Wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Zeit in St.Pölten

josef

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#1
HISTORISCHES PROJEKT
St. Pölten: Die Nazi-Zeit wird aufgearbeitet
NÖN-St.Pölten, 13. JULI 2023
Daniel Lohninger

Ein Bild aus den finsteren Tagen der Stadt St. Pölten: Erster Aufmarsch der NSDAP beim Kreistag am Herrenplatz im Juni 1939.
FOTO: Stadtarchiv St. Pölten

78 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs will die Stadt die dunkelsten Jahre ihrer Geschichte aufarbeiten. Und zwar im Rahmen eines mehrjährigen Forschungsprojektes, das 2024 in einer Ausstellung im Stadtmuseum sowie einer ersten Publikation münden soll.

Anders als beispielsweise Krems war St. Pölten nie ein Nazi-Hort. Die starke sozialdemokratische und teilweise kommunistische Verankerung der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, aber auch der politische Katholizismus waren ein starker Widerpart. Andererseits waren die Nationalsozialisten ab 1919 immer durchgehend im Gemeinderat vertreten – gestützt unter anderem auf sudetendeutsche Zuwanderer. Und Adolf Hitler war schon am 6. Oktober 1920 ein viel akklamierter Redner in den Stadtsälen.

In diesem Spannungsfeld bewegt sich das Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, das in zwei Großprojekten die Zeit des Nationalsozialismus in St. Pölten aufarbeitet. Und aufzuarbeiten gibt es viel. Denn das Stadtarchiv ist ein wahrer Fundus für Zeithistoriker – die Registrierungsakten sind ebenso noch vorhanden wie die Protokolle der Nachkriegs-Prozesse, die Polizeiakten aus dem Ständestaat und über 700 Originalakten aus Zwangsarbeiterlagern.

„Es gab schon mehrere Projekte, die sich mit Aspekten der NS-Zeit beschäftigt haben. Es ist aber das erste Mal, dass wir uns mit der gesamten Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen“, erklärt Stadtmuseum-Leiter Thomas Pulle. Er wird die Erkenntnisse des Forscher-Teams ab Juni 2024 im dann erweiterten Stadtmuseum vorstellen. Zu sehen sein wird hier auch der sogenannte Jury-Plan – ein Plan des Gauleiters Hugo Jury, der St. Pölten ganz im Sinne der Nazi-Ideologie umbauen wollte. „Er wollte zum Beispiel in der Prandtauerstraße die Barockhäuser schleifen lassen, um hier Platz für ein neues Rathaus zu schaffen“, führt Pulle aus.

Eine Ausstellung und vier Bücher
Parallel zur Eröffnung der Ausstellung wird der erste Band „Herrschaft und Repression“ veröffentlicht, drei weitere Bände werden in den Folgejahren erscheinen.
Für die Historikerinnen und Historiker in St. Pölten besonders interessant ist das Nebeneinander von Stadt und Partei – etwa in der Stadtverwaltung. „Es gab hier teilweise eine unglaubliche Rivalität“, weiß Pulle. So war der Gemeinderat weiterhin aktiv – die 37 Ratsherren waren zwar alle von der NSDAP nominiert, taten aber nicht immer, was die Verwaltung sich gewünscht hätte. Auch zwischen Militär und der Kreisleitung gab es Spannungen. Es sei ein „polykratisches Durcheinander“ gewesen, beschreibt es Niklas Perzi, einer der Herausgeber der Buch-Reihe.

Besonders an St. Pölten ist auch, dass infolge der proletarischen Tradition der Stadt die Sturmabteilung (SA) eine größere Rolle spielte als in bürgerlichen Städten. Ein wesentliches Rekrutierungsfeld war die Sozialdemokratie – etwa jeder vierte SA-Mann war zuvor Sozialdemokrat gewesen.


Das Modell eines neuen St. Pöltner Stadtteils mit Stadion in der NS-Zeit im Umfeld der Jahn-Turnhalle.
FOTO: Stadtarchiv St. Pölten

Von Beginn an gab es auch einen starken Widerstand
Von Anfang an stand den Nationalsozialisten in St. Pölten allerdings ein starker Widerstand entgegen – gegen Ende des Nazi-Staates dann einer, der getragen durch alle gesellschaftlichen Gruppierungen war. So erinnert heute noch ein Denkmal im Hammerpark an eines der letzten Nazi-Verbrechen in Österreich: 13 Mitglieder der Widerstandsgruppe Kirchl-Trauttmansdorff wurden hier am 13. April 1945 exekutiert – nur Stunden bevor die Rote Armee in St. Pölten einmarschierte. Die damals über 400 Mitglieder starke Gruppierung bestand aus Arbeitern, Bauern, Beamten, Polizisten und auch Josef Trauttmansdorff, Besitzer des Schlosses Pottenbrunn. „Diese Form des Widerstandes, der alle Bevölkerungsschichten vereinigt, ist schon etwas Besonderes“, betont Pulle.

Die Fragen, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler klären wollen, sind unter anderem, wie es dem Nationalsozialismus gelang, in die „rote Hochburg“ einzudringen. „Das bürgerlich-nationale Spektrum – die Turnvereine, die Rechtsanwälte, die Honoratioren – ging Anfang der 30er-Jahre im nationalsozialistischen Lager auf“, erklärt Perzi. Auf der anderen Seite seien die antikapitalistische, antiklerikale und anti-habsburgische Linie der NSDAP im proletarischen Lager auf Zustimmung gestoßen.


NSDAP-Kundgebung in den Bahnhauptwerkstätten 1939.
FOTO: Stadtarchiv St. Pölten

Begünstigt worden sei diese Entwicklung durch deutsche Arbeitgeber und Manager, unter anderem in der Voith und der Glanzstoff. „Es gab hier auch eine starke Tätigkeit in der Zeit der Illegalität“, weiß Perzi. Die schon im Ständestaat verfolgten Kommunisten mit vielen ehemaligen Sozialdemokraten seien die erbittertsten Gegner der NSDAP gewesen. Der Hort dieses Widerstandes war die Eisenbahn. Ab Herbst 1940 gab es hier sogar eine illegale KP-Landesleitung, die 1941 von der Gestapo zerschlagen wurde – 123 Menschen wurden verurteilt, 28 hingerichtet. Eine Widerstandszelle gab es auch in der Voith – sie wurde aber schon 1939 ausgehoben, elf Menschen wurden hingerichtet. Hingerichtet wurde auch der frühere SP-Vizebürgermeister Ferdinand Strasser.

Neben der Arbeiterschaft sei in St. Pölten aber auch der politische Katholizismus ein hartnäckiger Feind der NSDAP gewesen, betont Perzi: Das belege nicht nur die legendäre „Silvesterpredigt“ von Bischof Michael Memelauer gegen die „Euthanasie“, auch Teile der Heimwehr und der christlichsozialen Politik waren im Widerstand tätig. Pater Paulus Wörndl wurde 1944 hingerichtet, der ehemalige Vizebürgermeister Viktor Müllner im KZ Dachau interniert. Und dann gab es da noch die Presse, mit der „St. Pöltner Zeitung“ als Flaggschiff. Sie wurde 1938 gleichgeschaltet – und damit zum Verlautbarungsorgan der NSDAP, dessen Rolle sich das Forschungsteam ebenfalls anschauen wird.
St. Pölten: Die Nazi-Zeit wird aufgearbeitet
 
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