Ein ukrainischer Soldat mit einer Vector-Drohne.
REUTERS/Inna Varenytsia
Es ist mitten in der Nacht, irgendwo in der Gegend um Tschassiw Jar in der Region Donezk. Ein kleiner Trupp der 23. mechanisierten Brigade der ukrainischen Streitkräfte wartet auf den Sonnenuntergang – und auf seinen Einsatz.
Die Einheit "Klare Augen" (Ясні Очі) ist Teil der Aufklärungskompanie der Brigade. Ihr Auftrag in dieser Nacht lautet, die russischen Positionen mit einer Drohne zu erkunden, Informationen zu sammeln und unversehrt wieder abzurücken. Mit ihnen reist diesmal ein Gast: Der Journalist David Kirichenko ist als sogenannter Embedded Journalist mit dabei. Sein Bericht zeigt nicht nur die Gefahren, denen sich die Einheit aussetzt, sondern auch, wie viel technologischer Aufwand betrieben wird, um eine einzige Drohne in die Luft zu bringen.
Wettlauf gegen russische Drohnen
Die Truppe, gezeigt werden vier Soldaten, wartet auf den Einbruch der Dunkelheit. Sich tagsüber in dem Transportfahrzeug zu bewegen wäre viel zu gefährlich, denn in Frontnähe wäre der Kleintransporter ein leichtes Ziel für russische First-Person-View-Drohnen. Die Ukrainer sind in diesem Feld im technologischen Vorteil: Laut den Soldaten tun sich die russischen Streitkräfte schwer, an Drohnen mit passabler Nachtsichtfähigkeit zu kommen. Deshalb bewegt man sich besser in der Nacht.
Trotzdem ist zur Sicherheit ein Störgerät mit an Bord. Diese Jammer sollen die Funkfrequenzen der Drohnen stören, sind aber ein Glücksspiel: Mit ihnen kann nur ein gewisses Spektrum gestört werden, funkt die Drohne auf einer anderen Frequenz, findet sie ihr Ziel ungehindert. Das ist auch der Grund, warum die oft belächelten russischen Schildkrötenpanzer meist mit ganzen Reihen dieser Geräte ausgestattet sind. Mit zweifelhaftem Erfolg, zumal die Ukraine
Drohnen entwickelt hat, die trotz Jammings ihr Ziel finden können.
An der Position angekommen, gilt es, zuerst in der Dunkelheit die Technik auszuladen und möglichst schnell in einen getarnten Unterstand zu bringen. Zuvor müssen die Soldaten aber den Himmel auf russische Drohnen überprüfen, in dieser Phase wäre die Einheit ein leichtes Ziel.
Starlink an der Front
Wichtiges Teil des Equipments ist eine mit grünen aufgesprühten Farbflecken und einem Tarnnetz einigermaßen vor russischen Drohnen verborgene Starlink-Antenne. Das Satelliteninternet hat sich in der Ukraine schon in der Vergangenheit mehrfach als enorm wertvoll erwiesen. 42.000 Empfangsgeräte sollen bei der ukrainischen Armee, aber auch bei Hilfsorganisationen und in Krankenhäusern im Einsatz sein.
Aber auch auf russischer Seite wird die Technologie von Space X eingesetzt. Wie die Russen an die Empfangsgeräte kommen, ist nicht ganz klar. Einige dürften sie von den ukrainischen Streitkräften erbeutet haben, wieder andere dürften wohl über arabische Länder nach Russland geschmuggelt worden sein. Firmenchef Elon Musk bestreitet jedenfalls vehement, je Starlink-Antennen nach Russland geliefert zu haben. Vor kurzem sei es dem Pentagon gelungen, den Dienst für russische Streitkräfte zu blockieren, wie der
Kyiv Independent schreibt.
In der Nähe von Tschassiw Jar montieren Soldaten mit Stirnlampen eilig die Antennen für die Drohne und starten den Generator, denn all die Technik muss irgendwie mit Strom versorgt werden. Danach warten sie in ihrem Unterstand auf die Bestätigung, dass die Luft im wörtlichen Sinn rein ist. Erst wenn sichergestellt ist, dass keine russischen Drohnen über dem Gebiet kreisen, können die "Klaren Augen" ihre eigene Drohne starten. Würden die russischen Streitkräfte die Einheit beim Start ihrer Drohne beobachten, käme sie sofort unter Artilleriefeuer.
Einsatz der Vector-Drohne
Kommt grünes Licht, wird die Drohne ausgepackt und zusammengebaut. Es handelt sich um eine Vector aus deutscher Fertigung. Dieses Modell gilt als eine der leistungsfähigsten Aufklärungsdrohnen. Optisch erinnert das Gerät an ein Modellflugzeug, durch drei Rotoren an den Tragflächen und am Heck ist die Vector aber auch ein Senkrechtstarter und kann so auch in beengtem Gelände abheben.
Die Drohne kann in wenigen Minuten ohne Werkzeug zusammengebaut werden. Kernstück ist eine KI-gestützte Kamera, die selbstständig Zielobjekte erkennen und verfolgen kann. Die Technologie dahinter stammt von dem bekannten Tech-Unternehmen Nvidia. Ein Jetson-Orin-Modul steuert die autonomen Systeme. Diese kommen vor allem in der Robotik zum Einsatz. Durch die KI-Systeme ist die Drohne laut Hersteller Quantum Systems aus Bayern auch gegen GPS-Störungen immun. Sollte die Navigation ausfallen, findet die Drohne autonom ihren Weg.
Vector™ | A battle proven UAV
Quantum-Systems GmbH
Bis zu drei Stunden lang kann der Vogel in der Luft bleiben, bevor der Akku getauscht werden muss. Die Reichweite des Videofeeds beträgt unter Idealbedingungen 35 Kilometer. Diese herrschen im Ukrainekrieg natürlich nicht, aber dennoch schwören die Soldaten auf die Vector. Es sei das beste Marketing für dieses Produkt, dass sie an der Front eingesetzt werden kann, zitiert Kirichenko die Soldaten in seinem Thread auf X, vormals Twitter.
Die heutige Mission lautet: russische Stellungen in der blutig umkämpften und nun von Russland eroberten Stadt Bachmut auskundschaften. Ein Soldat namens Oleksandr startet die Drohne. Er sagt, er ist stolz auf die Aufklärungsarbeit, die sie leisten. Oleksandr ist eigentlich Apotheker.
Gamer als Drohnenpiloten gefragt
Gesteuert wird die Drohne mit einem handelsüblichen Xbox-Controller, der per Kabel mit einem Gaming-Laptop verbunden ist. Damit sie konzentriert und wach bleiben, setzen die Mitglieder der Aufklärungseinheit auf Energydrinks. Bis zu vier große Dosen kippt jeder Soldat in dieser Nacht in sich hinein.
Gesteuert wird die Drohne mit einem Xbox-Controller.
Kirichenko
Gamer sind mittlerweile bei den Armeen auf beiden Seiten gefragte Leute, ihnen wird nachgesagt, die Steuerung der Fluggeräte durch jahrelanges Training am Controller schneller zu beherrschen. Eine Studie der Universität Liverpool aus dem Jahr 2017 bescheinigt Fans von Videospielen sogar Vorteile gegenüber zivilen Piloten. Die Studie legt nahe, dass erfahrene Gamer in stressigen Situationen beinahe ähnlich abgebrüht reagieren wie Piloten von Kampfjets. Auch Panzerbesatzungen sollen schon
von Wissen aus Videospielen profitiert haben.
Reuters zitiert einen 25-jährigen Drohnenpiloten so: "Jedes Mal, wenn ich die Brille aufsetze und den Joystick in die Hand nehme, denke ich an meine Mutter, die mir gesagt hat, dass diese Videospiele nicht gut für mich sind", sagt er mit einem Lächeln. "Nun, wenn das nicht nützlich ist, was ist es dann?"
Schrecksekunde
Zurück nach Tschassiw Jar: Kirichenko beschreibt, wie plötzlich russische Drohnen über dem Gebiet kreisen. Eine nahe Artillerieeinheit der ukrainischen Armee hat deren Aufmerksamkeit erregt. Dann taucht plötzlich auch ein ukrainischer Panzer neben der Stellung der Drohneneinheit auf und beginnt, auf russische Positionen zu feuern. Die Besatzung weiß anscheinend nicht, dass in unmittelbarer Nähe eine Gruppe der Aufklärung eine Drohne steuert.
"Einmal saßen wir wie erstarrt da und sahen einander an, während eine russische Drohne direkt über uns schwirrte. Aber wir waren gut abgedeckt, sodass unsere Wärmesignatur nicht zu sehen war, solange wir uns nicht bewegten. Aber ich fragte mich, ob wir irgendwann trotzdem in die Luft fliegen würden", schreibt Kirichenko.
Über Bachmut sammeln die Soldaten Informationen über russische Truppenbewegungen. Die Drohne erkennt dabei Truppentransporter der russischen Armee. Außerdem setzen die Angreifer eine große Zahl an Motorrädern ein, um schnell die Position wechseln zu können, auch diese bleiben den Augen der Drohne nicht verborgen.
Viermal wird Oleksandr in dieser Nacht den Unterstand verlassen, die Drohne aufsammeln und mit neuen Akkus bestücken, bevor sie wieder abhebt. Kurz vor Morgengrauen noch einmal Nervenkitzel: Sobald der Transporter ankommt, muss die ganze Technik wieder eingeladen werden, und die Truppe ist dabei noch einmal besonders verwundbar. Doch diesmal geht alles gut aus.
(Peter Zellinger, 23.8.2024)