, kein Wasser und keinen Treibstoff, und die Lebensmittel würden gefährlich knapp, sagte Griffiths.

Grafik: APA/ORF; Quelle: OCHA

Er forderte alle Länder mit Einfluss auf, diesen zu nutzen, um die Einhaltung der Kriegsregeln zu gewährleisten und eine weitere Eskalation zu vermeiden. Sowohl in den palästinensischen Gebieten als auch in Israel leide die Zivilbevölkerung seit einer Woche „unter völliger Angst und Verwüstung“, sagte Griffith. Er befürchte, dass das Schlimmste noch bevorstehe. „Die vergangene Woche war ein Test für die Menschlichkeit, und die Menschlichkeit hat versagt“, so der UNO-Beauftragte.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte unterdessen eine Verdreifachung der humanitären Hilfen für den Gazastreifen an. Die Hilfsgelder für das von der radikalislamischen Hamas kontrollierte Küstengebiet würden um 50 Millionen Euro auf insgesamt 75 Millionen Euro erhöht, sagte von der Leyen am Samstag nach einem Gespräch mit UNO-Generalsekretär Antonio Guterres. Die EU arbeite weiter mit den Vereinten Nationen, um sicherzustellen, dass die Hilfe auch bei den Bedürftigen ankomme.

Auch Grenzübergang nach Ägypten weiter geschlossen
Zurzeit scheitert die Einfuhr von Hilfsgütern allerdings an den weiterhin geschlossenen Grenzübergängen. Auch der Übergang Rafah an der Grenze zu Ägypten blieb am Samstag weiterhin geschlossen. Dort warteten auf der palästinensischen Seite inzwischen auch zahlreiche internationale Staatsangehörige auf eine mögliche Ausreise. Unter anderem die USA hatten ihre Staatsangehörigen im Gazastreifen aufgefordert, sich nach Rafah zu begeben. Es könne sein, dass der Grenzübergang eher kurzfristig und nur für eine begrenzte Zeit für Ausländer geöffnet werde. Im Laufe des Samstags kam es dazu aber noch nicht.
15.10.2023, red, ORF.at/Agenturen

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Vor Bodenoffensive: Menschen im Gazastreifen ohne Ausweg
 

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#7
GAZASTREIFEN
Israel bombardierte Hunderte Hamas-Ziele
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Israel hat den Beschuss des Gazastreifens verschärft und nach eigenen Angaben Hunderte militärische Ziele der Hamas bombardiert. Kleinere israelische Einheiten begannen zudem mit vereinzelten Einsätzen im Gazastreifen. Auch die Hamas setzte ihren Beschuss aus dem Gazastreifen fort, wo inzwischen der dritte Hilfskonvoi aus Ägypten eintraf. Die Terrororganisation ließ zudem am Montag zwei weitere Geiseln frei.
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Zu den laut aktuellen Zahlen rund 400 von Israels Armee bombardierten Zielen gehörten „Tunnel, in denen sich Hamas-Terroristen befanden“, „Dutzende von Kommandozentralen“ sowie „Militärlager und Beobachtungsposten“ in Moscheen, wie das Militär am Dienstag mitteilte. Auch ein Ziel in einem Flüchtlingslager an der Mittelmeer-Küste sei angegriffen worden. Die Armee werde ihren Einsatz fortsetzen, „um die Sicherheit unschuldiger Zivilisten zu gewährleisten“, hieß es in einer Mitteilung auf Twitter (X).

Die Hamas gab an, dass mindestens 140 Menschen durch die neuen israelischen Angriffe getötet worden seien. Insgesamt seien durch israelische Angriffe mindestens 5.087 Menschen im Gazastreifen getötet und mehr als 15.000 weitere verletzt worden. Die Angaben konnten unabhängig nicht überprüft werden. Wie eine Sprecherin des UNO-Palästinenserhilfswerks (UNRWA) der dpa sagte, wurden seit Beginn des Krieges zudem mindestens 29 Beschäftigte der Vereinten Nationen getötet.

Erste Einsätze auf dem Boden
Israel gab am Montag bekannt, dass mehrere Einheiten des Militärs derzeit schon für die geplante Bodenoffensive trainierten. Die Soldaten und Kommandeure seien „entschlossen und hochmotiviert“, teilte das Militär mit. Der ehemalige israelische Regierungschef Ehud Barak sagte am Montag in der ZIB2, die geplante Bodenoffensive „wird Schweiß, Tränen und Blut“ kosten, „aber wir werden gewinnen“. Da das „aus der Luft“ allein nicht gelingen werde, „müssen wir Bodentruppen einsetzen“.

Kleinere israelische Einheiten begannen bereits mit vereinzelten Einsätzen im Gazastreifen, unter anderem mit dem Ziel, Geiseln zu befreien. Bei einem dieser Einsätze wurde nach israelischen Angaben ein israelischer Soldat im Gazastreifen getötet, drei weitere wurden verletzt. Auch die Hamas setzte am Montag ihren Beschuss aus dem Gazastreifen fort. Die israelische Armee vereitelte eigenen Angaben zufolge einen Angriff mit zwei Drohnen.

Weitere Geiseln freigelassen
Die Hamas ließ am Montag nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) zwei weitere Geiseln im Gazastreifen frei. Ein Sprecher bestätigte in Genf, dass seine Organisation die Befreiung unterstützt und die beiden Personen am Montagabend aus dem Palästinensergebiet gebracht habe.

Nach israelischen Medienberichten handelt es sich um zwei ältere israelische Frauen. Sie seien aus der Ortschaft Nir Os im Grenzgebiet zum Gazastreifen entführt worden. Ihre beiden Ehemänner seien weiterhin in Hamas-Gefangenschaft. Alle vier seien zwischen 80 und 85 Jahre alt.


AP/AP/Hostages and Missing Families Forum
Die beiden Frauen wurden im Grenzgebiet entführt. Nun wurden sie freigelassen.

Zuvor hatte der militärische Arm der Hamas erklärt, zwei weitere Geiseln im Gazastreifen freigelassen zu haben. Die Freilassung der beiden Frauen soll nach Angaben der Hamas von Katar und Ägypten vermittelt worden sein. Die Geiseln seien „trotz der Verbrechen der Besatzung“ aus „humanitären Gründen“ freigelassen worden, erklärte Hamas-Sprecher Abu Obeida auf Telegram. Die Hamas nutzt die Freilassung von Geiseln auch als Propagandaschachzug.

Israels Regierung bedankte sich bei Ägypten und dem Roten Kreuz für deren Beitrag zur Freilassung. Die 79 und 85 Jahre alten Frauen seien an Israels Armee übergeben worden, teilte das Büro des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in der Nacht auf Dienstag mit.

Klinikexplosion: Hamas ohne Beweise
Weiter gingen inzwischen die Debatten über die Urheberschaft der Klinikexplosion in Gaza am 17. Oktober. Die Hamas hatte sofort nach der Explosion Israel die Schuld zugewiesen und von Hunderten Toten gesprochen. Beides wurde nicht bewiesen. Israel hatte seinerseits Belege vorgelegt, wonach die Explosion durch eine islamistische Organisation verursacht worden sei.

Die „New York Times“ schrieb am Montag, die Hamas könne noch immer keine Beweise für ihre Schuldzuweisungen vorlegen. Die Terrororganisation habe auf Anfrage mitgeteilt, dass es keine Spuren von der Munition gebe, die die Explosion an der Klinik beziehungsweise den Brand auf dem Parkplatz davor ausgelöst habe. „Das Geschoß hat sich aufgelöst wie Salz im Wasser“, sagte Hamas-Sprecher Ghasi Hamad der Zeitung. „Es ist verdampft. Nichts ist übrig.“

Inzwischen sind auch die Briten der Ansicht, dass die Explosion wahrscheinlich durch eine palästinensische Rakete verursacht wurde. Die britische Regierung komme auf der Grundlage einer Analyse des britischen Geheimdienstes zu dem Schluss, dass die Detonation „wahrscheinlich von einer Rakete oder einem Teil davon verursacht wurde, die aus dem Gazastreifen gegen Israel abgefeuert wurde“, erklärte Premierminister Rishi Sunak im Parlament in London. Vorige Woche war auch der französische Militärgeheimdienst zum gleichen Schluss gelangt.

Dritter Hilfskonvoi angekommen
In Gaza verschärft sich die humanitäre Lage unterdessen weiter. Am Montag traf der dritte Hilfskonvoi mit Lastwagen von Ägypten aus im Süden des Gazastreifens ein. Ein gutes Dutzend Lastwagen habe die Grenzstelle Rafah überquert, teilte die Hilfsorganisation Ägyptischer Roter Halbmond mit. Am Wochenende hatten bereits 34 Lastwagen mit Hilfsgütern die Grenze überquert.

Nach UNO-Schätzungen sind allerdings mindestens hundert Lkws pro Tag nötig, um die Menschen im Gazastreifen mit dem Nötigsten zu versorgen. Auch dringend benötigter Treibstoff wurde noch nicht in das Palästinensergebiet gebracht.

Ohne Treibstoff würden die Menschen im Gazastreifen, darunter Kinder und Frauen, weiter „stranguliert“, so UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini. Die UNRWA-Reserven seien innerhalb der kommenden drei Tage aufgebraucht. Israel bleibt allerdings dabei, dass kein Treibstoff in den Küstenstreifen gebracht werden darf, denn dieser könne in die Hände der Hamas fallen.

Uneinigkeit in der EU
Die Europäische Union spielte bisher im Konflikt eine untergeordnete Vermittlerrolle. Nun können sich die Mitgliedsstaaten auch nicht auf einen gemeinsamen Kurs bei der Frage einer Feuerpause einigen. Beim Außenministertreffen in Luxemburg stellten sich am Montag Länder wie Spanien, Slowenien und Irland hinter die Forderungen von UNO-Generalsekretär Antonio Guterres nach einem sofortigen humanitären Waffenstillstand.

Länder wie Österreich, Deutschland und Tschechien wollten sich dem jedoch nicht anschließen. „Es wird nur Frieden und Sicherheit für Israel und die Palästinenserinnen und Palästinenser geben, wenn der Terrorismus bekämpft wird“, so die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock. Man sehe, dass die Hamas weiterhin Israel stark mit Raketen angreife. Für Israel sei es existenziell, die Abschreckung wieder herzustellen und dass die EU das Selbstverteidigungsrecht des Landes stark und entschlossen unterstütze.

Der irische Außenminister Micheal Martin sagte hingegen zu den Kampfhandlungen: „Das Leid unschuldiger Zivilisten, insbesondere von Kindern, hat ein Ausmaß erreicht, das eine sofortige Einstellung erfordert.“ Ein Waffenstillstand, um die Lieferung humanitärer Hilfe und medizinischer Hilfsgüter zu ermöglichen, sei „eine Angelegenheit von höchster Dringlichkeit“.

Gipfel sucht Kompromiss
Die Diskussionen werden nun vermutlich am Donnerstag auf Ebene der Staats- und Regierungsspitzen fortgesetzt. Ob es dann eine Einigung geben wird, ist unklar. In einem Entwurf für die Abschlusserklärung des Treffens schlägt EU-Ratspräsident Charles Michel vor, sich der Forderung nach einer „humanitären Feuerpause“ anzuschließen, um einen sicheren Zugang der Hilfe für die Bedürftigen zu ermöglichen.

Die USA wiesen Forderungen nach einer humanitären Waffenruhe zurück. Eine solche Feuerpause würde der Hamas „die Fähigkeit geben, sich auszuruhen, nachzurüsten und neue Terrorangriffe gegen Israel vorzubereiten“, sagte der Sprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller.
24.10.2023, red, ORF.at/Agenturen

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Gazastreifen: Israel bombardierte Hunderte Hamas-Ziele
 

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#8
IN SYRIEN
US-Angriffe auf Ziele in Verbindung mit Iran
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Das US-Militär hat nach eigenen Angaben am Donnerstag zwei Einrichtungen der iranischen Revolutionsgarden (IRGC) im Osten Syriens angegriffen. Das Pentagon sprach von „gezielten Schlägen zur Selbstverteidigung“ nachdem US-Truppen im Irak und in Syrien zuletzt mehrfach Ziel von Angriffen waren.
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Laut einer Erklärung von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin wurden die Angriffe von US-Präsident Joe Biden angeordnet. Die angegriffenen Einrichtungen seien von den iranischen Revolutionsgarden und unterstützten Gruppen genutzt worden. Die Angriffe hätten ein Waffenlager und ein Munitionslager getroffen, die von der IRGC und den von ihr unterstützten Milizen genutzt würden, sagten hochrangige US-Beamte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.

Die Ziele hätten sich in der Nähe von Abu Kamal befunden, einer syrischen Stadt an der Grenze zum Irak. Ausgeführt hätten die Luftangriffe zwei F-16-Kampfjets, so einer der Beamten laut Reuters.

Weitere „Maßnahmen“ in den Raum gestellt
„Diese gezielten Schläge zur Selbstverteidigung sind eine Reaktion auf eine Reihe von anhaltenden und größtenteils erfolglosen Angriffen gegen US-Streitkräfte im Irak und in Syrien durch vom Iran unterstützte Milizen, die am 17. Oktober begannen“, heißt es in der Erklärung des Pentagons. Würden die Angriffe der iranischen Stellvertreter gegen die US-Streitkräfte anhalten, „werden wir nicht zögern, weitere notwendige Maßnahmen zum Schutz unserer Bevölkerung zu ergreifen“, so der US-Verteidigungsminister weiter.

Laut US-Beamten wurden die Angriffe nicht mit Israel koordiniert. In der Erklärung von Austin hieß es, die Operation sei unabhängig von Israels Krieg gegen die Hamas. Austin fügte hinzu: „Wir fordern weiterhin alle staatlichen und nicht staatlichen Akteure auf, keine Maßnahmen zu ergreifen, die zu einem breiteren regionalen Konflikt führen würden.“

Pentagon: US-Truppen mehrfach angegriffen
Während die Spannungen in der Region im Zuge des Konflikts zwischen Israel und der Hamas zunehmen, wurden US-Truppen in den vergangenen Wochen sowohl im Irak als auch in Syrien mehrfach Ziel von Angriffen. Nach Angaben des Pentagon wurden Stellungen von US-Streitkräften und der internationalen Anti-IS-Koalition in den vergangenen zehn Tagen 16-mal angegriffen. Seit dem 17. Oktober seien die Truppen der USA und ihrer Verbündeten mindestens zwölfmal im Irak und viermal in Syrien angegriffen worden, sagte Pentagon-Sprecher Pat Ryder.

Die jüngste Attacke ereignete sich laut Ryder in der autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Es habe „keine Verluste“ und „einige kleinere Schäden an der Infrastruktur“ gegeben. Die Angriffe seien mit einer „Mischung aus Einwegangriffsdrohnen und Raketen“ erfolgt, sagte Ryder. „Wir wissen, dass es sich um vom Iran unterstützte Milizen handelt, und natürlich machen wir den Iran für diese Gruppen verantwortlich.“

Im Irak sind etwa 2.500 US-Soldatinnen und Soldaten stationiert, in Syrien etwa 900. Sie sind Teil der Bemühungen, ein Wiederaufleben der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zu verhindern, die in beiden Ländern einst bedeutende Gebiete kontrollierte, aber in einem mehrjährigen blutigen Konflikt von lokalen Bodentruppen zurückgedrängt wurde, die durch internationale Luftangriffe unterstützt wurden.

Verlegung von 900 US-Soldaten nach Nahost
Angesichts des neu aufgeflammten Nahost-Konflikts verlegte das US-Militär inzwischen rund 900 weitere Soldatinnen und Soldaten in die Region. Einige seien bereits angekommen, andere seien auf dem Weg, sagte Ryder. Ein Teil davon werde aus den USA nach Nahost verlegt. Die Truppen würden nicht nach Israel geschickt, sondern sollten die Einheiten, die sich bereits in der Region befänden, unterstützen, betonte Ryder.

Reuters/U.s. Naval Forces Central Command
Der US-Flugzeugträger „Gerald Ford“ ist eines von mehreren Schiffen, das ins östliche Mittelmeer verlegt wurde

Zur Abschreckung regionaler Akteure haben die USA bereits mehrere Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge in das östliche Mittelmeer verlegt, Truppen des US-Militärs wurden in erhöhte Einsatzbereitschaft versetzt. Die USA wollen Israel außerdem zwei Raketenabwehrsysteme vom Typ Iron Dome (Eisenkuppel) schicken. Diese befänden sich aktuell in den Lagerbeständen der USA und sollen Israel bei der Luftabwehr helfen, sagte Ryder. Außerdem liefere man Abfangraketen. Aus Sicherheitsgründen werde man sich aber nicht dazu äußern, wann diese Lieferungen verschifft und ankommen würden, so Ryder weiter.
27.10.2023, red, ORF.at/Agenturen

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In Syrien: US-Angriffe auf Ziele in Verbindung mit Iran
 

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#9
MILITÄRTECHNIK
Der Merkava ist der perfekte Panzer – aber nur für Israel
Der Merkava gilt als der beste Panzer der Welt. Auch wenn diese These umstritten sein mag, ist eines klar: Er ist sicher der ungewöhnlichste Vertreter seiner Art

Der Merkava ist wohl einer der ungewöhnlichsten Kampfpanzer und wurde genau auf die Bedürfnisse der israelischen Streitkräfte zugeschnitten.
AFP/JACK GUEZ

"Der Merkava ist der beste Panzer der Welt!" Liest man aktuell die Berichte über den Krieg Israels gegen die Terrororganisation Hamas, wird gerne ein Waffensystem herausgestrichen: der Merkava, zu deutsch "Streitwagen". Doch ist der israelische Kampfpanzer wirklich der beste seiner Art? Wahrscheinlich nicht, aber er ist mit Sicherheit der beste Panzer für die Israelis.

Das Dilemma der Konstrukteure
Panzerkonstrukteure hatten nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich eine Kernaufgabe: Ihre Panzer mussten mit den Bedingungen in Europa zurechtkommen. Das war zu Zeiten des Kalten Kriegs, und die Bedrohung durch Panzer wie den T-55 war groß. Wenn es zum Krieg zwischen der Nato und dem Warschauer Pakt gekommen wäre, wäre dieser zum Großteil auf europäischem Boden ausgetragen worden. Deshalb sind der deutsche Leopard und der US-Abrams auch, wie sie sind: Sie dürfen nicht zu schwer sein und im Matsch Osteuropas stecken bleiben. Ihre Panzerung soll stark genug sein, um den meisten feindlichen Bedrohungen standzuhalten, und gleichzeitig sollen sie aber schnell genug für rasche Vorstöße sein. Am Ende steht also immer ein Kompromiss, schließlich muss man Panzerung, Mobilität und Feuerkraft irgendwie ausgleichen.

Als der Warschauer Pakt zerfiel, wurden auch die Bedrohungslagen andere. Nato-Panzer mussten auf einmal überall auf der Welt eingesetzt werden können. Nicht immer ging das ohne Probleme: Abrams-Panzer fielen während der Operation Desert Storm reihenweise aus, weil der irakische Sand die Luftfilter verstopfte. Leopard-Panzer werden aktuell aufwendig mit Klimaanlagen nachgerüstet, um der Besatzung einigermaßen erträgliche Bedingungen zu bieten.

Zugeschnitten auf die IDF
Diese Probleme haben die Isrealis mit ihrem Merkava nicht. Ihr Panzer musste nicht watfähig sein, weil er nie Flüsse überqueren musste. Ihr Panzer konnte schwer und stark gepanzert sein, weil er nicht durch matschiges Terrain musste. Dafür sollte er umso stärker gepanzert, gegen Minen und Sprengfallen überdurchschnittlich gut geschützt sein und auch im urbanen Gelände effektiv operieren können – eine Aufgabe, mit der sich Kampfpanzer traditionell sehr schwertun.

Diese Lektionen mussten die Israel Defense Forces (IDF) freilich erst selbst lernen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kaufte der noch junge Staat alte Sherman-Panzer (M4) der U.S. Army von den Schrottplätzen Europas, als in Ägypten mit dem T-55 schon die nächste Generation von Kampfpanzern anrollte. Zwar wurden die israelischen Sherman mit französischen Kanonen aufgerüstet, aber nach dem Sechstagekrieg war klar: Lange würde man sich damit nicht mehr gegen die Topmodelle aus sowjetischer Produktion wehren können. Aber: Frankreich brach als Waffenlieferant aufgrund eines Embargos weg. Die gemeinsame Entwicklung des Chieftain mit Großbritannien scheiterte am Druck der arabischen Welt.

Also beauftragten die IDF General Isreal "Talik" Tal im Jahr 1970 mit der Entwicklung eines eigenen Kampfpanzers. Die Aufgabenstellung schien unmöglich: Die neue Eigenentwicklung sollte vollständig vor Ort in Israel produziert werden, billig sein, der Besatzung den höchstmöglichen Schutz bieten und zukünftigen sowjetischen Modellen überlegen sein. Nur neun Jahre später, im April 1979, wurde der erste Merkava an die IDF übergeben. Tal hatte zu diesem Zeitpunkt nicht einmal das ihm zur Verfügung gestellte Budget ausgeschöpft.

Die "Tankbulance" im Heck
Schnell erregte der Merkava das Interesse der westlichen Welt. So wurde die vierköpfige Crew bewusst weit hinten im Fahrzeug platziert. Motor und Antriebsstrang wurden in die Front des Fahrzeuges verlegt und dienen der Besatzung als zusätzlicher Schutz. Das ermöglicht gleichzeitig eine ungewöhnliche Nutzung des Hecks: Normalerweise wird hier die Munition in feuerfesten Behältern aufbewahrt. Spart man aber Geschoße ein, können sogar Soldaten im Merkava transportiert werden. Im Heck befindet sich auch die "Tankbulance", eine Art Erste-Hilfe-Posten mit Tragen und medizinischer Ausrüstung. Außerdem gibt es im Heck einen Notausstieg für die Crew.


Das Heck des Merkava bietet Platz für Soldaten.
AFP/JACK GUEZ

Der Turm ist extrem schmal und soll in gedeckter Stellung (Hull-down-Position) nur ein minimales Angriffsziel bieten. Gleichzeitig soll die abgeschrägte Panzerung die Aufprallenergie von auftreffenden Geschoßen möglichst minimieren. Der Merkava ist auch an seiner Unterseite vergleichsweise stark gepanzert. Der Wannenboden ist V-förmig gestaltet, damit die Energie von Explosionen, etwa durch Sprengfallen, zur Seite abgeleitet wird. Die Sitze der Besatzung haben keinen Kontakt mit dem Wannenboden, ein enorm wichtiges Sicherheitsfeature, das in vielen Armeen erst sehr viel später eingeführt wurde. Auch die Oberseite des Merkava ist ungewöhnlich stark gepanzert. Das soll Einsätze im urbanen Szenario wie etwa im Gazastreifen ermöglichen. Die Oberseiten gelten üblicherweise als die verwundbarsten Panzerteile, was die Effektivität von Kampfpanzern im Häuserkampf deutlich einschränkt.

Die starke Panzerung macht den Merkava IV mit 65 Tonnen auch zum schwersten Panzer der Welt, aber das Gewicht spielte für die IDF in der Entwicklung nur eine untergeordnete Rolle.

Dennoch war der Merkava nicht in allen Belangen technisch führend: Die ersten Varianten (Mark I, Mark II) setzten noch auf Panzerstahl, als die Konkurrenz in Gestalt des T-64 oder T-72 schon längst mit Verbundpanzerung unterwegs war. Beim ersten Kampfeinsatz des Merkava erwies sich dies aber nicht als Nachteil. 1982 waren im Libanon 200 Merkava im Einsatz. Nur 13 Prozent der feindlichen Treffer, die die Panzerung des Merkava durchschlugen, drangen auch in den Kampfraum ein. Bei vergleichbaren Panzern war dieser Wert etwa doppelt so hoch, wie der Direktor des Deutschen Panzermuseum Munster, Ralf Raths, in einem Video erklärt. In diesem Konflikt erwiesen sich die Merkava als den T-72 der syrischen Streitkräfte überlegen.


Geschichte(n) aus Stahl: Die Eiserne Wand - der Merkava
DasPanzermuseum

Ungewöhnliche Bewaffnung
Bewaffnet ist der Merkava ab der Version III mit einer im Westen üblichen 120-mm-Kanone, die Munition nach Nato-Standard verschießen kann. Das Feuerleitsystem Knight Mk 3 erlaubt präzises Schießen auch während der Fahrt. Durch ein vollstabilisiertes Sichtsystem mit Wärmebildgerät ist der Merkava Mk IV voll Hunter/Killer-fähig. Das bedeutet, der Kommandant übernimmt die Aufklärung und Zuweisung des Ziels, das der Richtschütze dann bekämpft. Das erlaubt dem Kommandanten, schon das nächste Ziel zu markieren, während der Schütze noch das vorige bekämpft. Vereinfacht gesagt kann die Besatzung dank dieser modernen Optiken im Gefecht in zwei Richtungen gleichzeitig schauen.


Ein Merkava Mk IV im Norden Israels, nahe der Grenze zum Libanon.
AFP/JALAA MAREY

Zusätzlich verfügt der Merkava über zwei 7,62-mm-Maschinengewehre, je eines an der Luke des Kommandanten und an der des Ladeschützen. Achsparallel zur Kanone ist ein 12,7 Maschinengewehr angebracht. Darüber hinaus verfügt der Merkava über ein für Panzer ungewöhnliches Waffensystem: Das Fahrzeug ist mit einem 60-mm-Mörser ausgestattet, der die Bekämpfung von eingegrabenen Feinden ermöglichen soll.

Angetrieben wird der 2003 eingeführte Merkava Mk IV von einem MTU-(Rolls-Royce-)Dieselmotor mit 1.500 PS. Das Design erwies sich als erfolgreich und dient trotz seines hohen Gewichts als Basis für andere Militärfahrzeuge. So baut der Mannschaftstransporter Namer auf dem Merkava auf. Namer bedeutet so viel Leopard, hat aber nichts mit dem gleichnamigen Kampfpanzer deutscher Produktion zu tun.

Hardkill-System
Der Merkava Mk IV Meil Ru'ach (Windbrecher) verfügt darüber hinaus über ein Hardkill-System vom Typ Trophy. Dabei handelt es sich um eine Radaranlage am Fahrzeug. Diese hat einen Rundumblick und erkennt anfliegende Geschoße. Binnen Millisekunden werden Winkel, Geschwindigkeit und Einschlagpunkt berechnet, woraufhin das Abwehrsystem eine Splitterladung abfeuert, die das anfliegende Geschoß zerstört. Gleichzeitig berechnet das System den Ausgangspunkt des Angriffs und ermöglicht der Panzerbesatzung so, gegen die feindlichen Kräfte vorzugehen. Auch Leopard-2-Kampfpanzer können mit diesem System ausgestattet werden.


Links und rechts am Turm ist das Trophy-Hardkill-System zu erkennen.
AFP/JALAA MAREY

Der VR-Panzer
Mit der Variante IV ist die Weiterentwicklung des Merkava aber noch nicht abgeschlossen. Aktuell wird das Modell Mark IV "Barak" (Blitz) eingeführt. Dieses verfügt über eine 360-Grad-Tag-Nacht-Kamera für bessere Rundumsicht. Der Kommandant des Blitzes trägt einen Helm, der jenen von Kampfjetpiloten ähnelt. Er ist nicht nur mit einem Head-up-Display ausgestattet, der Helm soll auch über Augmented-Reality-Fähigkeiten verfügen. Mit dieser Technologie sollen auch VR-Trainings möglich sein. (Peter Zellinger, 28.10.2023)
Der Merkava ist der perfekte Panzer – aber nur für Israel
 

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#10
GAZA
WHO warnt vor „Gesundheitskatastrophe“
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Während die israelische Armee die Offensive gegen die Terrororganisation Hamas im Gazastreifen fortsetzt und dabei auch das Vorhaben der Befreiung der mittlerweile mindestens 240 gemeldeten Hamas-Geiseln vorantreibt, ist die Lage für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen dramatisch. Es drohe eine „Katastrophe für die öffentliche Gesundheit“, heißt es von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Er bestehe die Gefahr von Todesfällen, die nicht direkt mit der Bombardierung im Zusammenhang stehen.
Online seit heute, 15.02 Uhr (Update: 16.37 Uhr)
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„Es ist eine drohende Katastrophe für die öffentliche Gesundheit, die durch die Massenvertreibung, das Leben auf engstem Raum und Schäden an der Wasser- und Sanitärinfrastruktur droht“, sagte WHO-Sprecher Christian Lindmeier am Dienstag. Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens 800.000 Menschen in den Süden geflüchtet sind. Auch aufgrund dieser Zustände würden Menschen sterben.

UNICEF: Säuglingen droht Dehydratation
Das UNO-Kinderhilfswerk (UNICEF) warnte vor dem Risiko von Todesfällen bei Säuglingen aufgrund von Dehydratation, da die Wasserproduktion nur fünf Prozent des Normalniveaus beträgt. „Der Tod von Kindern aufgrund von Dehydratation, insbesondere von Säuglingssterblichkeit aufgrund von Dehydratation, stellt daher eine wachsende Bedrohung dar“, sagte UNICEF-Sprecher James Elder. Kinder würden auch durch das Trinken von Salzwasser krank.

Reuters/Mohammed Fayq Abu Mostafa
Mit von Tieren gezogenen Karren wird Wasser aus einer Entsalzungsanlage transportiert

Großer Hilfskonvoi soll bald Rafah passieren dürfen
WHO-Sprecher Lindmeier forderte, Treibstoff in den Gazastreifen zuzulassen, um den Betrieb von Entsalzungsanlagen zu ermöglichen. Israel hat den Gazastreifen blockiert und weigert sich, Treibstofflieferungen zuzulassen, mit der Begründung, dass dieser von der Hamas für militärische Zwecke genutzt werden könnte. Hingegen kündigte Israel an, dass demnächst bis zu 100 Lkws mit Hilfsgütern den Grenzübergang Rafah passieren dürften. Bisher waren insgesamt etwas mehr als 140 Lkws über die Grenze gefahren.

Die UNICEF wies unterdessen auf die Lage der Kinder in Gaza hin. Laut UNICEF-Sprecher James Elder seien etwa 940 Kinder in Gaza als vermisst gemeldet worden – einige seien vermutlich unter den Trümmern verschüttet, so Elder. Andere würden unter Traumata oder starkem Stress leiden, so Elder, zum Beispiel die vierjährige Tochter einer UNICEF-Kollegin, die begonnen habe, sich selbst zu verletzen, indem sie sich die Haare ausreiße und sich an den Oberschenkeln kratze, bis sie blutet.

Israelische Armee meldet „heftige Kämpfe“
Unterdessen steht bei der Offensive der israelischen Armee nach wie vor der nördliche Teil des Gazastreifens im Fokus, den Militärsprecher Jonathan Conricus Dienstagfrüh als „Gravitationszentrum der Hamas“ bezeichnete. Im Kampf gegen die Hamas schlage man aber weiterhin „in allen Teilen des Gazastreifens zu“. Auch die Hamas meldete am Dienstag Kämpfe an mehreren Punkten um Gaza-Stadt, seitens der israelischen Armee gibt es zu den genauen Schauplätzen keine Angaben – gemeldet wurden „heftige Kämpfe“ tief in Gaza, wie es hieß.

Israel: Greifen Tunnelanlagen in Gaza an
„Wir jagen ihre Kommandeure, wir greifen ihre Infrastruktur an, und wann immer es ein wichtiges Ziel gibt, schlagen wir zu“, zitierte unter anderem die BBC den Militärsprecher. Conricus erneuerte zudem Israels Vorwurf, dass die Hamas zivile Infrastruktur im Gazastreifen als Versteck und Zivilisten als Schutzschilde benutze. Konkret verwies er auf das Al-Schifa-Spital, das größte Krankenhaus von Gaza-Stadt.

Die israelische Armee konzentriert sich nach eigenen Angaben jetzt auf die Tunnelsysteme der Hamas im Gazastreifen. Innerhalb des vergangenen Tages seien schätzungsweise 300 Ziele angegriffen worden einschließlich Rampen zum Abschuss von Raketen und andere militärische Einrichtungen der „terroristischen Hamas-Organisation“, erklärte das israelische Militär am Dienstag.

Hamas meldet Tote nach Angriff auf Flüchtlingslager
Unterdessen meldete die Hamas Beschuss auf das Flüchtlingslager Dschabalija in Gaza – nach Angaben des von der Terrororganisation kontrollierten Gesundheitsministeriums seien mindestens 50 Menschen getötet worden. 150 weitere Menschen seien verletzt worden, hieß es weiter. Dutzende Menschen seien unter Trümmern verschüttet. Unabhängig sind diese Angaben nicht zu prüfen bzw. zu bestätigen.


Grafik: APA/ORF; Quelle: New York Times/IDF

31.10.2023, red, ORF.at/Agenturen
Gaza: WHO warnt vor „Gesundheitskatastrophe“
 

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#11
Hamas-Tunnel unter Gazastreifen sind "unterirdischer Albtraum"

©APA/AFP/JALAA MAREY

Hamas-Tunnel unter Gazastreifen
Das Tunnelsystem unter dem Gazastreifen ist eine der größten Herausforderungen für die israelische Armee im Kampf gegen die Hamas. Die verborgenen Gänge der radikalislamischen Palästinenserorganisation seien ein "unterirdischer Albtraum", so eine Studie der US-Militärakademie West Point. Laut dieser gibt es 1.300 Tunnel mit einer Gesamtlänge von 500 Kilometern - ein sehr dichtes Netz in dem nur 41 Kilometer langen und maximal ein Dutzend Kilometer breiten Gazastreifen.

"Das ist wirklich eine unterirdische Stadt", schreibt der Autor der aktuellen Studie, John Spencer, und spricht von einem "bösen Problem" für Israels Militär, "für das es keine perfekte Lösung gibt". Einige Schächte sind bis zu 40 Meter tief und können nach Angaben der Armee 450 Kilogramm schweren Bomben standhalten.

"Die Hölle unter der Erde"
Eine der vergangene Woche freigelassenen israelischen Geiseln berichtete, dass sie nach ihrer Entführung "zwei oder drei Stunden lang" durch ein unterirdisches "Tunnelnetz" geführt worden sei. Das verborgene Labyrinth sei "die Hölle unter der Erde", schrieb die israelische Zeitung Maariv diese Woche.

"Tunnel werden das entscheidende Element der Guerillakriegsstrategie der Hamas" gegen die israelischen Soldaten sein, ist Spencer überzeugt. Israel geht davon aus, dass die Hamas die meisten ihrer Angriffe aus den Tunneln heraus steuert.

Raketenwerfer, Stromversorgung, Belüftung
In den unterirdischen Gängen sollen Batterien von Raketenwerfern versteckt sein, die bei Bedarf schnell aus- und wieder eingefahren werden können. Auch eine eigene Stromversorgung, Belüftungsanlage sowie Lebensmittel- und Wasservorräte soll es geben. Die Armee vermutet auch unter Krankenhäusern Zugänge zu dem Tunnelsystem.

Die Hamas könne "ihr unterirdisches Netzwerk nutzen, um Kämpfer zur richtigen Zeit an den richtigen Ort zu bringen - oder um sie von Gefahren fernzuhalten", sagt Mick Ryan, ein pensionierter US-General, der jetzt für die Denkfabrik Center for Strategic and International Studies in Washington arbeitet.

Das Tunnelnetz ist auch deshalb schwer anzugreifen, weil es unter extrem dicht besiedeltem Gebiet liegt. Im Gazastreifen leben 2,4 Millionen Menschen.

Um die Blockade des Gazastreifens durch Israel nach der Machtübernahme der Hamas 2007 zu umgehen, begannen die Palästinenser Hunderte von Stollen unter der Grenze zum ägyptischen Sinai zu graben. Sie schmuggelten Menschen, Waren, aber auch Waffen und Munition hinein und heraus. "Seit 2014 ist das Ziel der Hamas jedoch, ein Netz von unterirdischen Tunneln zu schaffen, mit denen man sich durch den Gazastreifen bewegen kann", sagt ein israelischer Militärvertreter.

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Ägypten flutete einige Tunnel, Israel zerstörte nach eigenen Angaben bis 2021 hundert Kilometer des unterirdischen Labyrinths. Doch die Hamas grub immer neue Gänge. Der Bau eines jeden Kilometers Tunnel kostet dem Militärvertreter zufolge rund 500.000 Dollar (479.000 Euro).

Die israelische Armee hat nach Angaben westlicher Experten Spezialkommandos für das Aufspüren und die Zerstörung von Tunneln gebildet. Die Einheit Yahalom habe "neue Methoden für die unterirdische Kriegsführung entwickelt", sagt Ex-General Spencer. Auch eigens ausgebildete Hunde sollen dabei zum Einsatz kommen.

Die Hamas hatte am 7. Oktober einen beispiellosen Großangriff auf Israel begonnen. Dabei wurden nach israelischen Angaben etwa 1400 Menschen getötet und mindestens 239 weitere verschleppt. Israel bombardiert den Gazastreifen seither. Durch die israelischen Angriffe wurden nach Angaben der Hamas, die sich nicht überprüfen lassen, mehr als 8300 Palästinenser getötet.
31.10.2023, Artikel von Redaktionkurier.at
Hamas-Tunnel unter Gazastreifen sind "unterirdischer Albtraum" (msn.com)
 

josef

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#12
ORF - Liveticker und diverse sonstige Beiträge zur Situation - Teil 2:
Fortsetzung von Beitrag # 1


01.11.: Auch für Ausländer: Ägypten öffnet Grenze zu Gaza für Verletzte

02.11.: Krieg in Nahost: Biden fordert erneut „Pause“

03.11.: 23 Soldaten getötet: Israel spricht von heftigen Kämpfen in Gaza

04.11.: Israel – Hamas: Ringen um Feuerpause und Geiselfreilassung

05.11.: Gaza: Israels Armee meldet „schwere Kämpfe“

06.11.: „Nächste Stufe“: Israel nimmt vermehrt Hamas-Tunnel ins Visier

07.11.: Gazastreifen: Über zwei Drittel auf der Flucht

08.11.: Israel: Armee „operiert“ im Zentrum von Gaza-Stadt

09.11.: Gazastreifen: Internationales Ringen um Hilfe für Zivilisten

10.11.: Israel: Waffenruhe in weiter Ferne, nur Feuerpausen

11.11.: Zukunft von Gaza: Netanjahu lehnt internationale Kontrolle ab

12.11.: Netanjahu: Norden Gazas unter Kontrolle Israels

13.11.: Biden: Al-Schifa-Spital „muss geschützt werden“

14.11.: Soldatin tot: Geiselvideos als Waffe der Hamas

15.11.: „Gezielte Operation“: Israels Armee dringt in Al-Schifa-Spital ein

16.11.: Gaza: Ungleiches Ringen um Deutungsmacht

17.11.: Hilfslieferungen gestoppt: UNO warnt vor Hungersnot in Gaza

19.11.: Israelische Armee: Neue Belege für Hamas-Zentrale in Spital

20.11.: Süden verstärkt im Fokus: Israel weitet Gaza-Offensive aus

22.11.: Feuerpause: Israel stimmt Geiseldeal mit Hamas zu

24.11.: Hamas vs. Israel: Erste Geiseln wieder frei

26.11.: Mit Verzug: Hamas lässt weitere Geiseln frei

27.11.: Erste Frist läuft aus: Tauziehen um Verlängerung von Feuerpause

30.11.: Einigung vor Fristende: Gaza-Feuerpause erneut verlängert

Fortsetzung siehe Beitrag # 20
 
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#13
NAHER OSTEN
Rechtfertigungsdruck auf Israel steigt
Die Angriffe auf das Flüchtlingslager Jabalia ließen die Kritik an der israelischen Militäroperation im Gazastreifen nach den Terrorattacken von 7. Oktober weiter wachsen

Das Flüchtlingslager Jabalia auf Satellitenbildern vor und nach dem israelischen Angriff vom Dienstag.
AFP/Satellite image ©2023 Maxar

Nach dem Geschmack der israelischen Regierung war die Aussage nicht, vielen aber sprach Joe Biden aus der Seele: "Ich denke, wir brauchen eine Pause", erklärte der US-Präsident am Mittwoch (Ortszeit) mit Blick auf die Situation im Gazastreifen.

International Beachtung fand zunächst vor allem der Satz, der unmittelbar danach folgte: "Eine Pause bedeutet, Zeit zu geben, damit die Gefangenen rauskommen." Das Weiße Haus beeilte sich kurz darauf mit einer Erklärung, der zufolge Biden damit die Geiseln gemeint habe, die von der radikalislamischen Hamas bei ihrem Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober entführt worden waren.

Für die Betroffenen mag der Unterschied nahezu bedeutungslos sein. In der Sprache der Diplomatie aber, in der immer häufiger auch das Vokabular des Kriegs anzutreffen ist, werden Geiseln von Terrorkommandos und Kriegsgefangene doch nicht über einen Kamm geschoren.

Umstrittene Forderung
Die nachfolgenden Unkenrufe über den neuerlichen Versprecher des 80-jährigen Biden lenkten dann jedoch fast ein wenig ab von dessen eigentlicher Forderung: Bisher nämlich hatte es das Weiße Haus stets vermieden, von einer Waffenruhe zu sprechen. Eine solche, so die Überlegung, würde nur der Hamas in die Hände spielen.

Das ist auch der Standpunkt von Israels Premier Benjamin Netanjahu, der sich bereits am Montag gegen andere Forderungen nach einer Waffenruhe gestellt hatte. Eine solche käme einer "Kapitulation vor dem Terror" gleich, erklärte er.

Seither allerdings kam Israel mit seiner Antwort auf das Massaker vom 7. Oktober immer mehr unter Druck. Grund sind unter anderem die Angriffe auf das dicht besiedelte Flüchtlingslager Jabalia nördlich von Gaza-Stadt.

Beim ersten, am Dienstag, hatte Israel laut eigenen Angaben ein darunter liegendes Tunnelsystem im Visier. Ein führender Hamas-Vertreter und etwa 50 weitere Kämpfer der Organisation seien im Zuge der Bombardierung getötet worden. Die Hamas erklärte, dass auch sieben der aus Israel verschleppten Geiseln unter den Todesopfern seien.

Am Mittwoch folgte dann der zweite Angriff auf das Lager, das keiner Zeltstadt gleicht, sondern einem dicht bebauten und besiedelten Stadtviertel (siehe Wissen unten). Wieder wurde nach israelischen Angaben ein Hamas-Kommandant getötet, konkret der Chef einer Panzerabwehrraketeneinheit.

Während Israel die Attacken als möglichst zielgerichtete Operationen präsentiert – so hätten etwa am Mittwoch Kampfjets "basierend auf präzisen Geheimdienstinformationen" einen Kommandokomplex der Hamas angegriffen –, sprechen palästinensische Angaben von "Massakern".

"Guerilla-Taktik" der Hamas
Die israelische Seite wiederum kontert mit dem Argument, das bereits im Zusammenhang mit Raketeneinschlägen in unmittelbarer Nähe von Spitälern zu hören war: "Die Hamas baut ihre Terror-Infrastruktur absichtlich unter, um und in zivilen Gebäuden auf und gefährdet damit absichtlich die Zivilbevölkerung", hieß es seitens der Armee. Ungeachtet dessen zeigte sich das UN-Menschenrechtsbüro "ernsthaft besorgt, dass es sich um unverhältnismäßige Angriffe handelt, die Kriegsverbrechen darstellen könnten".

Indes rückte das israelische Militär am Donnerstag mit Panzern und Truppen weiter auf Gaza-Stadt vor. Augenzeugen berichteten von einer "Guerilla-Taktik" der Hamas: Immer wieder kämen deren Kämpfer aus dem weitverzweigten Tunnelsystem, um die militärisch überlegenen israelischen Truppen unter Beschuss zu nehmen und sich danach wieder rasch zurückzuziehen.

Einige Ausländer konnten am Donnerstag – den zweiten Tag in Folge – den Gazastreifen Richtung Ägypten verlassen. Bei einem Treffen mit ausländischen Diplomaten kündigte der stellvertretende ägyptische Außenminister Ismail Chairat an, sein Land werde insgesamt 7000 Ausländer mit mehr als 60 Staatsbürgerschaften aus dem Küstenstreifen holen.
(Gerald Schubert, 2.11.2023)

WISSEN
Flüchtlingslager – oder Stadt?

Sind Ansiedlungen wie Jabalia im Gazastreifen, das Israel am Dienstag und Mittwoch bombardierte, wirklich Flüchtlingslager – oder Stadtgebiet? Die Antwort ist kompliziert. Baulich handelt es sich bei den palästinensischen Flüchtlingslagern in der Region um oft ärmliches, aber um verbautes städtisches Gebiet. Die Definition als Flüchtlingslager ergibt sich aus der Geschichte nach der Flucht bzw. Vertreibung ab 1947. Damals beschloss die Uno, nicht nur die Vertriebenen selbst, sondern auch Nachkommen als Flüchtlinge zu definieren. Davon leitet sich jetzt noch der Name ab – auf den auch arabische Staaten bestehen.
(red)
Rechtfertigungsdruck auf Israel steigt
 

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#14
GAZAS FLÜCHTLINGSCAMPS
Unterschlupf und Kriegsschauplatz
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Die Explosionen im Flüchtlingslager Dschabalja im Gazastreifen haben für Empörung gesorgt. Die israelische Armee bestätigte zwei Luftschläge binnen weniger Tage. Dschabalja sei eine Hochburg der Hamas, man habe ranghohe Kommandanten töten können, betonte das Militär. Gleichzeitig sollen Dutzende Zivilisten ums Leben gekommen sein. Im Krieg verschärft sich die Situation der Menschen in den dicht besiedelten Camps.
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Im Gegensatz zu vielen Flüchtlingslagern auf der Welt ist Dschabalja keine Zeltstadt. Das Lager besteht aus Betonblockhäusern, die zum Großteil von den Heimischen selbst erbaut und erweitert worden sind. Auf Bildern waren nach den Angriffen eingestürzte Gebäude zu sehen und Leichen, die aus den Trümmern getragen wurden. Israel sagte, dass die von der Hamas unter den Gebäuden errichteten Tunnel, die bei den Angriffen zusammengestürzt seien, mitverantwortlich für das Ausmaß der Zerstörung sind.

Vor allem aus arabischen Staaten tönte scharfe Kritik Richtung Israel. Auch der Außenbeauftragte der Europäischen Union, Josep Borrell, zeigte sich „entsetzt“ über den Angriff auf das Lager. Zugleich betonte er, Israel habe das Recht zur Selbstverteidigung, aber eben im Rahmen des humanitären Völkerrechts. Auch die USA teilten mit, dass Israel das Recht habe, sich zu verteidigen, und gleichzeitig verantwortlich für den Schutz der Zivilbevölkerung sei.

Reuters/Anas Al-Shareef
Nach einer Explosion stürzten Gebäude im Flüchtlingslager ein, laut Israel befanden sich darunter auch Hamas-Tunnel

Israel hat die Zivilbevölkerung in Gaza mehrmals aufgefordert, zu ihrer eigenen Sicherheit in den Süden zu fliehen. „Unser Kampf gilt der Hamas, nicht den Menschen in Gaza. Die Hamas nutzt die Menschen in Gaza als Schutzschilde, indem sie sich in Schulen und Krankenhäusern einnistet“, so das Militär. Die Vereinten Nationen halten den Plan, die Zivilisten und Zivilistinnen aus dem Norden in den Süden zu bringen, für praktisch unmöglich. Viele Menschen blieben in ihren Häusern in den Flüchtlingssiedlungen.

Ein dauerhaftes Provisorium
Der Gazastreifen gilt als eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Seit 2007 ist die radikalislamische Hamas im Küstenstreifen an der Macht. Die Bevölkerung lebt in großer Armut. Laut Angaben des UNO-Palästinenserhilfswerks UNRWA sind aktuell mehr als zwei Drittel der rund 2,1 Millionen Einwohner registrierte palästinensische Flüchtlinge, viele von ihnen wohnen in den Flüchtlingscamps. Ihre Vorfahren waren seit 1948 wegen der Kriege in den Gazastreifen geflohen. Für die Vertriebenen wurden seither acht Flüchtlingslager errichtet.

AP
1957 sah das Flüchtlingscamp Dschabalja noch provisorisch aus

1950 startete UNRWA Programme, um für die Schulbildung der Kinder und Jugendlichen zu sorgen sowie Gesundheitsdienste für die Bewohner und Bewohnerinnen anzubieten. Die UNO-Behörde reagierte auf die Bedürfnisse von etwa 750.000 Flüchtlingen. Als klar wurde, dass die Vertriebenen länger bleiben werden, sei das provisorische System der Lager auf permanente Wohnsiedlungen umgestellt worden, berichtete jüngst „The Economist“. Später wurden Häuser aus Lehm und aus Beton gebaut sowie Straßen angelegt.

Die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner in den Flüchtlingslagern stieg stetig an. Zum einen bot die Infrastruktur Wohnmöglichkeiten, zum anderen gilt die Geburtenrate als eine der höchsten weltweit. Das führte aber auch dazu, dass sich die Lager unreguliert erweiterten. Die Bewohner und Bewohnerinnen errichteten nach eigenem Ermessen neue Stockwerke und Gebäude, Gassen und Straßen wurden dadurch noch enger, die Häuser instabiler. Heute nehmen mehrere Millionen Menschen die Hilfe von UNRWA in Anspruch.

Grafik: APA/ORF; Quelle: ISW/WarMapper

Schlechtere Bedingungen seit Hamas-Übernahme
Dschabalja ist das größte Flüchtlingslager im Gazastreifen. Es wurde 1948 in der Nähe der gleichnamigen Stadt in Nordgaza errichtet. Das Lager ist weder mit Zäunen noch mit anderen Barrieren von der Umgebung abgetrennt. Die Einwohner und Einwohnerinnen können sich grundsätzlich frei bewegen, was in anderen Flüchtlingslagern der Welt kaum möglich ist. Heute umfasst das Lager eine Fläche von 1,4 Quadratkilometern, auf denen nach Angaben der UNO 116.000 Menschen registriert sind. Die Wohnsituation gilt als dramatisch.

Bereits vor dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober auf israelische und ausländische Zivilisten und Zivilistinnen hätten die Bedingungen in den Lagern zu den schlechtesten in der gesamten Region gehört, wird Anne Irfan von der „Washington Post“ zitiert. Irfan lehrt in London und ist Expertin auf Gebiet der palästinensischen Flüchtlingsgeschichte. „Die sozioökonomischen Bedingungen im Gazastreifen haben sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten verschlechtert“, betonte Irfan und weist somit auf die Machtübernahme durch die Hamas hin.

Grafik: APA/ORF; Quelle: dpa, OCHA
Und Dschabalja gilt als Hochburg der Hamas. Das Flüchtlingslager ist Zufluchtsort für deren Kämpfer und Unterstützer. 1987 war Dschabalja Schauplatz des Ausbruchs der Ersten Intifada, des palästinensischen Aufstandes gegen die israelische Besatzung. Zuvor waren vier Palästinenser bei Zusammenstößen mit dem israelischen Militär gestorben – drei davon stammten aus dem Flüchtlingslager. Es kam zu Massendemonstrationen und Ausschreitungen. 2005 zog sich Israel militärisch aus dem Gazastreifen zurück.

Israel: Ziel ist Tunnelsystem
Die Hamas habe kein Interesse daran, die Situation in den Lagern zu verbessern, sagen Fachleute. Vielmehr würden sie die UNO-Gebäude weiterhin dafür nutzen, um sich unter den Palästinensern zu verstecken und Raketen auf Israel abzufeuern. Die Infrastruktur der Hamas ist vor allem in einem weitläufigen Tunnelsystem organisiert, das das israelische Militär im Visier hat. Die laufende Bodenoffensive des israelischen Militärs konzentriert sich zunehmend auf den Norden des Küstenstreifens.

APA/AFP/Mohammed Abed
Nach Ansicht der UNO ist die humanitäre Lage in den Camps katastrophal

Die Angriffe auf das Flüchtlingslager Dschabalja begründete die Armee ebenfalls mit dem Tunnelsystem. Die Hamas verschanze sich hinter ziviler Infrastruktur, „die Hamas will dieses Bild der Zerstörung“, sagte ein Militärsprecher. Man sei sich des Dilemmas aber bewusst. Denn einerseits würde die Armee wissen, dass sich in der Gegend noch immer Zivilisten und Zivilistinnen aufhielten – obwohl das Gebiet aufgrund der Präsenz der Hamas als „rote Zone“ ausgewiesen sei. Zugleich sei die Aktivität der Hamas in dem Flüchtlingslager für die israelische Armee eine Bedrohung, auf die sie reagieren müsse.

Die Hamas hatte am 7. Oktober einen großangelegten Angriff auf Israel begonnen, bei dem nach israelischen Angaben rund 1.400 Menschen getötet wurden, darunter überwiegend Zivilisten und Zivilistinnen. Mehr als 240 Menschen wurden aus Israel von Hamas-Kämpfern in den Gazastreifen verschleppt. Durch Israels Gegenangriffe im Gazastreifen wurden laut nicht unabhängig überprüfbaren Angaben der Hamas bisher mehr als 9.000 Menschen getötet.
04.11.2023, jkla, ORF.at

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Gazas Flüchtlingscamps: Unterschlupf und Kriegsschauplatz
 

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#16
7. OKTOBER
Hamas-Terrorangriff großteils rekonstruiert
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Ein Monat nach dem verheerenden Terrorangriff der Hamas auf Israel lässt sich der Ablauf des Massakers am 7. Oktober zumindest großteils rekonstruieren. Von einer kleinen Gruppe geplant, wurden die meisten der Angreifer offenbar erst in letzter Minute informiert. Einzelnen Einheiten wurden demnach spezifische Aufgaben zugewiesen. Und laut Experten war die Terrororganisation selbst vom Ausmaß des Angriffs überrascht. Doch einige Fragen sind weiterhin offen.
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Mehrere Medien versuchten in den vergangenen Tagen und Wochen, die Ereignisse des 7. Oktobers zusammenzutragen und einzuordnen. Zuletzt veröffentlichte der britische „Guardian“ eine Rekonstruktion des Angriffs.

Diese Darstellung beruhe auf unterschiedlichen Quellen, heißt es in dem Artikel – darunter Gespräche mit israelischen Geheimdienstmitarbeitenden, Quellen mit direkter Kenntnis von Vernehmungsberichten von bei dem Angriff gefangen genommenen Hamas-Kämpfern sowie von der Hamas und dem israelischen Militär freigegebenes Material. Einige Behauptungen seien „schwer zu überprüfen“, aber gleichzeitig von unabhängigen Hamas-Experten als plausibel bezeichnet worden.

Befehle erst in Morgenstunden
Laut „Guardian“ sollten alle Hamas-Männer, die gezielt vorbereitet worden waren, an den Morgengebeten in ihren gewohnten Moscheen teilnehmen. Dort seien mündlich die nächsten Befehle weitergegeben worden: Treffpunkte, an denen die – meist sehr jungen – Männer bewaffnet erscheinen sollten. Alles andere wurde dem Bericht zufolge noch geheim gehalten.

Erst als sich die Männer dort versammelt hatten, wurden zusätzliche Munition und größere Waffen verteilt – Handgranaten, Panzerfäuste, schwere Maschinengewehre, Scharfschützengewehre und Sprengstoff. Dann wurden die Männer mit spezifischen Aufgaben betraut: Jeder Einheit, so der „Guardian“, wurde ein eigenes Ziel zugewiesen, Militärstützpunkte, ein Kibbuz, eine Straße oder eine Stadt.

Teilweise seien den Befehlen Karten beigefügt gewesen, auf denen die Verteidigungsanlagen und die wichtigsten Punkte des Ziels eingezeichnet waren. Laut „Guardian“ gehörte das Musikfestival, bei dem 260 Menschen starben, nicht zu den ursprünglichen Zielen. Wann und wie der mörderische Überfall auf das Rave entschieden wurde, ist unklar.

Drei Aufgaben
Drei Aufgaben wurden an verschiedene Einheiten vergeben. Eine erste Gruppe erhielt demnach den Befehl, die israelischen Militärstützpunkte rund um Gaza zu überwältigen oder Zivilistinnen und Zivilisten in ihren Häusern anzugreifen. Vor allem die Angriffe auf militärische Ziele sollen von den Nukhba-Kadern durchgeführt worden sein, der Elitetruppe der Hamas-Terroristen.

Reuters/Ronen Zvulun
Von einer Polizeistation in Sderot nahe der Grenze zu Gaza blieben nur Trümmer

Eine zweite Gruppe sollte Stellungen gegen die israelischen Streitkräfte verteidigen, wenn diese eintrafen. Laut „Guardian“ sei das aber nicht als Suizidmission geplant gewesen – auf diesen Punkt hätten die Planer auch Wert gelegt.

Eine dritte Gruppe von Einheiten hatte den Auftrag, so viele Geiseln wie möglich zu nehmen und sie nach Gaza zu bringen. An den Grenzen warteten demnach spezielle Trupps, um die Geiseln in den riesigen Tunnelkomplex unter dem Gazastreifen zu bringen.

Angriff auf Überwachungs- und Kommunikationssystem
Um 6.30 in der Früh begann der konzertierte Angriff: Zwischen 2.500 und 3.000 Raketen aus dem Gazastreifen gingen auf Israel nieder. In den Grenzzaun wurden laut „Le Monde“ an rund 30 Stellen Lücken gesprengt und teilweise mit Bulldozern vergrößert. Angegriffen wurden zunächst die Grenzstationen der israelischen Armee, es gelang zudem, das Überwachungs- und Kommunikationssystem zum Großteil auszuschalten. Kameras wurden laut Berichten mit Drohnen angegriffen. Das dürfte einer der Hauptgründe gewesen sein, wieso die Reaktion der israelischen Armee so spät erfolgte.

Reuters/Mohammed Fayq Abu Mostafa
Sogar Bulldozer setzte die Hamas ein, um den Grenzzaun zu überwinden

Motorisiert und zu Fuß stürmten die Angreifer nach Israel, einige auch aus der Luft mit – teils motorisierten – Paragleitern. Die Gefahr von Paragleitern sei dem israelischen Militär bekannt gewesen, schrieb die israelische Zeitung „Haaretz“. Allerdings sei man davon ausgegangen, solche Angriffe unter normalen Umständen einfach abwehren zu können. „Haaretz“ schreibt weiters, die Paragleiter hätten die Angreifer auf dem Boden teilweise zu ihren Zielen geführt – unter anderem zu dem Musikfestival.
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Wahlloses Morden

Das Ausmaß des Mordens wurde erst später offenbar: Rund 1.200 Menschen wurden getötet, der Großteil davon Zivilistinnen und Zivilisten. Die Terroristen töteten wahllos Kinder und alte Menschen, Frauen und Männer. In einem Interview mit dem katarischen Sender al-Jazeera versuchte ein ranghoher Hamas-Anführer die Schuld an toten Zivilistinnen und Zivilisten anderen in die Schuhe zu schieben, wie „Kriminellen“ und den Israelis selbst.

Alle Taten der Terroristen widersprechen dem, auch und vor allem, dass zivile Ziele wie Kibbuze überfallen wurden. Auch die schnell in den sozialen Netzwerken verbreiteten Aufnahmen aus Handys der Hamas-Männer strafen diese Aussagen Lügen. Israel zeigte Aufnahmen von Bodycams von festgenommenen und getöteten Terroristen internationalen Journalistinnen und Journalisten. Die darauf zu sehenden Grausamkeiten sind kaum mit Worten zu beschreiben.

Reuters/Ronen Zvulun
Mehr als 60 Menschen wurden im Kibbuz Kfar Asa ermordet, mehr als ein Dutzend wurden verschleppt

Auch Zivilisten überquerten Grenze
Viele Expertinnen und Experten wie auch israelische Sicherheitsquellen sagten laut „Guardian“, die Hamas sei vom Ausmaß des Terrorangriffs selbst überrascht worden. Die langsame Reaktion der israelischen Streitkräfte habe es einigen Terroreinheiten ermöglicht, mehrfach aus dem Gazastreifen nach Israel zu kommen, um weitere Geiseln zu nehmen, so die Zeitung unter Berufung auf israelische Beamte.

Reuters/Ahmed Zakot
Schwer bewaffnet drangen die Terroristen nach Israel ein

Laut unterschiedlichen Schätzungen waren zwischen 2.000 und 3.000 Hamas-Männer an dem Angriff beteiligt. Die Lücken im Grenzzaun sprachen sich im Gazastreifen in Windeseile herum, einige Medien berichten, die Hamas habe auch per Lautsprechern dazu aufgefordert, die Grenze zu überqueren, und habe quasi ein Kopfgeld auf Geiseln ausgesetzt. Tatsächlich kamen auch Mitglieder der Terrorgruppe Islamischer Dschihad, die in die Pläne wohl nicht eingeweiht waren, nach Israel. Und auch Zivilisten kamen nach Israel – mit welcher Absicht auch immer. Laut einigen Quellen könnten somit bis zu 4.000 Personen aus Gaza die Grenze überwunden haben.

Nur kleinster Kreis eingeweiht
Israelische Sicherheitsbeamte glauben laut „Guardian“, dass die politische Führung der Hamas im Ausland nicht über die Einzelheiten der Operation informiert wurde – ebenso wenig wie der Iran als Hauptgeldgeber, obwohl beide wahrscheinlich wussten, dass etwas geplant war. „Es war ein sehr enger Kreis“, sagte eine der Hamas nahestehende Quelle vergangenen Monat gegenüber Reuters. Das erklärt zumindest teilweise, wieso der israelische Geheimdienst derart überrascht wurde. Zudem vermied man jede Art der überwachbaren elektronischen Kommunikation.

Zwei Drahtzieher
Auch wenn Details zur Planung noch unklar sind, als Drahtzieher gelten zwei Männer: Mohammed Deif und Jahja Sinwar. Deif ist im Gazastreifen der militärische Anführer, Sinwar der politische Anführer der seit 2007 dort herrschenden Hamas. Jahrelang schon agieren die beiden Männer im Verborgenen, alle bisherigen Versuche Israels, sie zu töten, sind gescheitert.

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Sinwar war wegen der Tötung zweier israelischer Soldaten 23 Jahre in Israel im Gefängnis gesessen, ehe er 2011 im Zuge eines Gefangenenaustausches für den französisch-israelischen Soldaten Gilad Schalit freikam. 2017 wurde Sinwar zum politischen Führer der Hamas im Gazastreifen gewählt. Von Deif, dem Anführer der Al-Kassam-Brigaden, kursiert nur ein einziges, mehr als 20 Jahre altes Porträt.

Hamas nennt ihre Ziele
Mittlerweile nannte die Hamas auch das Ziel ihres Terrorangriffs: Nach Ansicht von Osama Hamdan, Mitglied im Politbüro der Hamas, wollte man die Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien torpedieren. Das sagte er der dpa in Beirut. Expertinnen und Experten hatten eine solche Absicht schon im Vorfeld vermutet. Saudi-Arabiens Investitionsminister Chalid al-Falih schien dem zu widersprechen: Das Thema Normalisierung der Beziehungen mit Israel sei „nicht vom Tisch“, sagte er.

APA/AFP/Jack Guez
Beklemmende Bilder vom überfallenen Musikfestival

Andere Hamas-Vertreter sagten der „New York Times“, man habe den Plan verfolgt, einen dauerhaften Kriegszustand mit Israel auszulösen. Der Terrororganisation gehe es darum, die palästinensische Sache mittels Gewalt wiederzubeleben, schrieb die Zeitung unter Berufung auf Gespräche mit mehreren ranghohen Hamas-Mitgliedern. Es sei notwendig gewesen, „die gesamte Gleichung zu ändern und nicht nur einen Zusammenstoß zu haben“, sagte dem „New York Times“-Bericht zufolge Chalil al-Haja von der Hamas-Führung in Doha. „Es ist uns gelungen, die Palästinenserfrage wieder auf den Tisch zu bringen, und jetzt kommt niemand mehr in der Region zur Ruhe.“

Die meisten Expertinnen und Experten vermuten auch, dass die absehbaren militärischen Gegenschläge Israels mit zivilen Opfern einkalkuliert waren: Zum Plan der Terrororganisation gehört damit wohl auch, die Anhänger und Sympathisantinnen im Gazastreifen, im Westjordanland und anderswo zu mobilisieren – auf dem Rücken der Menschen im Gazastreifen.

12.11.2023, red, ORF.at/Agenturen

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7. Oktober: Hamas-Terrorangriff großteils rekonstruiert
 

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#17
Die Hamas-Tunnelsysteme:
"GAZA METRO"
Die Tunnel unter dem Gazastreifen – und warum Israel sie fürchtet
Die israelische Armee hat über der Erde klar die Überhand im Kampf gegen die Hamas. Doch sollte sich die Schlacht in die "Gaza Metro" verlegen – so nennt Israel die Hamas-Tunnel –, könnte sich das ändern

Noch hat der unterirdische Kampf nicht begonnen.
via REUTERS/ISRAELI DEFENSE FORC
Seit den frühen Mittwochmorgenstunden schaut im Krieg Israels gegen die Hamas alles auf das Al-Shifa-Krankenhaus im Gazastreifen, in das die israelischen Streitkräfte eingedrungen sind. Eigentlich sind Angriffe auf zivile und medizinische Einrichtungen laut dem humanitären Völkerrecht strengstens verboten. Doch Israel erachtet das für hinfällig, da die Hamas sich dort verschanze.

Mit diesem Argument hat die israelische Armee in den vergangenen Wochen unzählige Angriffe auf zivile Ziele begründet und ganze Straßenzüge in Schutt und Asche gelegt – oft mit einem Verweis auf mutmaßlich darunterliegende Hamas-Tunnel. So einen soll es auch unter dem Al-Shifa-Spital geben.

Die Tunnel der Hamas zu zerstören ist eines der erklärten Hauptziele der israelischen Offensive im Gazastreifen nach den Hamas-Terrorangriffen vom 7. Oktober. Sie dienen der Terrororganisation unter anderem als Kommandozentrale, Verstecke, uneinsehbare Schleichwege, Waffendepots, gut ausgestattete Bunker und Startrampe für Angriffe.

Doch das Vorhaben Israels ist äußerst schwierig. Niemand kennt das Tunnelsystem so gut wie sein Erbauer selbst: die Hamas. Sie zu zerstören birgt Gefahren für die Zivilbevölkerung und die eigenen Soldaten. Israel will den Kampf in den tief unter der Erde liegenden Tunnel um jeden Preis vermeiden. Denn dieser wäre wohl, darin sind sich Experten einig, äußerst grässlich.

  • Was ist über die Tunnel bekannt?
Wie viele Tunnel unter dem Gazastreifen liegen, ist unklar. Sowohl Israel als auch der Hamas werden Aussagen über ein rund 500 Kilometer langes Tunnelsystem zugeschrieben. Zum Vergleich: Die Streckenlänge des Wiener U-Bahn-Netzes beträgt 83 Kilometer.

Fachleute weisen aber immer wieder darauf hin, dass diese Zahlen nur Spekulationen sind, etwa die israelische Forscherin Daphné Richemond-Barak, die ein Buch zu den Tunnelsystemen der Hamas veröffentlich hat. Niemand außer der Hamas selbst wisse wohl genau, wie viele Tunnel und wo genau es sie gibt. Und das, obwohl die israelischen Geheimdienste als extrem gut informiert gelten. Bislang will die israelische Armee 300 Tunnelschächte zerstört haben, es dürfte jedoch tausende geben.

  • Wie sind die Tunnel entstanden?
Es ist wohl kaum verwunderlich, dass die israelische Armee angesichts dieser Dimensionen manchmal von der "Gaza Metro" spricht. Laut israelischen Angaben verlaufen die Tunnel insbesondere unter den zwei größten Städten im extrem dichtbesiedelten Gazastreifen – Gaza-Stadt und Khan Younis – und damit zwangsläufig häufig unter zivilem Gebiet.

Auch entlang der ägyptischen Grenze zum Gazastreifen wurden immer wieder Schmuggeltunnel dokumentiert. Berichten zufolge wird dort bereits seit den Achtzigerjahren, als Israel und Ägypten die Grenzen abgeriegelt haben, geschmuggelt. Die Tunnel wurden immer wieder von Ägypten, Israel (das den Gazastreifen bis 2005 besetzte), aber auch Palästinensern, die den Schmuggel kontrollieren wollten, zerstört. Doch all das beendete den Schmuggel nicht, und neue Tunnel wurden gebaut. Auf diesem Weg gelangte alles Mögliche – von Nutztieren über Waschmaschinen bis Waffen – jahrelang in den Gazastreifen. Wie viele dort heute noch existieren, ist nicht bekannt.

Die Zahl der Tunnel unter dem Gazastreifen selbst und an der Grenze zu Israel stieg drastisch, als die Hamas 2007 die Kontrolle über den Gazastreifen übernahm. Israel reagierte, führte – mit Unterstützung Ägyptens – schrittweise strengere wirtschaftliche Blockaden ein und verbot die Einfuhr von allem, was den Menschen in Gaza ein Leben über dem Existenzminimum erlaubt hätte.

Für die Hamas bedeutet ihr unterirdisches Tunnelsystem längst nicht nur mehr Waren- und Waffenschmuggel, sondern auch verdeckte Kommunikationswege, Verstecke und Hinterhalte. Es ermöglichte etwa grenzüberschreitende Angriffe auf Israel – wie beispielsweise bei der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit im Jahr 2006. In einer "Vice"-Dokumentation aus dem Jahr 2021 bezeichnete einer der Hamas-Kämpfer die Tunnel unter zivilem Gebiet und den Kampf unter der Erde als "einzige Möglichkeit", sich zur Wehr zu setzen: Luftraum und Meer würden von Israel kontrolliert. Auch bei dem Terrorangriff am 7. Oktober spielten sie eine große Rolle: Spezielle Hamas-Trupps warteten an den Tunneleingänge nahe des Grenzzauns, um die entführten Geiseln in den riesigen Tunnelkomplex unter dem Gazastreifen zu bringen.


Israelische Soldaten inspizieren einen Tunneleingang im Gazastreifen.
via REUTERS/ISRAEL DEFENSE FORCE
  • Wie sehen die Tunnel aus?
Nur wenige Menschen haben die Tunnel der Hamas von innen gesehen. Darunter etwa die britische Journalistin Isobel Yeung, die für die erwähnte "Vice"-Dokumentation einen Tunnel in der Begleitung von Hamas-Kämpfern besichtigt hat.

Eine weitere seltene Zeugin ist die Israelin Yochewet Lifshitz. Die 85-Jährige wurde am 7. Oktober von der Hamas entführt und 17 Tage später wieder freigelassen. Sie beschrieb ein "Spinnennetz" aus feuchten Tunneln, durch die sie geführt wurde, bevor man sie in einen Raum mit rund einem Dutzend Geiseln brachte.

Nach Angaben der "New York Times" sind die Tunnel im Schnitt maximal zwei Meter hoch und einen Meter breit. Berichten zufolge sind manche jedoch sogar so breit, dass auch ein Fahrzeug darin Platz hat. In andere seien wiederum Schienen verlegt, sodass auch Waffen und schweres Gerät transportiert werden können. Bis zu 40 Meter sollen diese Tunnelsysteme laut Experten in die Tiefe gehen.

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Die Eingänge sehen oft unauffällig aus: einfache Türen oder Bodenluken, mal auf freiem Gelände, mal in Kellern von Wohnhäusern oder in den Kinderzimmern von Hamas-Anführern. Waren die Tunnel vor Jahren noch einfache mit einem Handbohrer gefertigte Konstruktionen mit hoher Einsturzgefahr, gelten sie heute als massive Konstruktionen, die mehrere Milliarden an US-Dollar gekostet haben sollen.

Fachleuten zufolge lagert die Hamas in den Tunneln zudem massenweise Sauerstoff, Luftfilter, Nahrung, Wasser und Sprit für ein eigenes Stromnetz. Quasi alles, was benötigt wird, um unter der Erde zu überleben und dort auch lange zu bleiben.

  • Warum sind die Tunnel für die israelische Armee so eine Herausforderung?
Obwohl das israelische Militär der Hamas militärisch weit überlegen ist, ist der Kampf gegen einen Feind mit einem eigenen Tunnelnetz ein risikoreiches Unterfangen. Bei der letzten großen Offensive der israelischen Armee im Gazastreifen vor neun Jahren stellten die Tunnel die Israelis laut einer Analyse der US-Denkfabrik Rand Corporation vor überraschende Probleme. Sie wollten sie innerhalb weniger Tage zerstören – insbesondere jene, die nach Israel führten. Die Angriffe aus der Luft brachten dabei nur wenige Erfolge, eine Bodenoffensive folgte. Letztlich dauerte es Wochen, um nur einen Bruchteil – insgesamt 32 von damals geschätzten 1.300 Tunneln mit einer Gesamtlänge von 100 Kilometern – zu zerstören.

Laut der Rand Corporation hatten die Soldaten dabei Schwierigkeiten, die Tunnel zu finden, in sie einzudringen und sie zu zerstören. Danach rief die israelische Armee die Einheit Samur (übersetzt "Wiesel") ins Leben, um sich auf den Kampf in den Tunnel zu spezialisieren. Diese Einheit soll laut Berichten auch erhebliche finanzielle Unterstützung aus den USA bekommen haben.

John W. Spencer von der US-Militärakademie Modern War Institute sagte jüngst in einem Podcast, dass der Kampf unter der Erde eher mit dem Kampf unter Wasser zu vergleichen sei als mit Boden- oder Häuserkämpfen. Es brauche allein für das Atmen, Sehen, Navigieren und Kommunizieren eine Spezialausrüstung. Und auch für das Töten.

Eine große Gefahr seien auch die ferngesteuerten Sprengfallen, mit denen die Hamas insbesondere Tunneleingänge versehen haben soll. Fachleuten zufolge könnte die Hamas diese zünden, sobald israelische Soldaten in einen Tunnel eindringen. Auch das Identifizieren von Tunneleingängen bleibt eine riesige Herausforderung. Immerhin gibt es unzählige davon, die meisten gut versteckt in Garagen, Fabriken, normalen Häusern und aktuell unter vielen Trümmern. Viele der Tunnel sollen mehrere Eingänge haben: Es reicht also nicht, nur einen zu zerstören.

  • Wie geht die israelische Armee vor?
Zunächst konzentrieren sich die Streitkräfte darauf, möglichst viele Tunneleingänge zu finden. Die Bodentruppen durchforsten nach israelischen Angaben die eroberten Gebiete im Gazastreifen. Fachleuten zufolge kommen zudem diverse Technologien für einen Einsatz infrage: So könnten etwa Satellitenradare kleinste Niveauunterschiede auf der Erdoberfläche feststellen, doch wegen des intensiven Bombardements Israels im Gazastreifen ist die Methode derzeit wohl kaum effektiv. Des Weiteren gibt es Technologien, die mithilfe von Radar- oder Schallwellenmessgräten Hohlräume unter der Erde finden können. Doch auch diese können nicht in jeder Lage angewandt werden.

Auch Überwachungsmaßnahmen können laut Expertenmeinungen gute Indizien liefern: etwa wenn zahlreiche Personen ein Haus betreten und mehr als 24 Stunden nicht herauskommen. Israel setzt zur Ermittlung solcher Bewegungsmuster offenbar Überwachungsdrohnen und auch Gesichtserkennungssoftware ein. Außerdem haben israelische Geheimdienste auch durch Spionage versucht, Tunnelbauer und Karten zu finden.

  • Wie können Tunnel zerstört werden?
Wenn ein Tunneleingang entdeckt wird, werden diese zunächst auf Sprengfallen untersucht. Danach wird entweder von Fachleuten vor Ort eine Sprengung vorgenommen, oder es wird die Luftwaffe für den Abwurf sogenannter "bunkerbrechender Bomben" angefordert. Doch das klappt offenbar nur bei flacheren Tunnel gut. Außerdem verursachen diese massive Zerstörungen und möglicherweise Tote im Umkreis. Ein konkretes Beispiel ist Israels Angriff auf das Jabalia-Flüchtlingslager, bei dem jüngst dutzende Menschen starben.

Ebenfalls zum Einsatz sollen sogenannte Sponge Bombs (übersetzt Schwammbomben) kommen, heißt es in diversen Medienberichten, die sich auf anonyme israelische Militärs berufen. Diese enthalten demnach Chemikalien, die einen sich rasch ausbreitenden und erhärtenden Schaum produzieren, der Eingänge versiegeln kann. Davor sollen auch Rauchgranaten zum Einsatz kommen, denn wenn der Rauch anderweitig aufsteigt, könnten weitere Eingänge ausgemacht werden.

Die Soldaten stützen sich außerdem zunehmend auf Bodenroboter, die in den Tunnel geschickt werden, um nach Sprengfallen und Hinterhalten Ausschau zu halten. "Einen Tunnel zu betreten, nachdem ein Roboter ihn durchkämmt hat, macht die Situation weit weniger stressig", wird ein israelischer Elitesoldat in einer aktuelle Studie zitiert, auf die sich der "Economist" beruft. Soldaten in die Tunnel zu schicken ist eine äußerst gefährliche Angelegenheit. Die Spezialeinheiten trainieren dafür in nachgebauten Hamas-Tunneln, um sich an die schwierigen, für viele klaustrophobischen Bedingungen zu gewöhnen. Nur wenige Soldaten halten das laut Experten wegen der hohen mentalen Belastung aus.

  • Was sagen Fachleute?
Viele Experten meinen, dass es nicht reichen wird, Tunneleingänge zu sprengen und versiegeln. Wenn Israel sein Ziel, alle Tunnel zu zerstören, erreichen will, muss es in die Tunnel eindringen. Doch wann und ob Israel für einen unterirdischen Großeinsatz überhaupt bereit sein wird, ist unklar.

Nach Angaben von Ahron Bregman, einem Nahostkonflikt-Experten am Londoner King's College, wird Israel, solange es geht, auf Luftangriffe und lokale Sprengungen setzten. Derzeit würden die Bodentruppen im Zusammenspiel mit den Luftkräften genug Fortschritte machen. Wie Bregman der "New York Times" sagt, hält er Kämpfe in den Tunneln vorerst für unwahrscheinlich. Denn dabei würden die israelischen Streitkräfte ihre Oberhand verlieren: "In dem Moment, wo es in die Tunnel geht, steht es einer gegen einen."

Bregman glaubt so und so nicht daran, dass Israel alle Tunnel zerstören kann. Das Tunnelsystem sei dafür einfach zu groß. Auch die vergangenen Jahre haben gezeigt: Selbst wenn Israel kilometerweise Tunnel zerstört, die Hamas bohrt einfach weiter.

Die israelische Tunnelexpertin Daphné Richemond-Barak warnt ebenfalls davor, Soldaten in die Tunnel zu schicken. "Ich war bereits in dem Tunnelsystem – und wenn man da runtergeht, verliert man schnell jeden Orientierungs- und Zeitsinn", warnt sie. Soldaten dort hineinzuschicken, das sollte nur der letzte Ausweg sein, etwa um Geiseln zu retten.
(Flora Mory, 15.11.2023)
Die Tunnel unter dem Gazastreifen – und warum Israel sie fürchtet
 
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MILITÄRTECHNIK
Nagmachon: Israels außergewöhnlicher Panzer im "Mad Max"-Design
Der APC ist wahrscheinlich der ungewöhnlichste seiner Art auf dem Planeten, was zu den abenteuerlichsten Theorien seinen wahren Zweck betreffend führt

Der Nagmachon ist wahrscheinlich der ungewöhnlichste Panzer seiner Art. Im Bild: die Trainingsfahrt einer Panzerkommandantin.
Zev Marmorstein, IDF

Zugegeben: Der Nagmachon sieht aus, als hätte man versucht, einen Belagerungsturm aus dem Sandalenepos "Gladiator" auf die Wanne eines alten britischen Panzers zu schrauben. Kommen dann auch noch die Schutzgitter um den seltsamen Turmaufbau hinzu, könnte man meinen, die Designer der Israelische Armee (IDF, Israeli Defence Force) hätten zu viel "Mad Max" geschaut und sich von den dortigen Fahrzeugdesigns inspirieren lassen.

Das alles sind natürlich nur Vermutungen, denn die wahre Geschichte hinter dem Nagmachon und wie er eingesetzt wird, ist auch ohne filmische Vorbilder schon spektakulär genug. Wegen seines weltweit einzigartigen Aussehens ist der Nagmachon bis heute Stoff zahlreicher Legenden.

Aus der Not geboren
Dabei beginnt die Geschichte des ungewöhnlichsten Panzerfahrzeuges der Welt aus der Not heraus. Im Sechstagekrieg im Jahr 1966 wurde den Israelis recht schnell klar, dass ihre Panzerflotte bald schon an die Grenzen stoßen würde. Man hatte nach dem Zweiten Weltkrieg M4-Sherman-Panzer aus den USA zum Schrottpreis gekauft und mit 75-Millimeter-Kanonen des damals neuentwickelten AMX-13 ausgestattet. Eine Notlösung.

Die Israelis setzten damals aber ebenfalls den britischen Centurion ein. Dieser galt als der einer der besten Nachkriegspanzer des Westens. Und: Israels Feinde Jordanien und Ägypten setzten den Centurion ihrerseits selbst ein. Zahlreiche Beutepanzer gingen so an die IDF.

Doch die Ära des Centurion währte nicht ewig, in den 70ern begann die Entwicklung des Kampfpanzers Merkava. Manche Centurion-Panzer wurden aufwendig kampfwertgesteigert, mit zusätzlicher Panzerung versehen, neue Feuerleitanlagen wurden eingebaut. Dennoch begann die Ausmusterung der britischen Panzer Ende der 80er-Jahre. Aber könnte man die alten Panzer nicht noch irgendwie verwerten?

Wohin mit den alten Panzern?
Im Libanonkrieg 1982 hatten die Israelis hohe Verluste unter ihren Truppentransportern durch Beschuss von Panzerfäusten und Lenkwaffen zu verzeichnen. Der damals eingesetzte M113 aus US-Fertigung zeigte bereits Alterserscheinungen, und dessen dünne Aluminiumpanzerung war für moderne Waffen zu leicht zu durchdringen. Ein neuer, idealerweise schwer gepanzerter Truppentransporter (Armored Personnel Carrier, APC) musste her.

Da erinnerte man sich bei der IDF an den Centurion: Was wenn man den Turm entfernt und in dem so frei gewordenen Platz Sitze für Soldaten montiert? Fertig war der Nagmasho't. Doch das Konzept erwies sich als problematisch: Die Soldaten mussten über die Oberseite des Panzers absitzen, weil eine Hecktür fehlte. Außerdem war das Fahrzeug oben offen, was sich im urbanen Gelände ebenfalls als nachteilig herausstellte. Die Nagmasho't waren einfach zu leicht zu bekämpfen.

Zwar wurden spätere Modelle mit gepanzerten Schilden zum Schutz der Besatzung ausgestattet, aber eine optimale Lösung war auch das nicht.

Noch ein Umbau
Also nahm man den Nagmasho't und modelte ihn noch einmal um. In die Wannen des Centurion wurden Hecktüren eingebaut, damit die Soldatinnen und Soldaten im Schutz des gepanzerten Fahrzeuges absitzen konnten. Doch da war immer noch das riesige Loch in der Oberseite der Wanne, wo sich einst der Turm des ehemaligen Kampfpanzers befunden hatte.

Die Idee der Israelis: Man baute einen noch gewaltigeren Turm ein. Dieser war rundum geschlossen und bot der Crew endlich Schutz vor Feindfeuer. Zusätzlich wurde noch die Panzerung verstärkt, vor allem am Wannenboden, um gegen Minen und Sprengfallen besser geschützt zu sein.

Die prominente Hundehütte
Die Israelis nennen den ungewöhnlichen Aufbau "Hundehütte". Viele dürfte er aber an einen mittelalterlichen Belagerungsturm erinnern, weshalb auch zahlreiche abenteuerliche Erzählungen über den Einsatzzweck des Nagmachon existieren.

Eine sehr häufig in einschlägigen Foren anzutreffende Behauptung lautet: Der Nagmachon wird dazu verwendet, um im Gazastreifen durch das Erdgeschoß von Häusern zu brechen. Israelische Soldaten würden daraufhin über den Turm hinausklettern und so direkt den ersten Stock angreifen, um so den Feind zu "überraschen". Diese Theorie klingt zwar spektakulär, lässt sich aber durch nichts belegen. Ganz davon abgesehen, dass sich die Besatzung sowie die Passagiere bei einem solchen Einsatz immensen Risiken aussetzen.

Ein Turm voller Überraschungen
Nicht, dass der wahre Einsatzzweck des Nagmachon nicht schon gefährlich genug wäre. Das Fahrzeug wird unter anderem für Aufgaben der Pioniertruppen eingesetzt. Der Nagmachon kann mit verschiedenen Frontvorrichtungen ausgestattet werden, wie etwa mit dem schweren Minenrollensystem Nochri, Minenpflügen oder Planierschilden. Das gibt dem Nagmachon auch eine begrenzte Fähigkeit, Wege durch Minenfelder und mit Sprengfallen versehene Gebiete zu durchbrechen, um so das Vorrücken anderer Fahrzeuge zu ermöglichen.

In der Rolle eines Infanterietransporters wird der Nagmachon zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt. Diese Fahrzeuge wurden auch zur Begleitung von gepanzerten Planierraupen des Typs Caterpillar D9 und für Patrouillenfahrten in feindlichen Gebieten und im urbanen Gelände eingesetzt.

Außerdem wurde Käfigpanzerung über dem charakteristischen Turmaufbau angebracht. Sie soll Schutz gegen Panzerfäuste und Lenkwaffen bieten. Darüber hinaus wurden die Fahrzeuge mit Shalgon-Störsendern ausgestattet. Diese sollen Funksignale blockieren, die zur Zündung von Sprengfallen am Straßenrand verwendet werden. Zur Selbstverteidigung gibt es zwei Werfer für Rauchgranaten. Der schwere gepanzerte Mannschaftstransporter hat eine Besatzung von zwei Personen und kann zehn Soldaten befördern.

Schwerer Panzer, leichte Bewaffnung
Die Bewaffnung selbst wirkt ungewöhnlich leicht, beschränkt sie sich doch auf zwei 7,62-mm-Allzweck-Maschinengewehre vom Typ FN MAG. Diese werden von dem Turm des Fahrzeugs aus ferngesteuert. Die Schützen können sie also bedienen, ohne dem feindlichen Feuer ausgesetzt zu sein. Der Nagmachon hat den gleichen Motor wie sein Vorgänger und der alte Centurion. Er wird von einem Continental-Diesel AVDS-1790-2A mit einer Leistung von 750 PS angetrieben, was nach heutigen Standards unterdimensioniert ist.

Der größte Nachteil des Nagmachon ist daher seine mangelnde Mobilität aufgrund seines hohen Gewichts und seines relativ schwachen Motors. Aber ähnlich wie beim Merkava lag das Hauptaugenmerk der Konstrukteure auf dem Schutz und nicht auf der Mobilität. Deshalb ist der Nagmachon für einen gepanzerten Truppentransporter extrem schwer: Mit 52 Tonnen wiegt das Fahrzeug mehr als viermal so viel wie ein M113.

Ein "M" steht für alles
Doch was bedeutet eigentlich der Name Nagmachon? Dazu ein kleiner Exkurs in die oft eigenartige Welt der militärische Nomenklatur. Die Bezeichnungen für alle möglichen Geräte von der Trinkflasche bis zum Flugzeug sind meist zweigeteilt: Sie folgen einer oft ziemlich willkürlichen Nummernfolge mit einem vorangestellten Buchstaben, im Westen oft M für Modell. Das freut zwar den Logistikoffizier, aber der Rest der Truppe tut sich üblicherweise schwer, sich den Unterschied zwischen einem M98 (einem Feldspaten) und einem M89 (einem Präzisionsgewehr) zu merken. Die Nummer gibt übrigens oft das Jahr der Einführung an, aber eben nicht immer, was zusätzlich zur Verwirrung beiträgt.

Deshalb bekommen vor allem Fahrzeuge eine mehr oder weniger eingängige Zusatzbezeichnung wie "Puma", "Leopard" oder "Sherman". Das hilft auch der Truppe bei der Unterscheidung der Fahrzeuge. Wenn eine Selbstfahrlafette aussieht wie die Kanzel eines Pfarrers, dann bietet sich eben der Name "Priest" an. Das kann sich jeder grüne Rekrut merken.

Hebräische Namensverwirrung
Die Israelis sind da keine Ausnahme: Der Kampfpanzer heißt Merkava, also Streitwagen. Der daraus abgeleitete Schützenpanzer heißt Namer, also Leopard. Das war nicht immer so, denn für die älteren Modelle von Schützenpanzern fand man einen viel originelleren Weg der Benennung: Man verwendete Akronyme, was vor allem für Außenstehende recht schnell zur Verwirrung führt.

So existiert das Wort "Nagmachon" im Hebräischen eigentlich nicht, ist es doch ein Akronym aus "Noseh Guysot Meshoryan", was wiederum "gepanzerter Truppentransporter" bedeutet. Wer bis hierhin aufgepasst hat, wird schnell merken, dass die letzte Silbe "on" da nicht dazupasst. Diese steht nämlich für "Gashon", was so viel wie "Bauch" bedeutet. Das wiederum soll darauf hinweisen, dass der Nagmachon an der Unterseite (also dem Bauch des Fahrzeuges) stärker gepanzert wurde. Zusätzlich gibt es noch die Endungen "-sh'ot" für Peitsche und "-pop" für ein Aufklärungsfahrzeug.
(Peter Zellinger, 30.11.2023)
Nagmachon: Israels außergewöhnlicher Panzer im "Mad Max"-Design
 

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