GEWALT IN DER STEINZEIT
Erster Krieg in Europa fand wohl 1.000 Jahre früher statt als gedacht
Vor gut 5.000 Jahren forderten Kämpfe im heutigen Spanien hunderte Tote. Es war nicht das erste Massaker, dauerte aber womöglich Monate an. Kann man von Krieg sprechen?
Erster Krieg in Europa fand wohl 1.000 Jahre früher statt als gedacht
Erster Krieg in Europa fand wohl 1.000 Jahre früher statt als gedacht
Vor gut 5.000 Jahren forderten Kämpfe im heutigen Spanien hunderte Tote. Es war nicht das erste Massaker, dauerte aber womöglich Monate an. Kann man von Krieg sprechen?
So stellte sich ein Künstler 1890 eine steinzeitliche Schlacht vor. Überraschend viele Pfeilwunden gab es auch am neu bewerteten Fundort in Nordspanien.
benoitb / Getty Images
Gewalt ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Und sie ist sicherlich älter als die ältesten Nachweise, die Archäologinnen und Archäologen dafür liefern können. Ein bekanntes Beispiel ist die Fundstätte von Jebel Sahaba im heutigen Sudan, die mindestens 13.400 Jahre alt ist und wo die meisten der etwa 60 Personen durch Waffengewalt tödlich verletzt wurden. Neuen Analysen zufolge handelte es sich nicht um ein einzelnes Massaker, sondern wiederkehrende Episoden mit Kämpfen unter Menschen.
Wann wird ein Kampf zum Krieg? "Wenn man fünf verschiedene Personen fragt, wie sie Krieg definieren, geben sie fünf unterschiedliche Antworten", sagt die Archäologin Linda Fibiger von der Universität Edinburgh in Schottland im STANDARD-Gespräch. Sie hat sich auf Konfliktforschung spezialisiert. "Für manche muss es dabei um Gesellschaften auf dem Niveau von Staaten gehen oder eine bestimmte Anzahl an Personen." Das Ausmaß und die Dauer des Konflikts spielen zumeist eine Rolle.
Mehr als 300 Tote
Das ist oft nicht leicht mit heutigen Kriegen zu vergleichen, vor allem wenn man bedenkt, wie wenige Menschen damals auf der Erde lebten. Während der Jungsteinzeit, die vor etwa 11.000 Jahren begann, dürften das nur wenige Millionen Menschen gewesen sein, während der Bronzezeit vor etwa 4.000 Jahren immerhin schon gut 70 Millionen. Dieser Epoche wurden bisher auch die ersten bekannten Kriege auf dem europäischen Kontinent zugeschrieben.
Eine neue Studie könnte dies ändern. Im Fachmagazin "Scientific Reports" berichtet eine spanisch-britische Forschungsgruppe über ihre Neuanalyse einer Fundstätte in Nordspanien, unweit der Stadt Logroño. Unter einem Felsvorsprung liegt ein Massengrab mit mindestens 338 Toten, die vor 5.000 bis 5.400 Jahren gestorben waren, also noch in der Jungsteinzeit.
Entdeckt wurde es in den 1980er-Jahren, als Baustellenarbeiter mit einer Planierraupe auf menschliche Überreste in der Erde gestoßen waren. An der Fundstätte von San Juan ante Portam Latinam sind 90 Skelette komplett erhalten, tausende Knochen sind schwierig einzelnen Individuen zuordenbar. Neben den Knochen finden sich auch 52 Pfeilspitzen, von denen 36 beschädigt sind, also vermutlich ihr Ziel beschädigt haben.
Mehr als ein Überfall
Bisherige Forschungsarbeiten interpretierten diese Bestattung als ein riesiges Massaker. Außerdem vermuteten Fachleute, dass es während der Jungsteinzeit nur zu kurzen Raubüberfällen unter kleinen Gruppen von vielleicht 20 bis 30 Personen gekommen war.
An der Fundstätte von "SJAPL" (San Juan ante Portam Latinam) in Spanien kamen Fachleute durch neue Analysen zu einem erstaunlichen Ergebnis.
Fernandez-Crespo et al. 2023, Scientific Reports
Anders sehen jedoch die Hinweise aus, die nun das Team um Teresa Fernández-Crespo von den Universitäten Oxford und und Valladolid beschreibt. Sie analysierten die Skelettreste gezielt auf verheilte und nicht verheilte Wunden hin. Von den mehr als 300, womöglich knapp 400 Individuen hatten 23 Prozent Skelettverletzungen, zehn Prozent davon waren nicht verheilt. Diese Werte sind ungewöhnlich hoch für die übliche Verletzungsstatistik der Epoche. Das sind viel mehr Traumata als ursprünglich dokumentiert, vor allem wurden sie an den Schädeln der Toten entdeckt.
Damit wird außerdem nur ein Minimum an Verletzten beschrieben, die Opfer physischer Gewalt wurden: Immerhin sind nicht alle (potenziell tödlichen) Verletzungen nach 5.000 Jahren am Skelett sichtbar. "Viele tödliche Pfeilschussverletzungen hinterlassen am Skelett keine Spuren", betont auch der deutsche Archäologe Svend Hansen, Leiter der Eurasien-Abteilung am Deutschen Archäologischen Institut. Er war nicht an der aktuellen Studie beteiligt und kann sie daher als Außenstehender kommentieren.
Monatelanger Konflikt?
Zahlenmäßig handle es sich europaweit um "das Massengrab mit den meisten gewaltsam Getöteten", sagt Hansen. In einer Presseaussendung wird folglich hervorgehoben: "Viele der Individuen waren möglicherweise Opfer der frühesten Kriegszeit in Europa, die mehr als 1.000 Jahre vor dem bis dahin frühesten bekannten Konflikt größeren Ausmaßes in der Region stattfand."
Der hohe Anteil an verheilten Verletzungen spricht der Forschungsgruppe zufolge dafür, dass sich der Konflikt über mehrere Monate hinzog. Dies dürften manche als kriegerische Auseinandersetzung interpretieren. Möglich wurde dies aber erst durch neue Funde und immer bessere Analysen, sagt Fibiger, die ebenfalls nicht an der spanischen Studie beteiligt war. Zu Jahresbeginn veröffentlichte sie im Fachjournal "PNAS" eine Studie, in der sie mit ihrem Team 180 Fundstätten aus der Jungsteinzeit im Hinblick auf Gewaltkonflikte auswertete. Bei gut jedem zehnten Toten ließen sich Spuren von Gewalt nachweisen.
"Ich habe früher alles, was Gewalt im Neolithikum anging, als 'interpersonale Gewalt' bezeichnet, um den Begriff Krieg zu vermeiden", erzählt die Archäologin. Angesichts der neueren Erkenntnisse habe sich dies aber geändert: "Wir haben nun etliche Fundstätten, an denen wir Gewaltereignisse in großem Ausmaß sehen." Bei derartig hohen Individuenzahlen wie bei der Fundstätte in Spanien könne man jedenfalls von Krieg sprechen.
Massaker der Steinzeit
Auch an anderen Fundstätten wurden immense Opferzahlen dokumentiert. Dazu gehört etwa das Massaker von Asparn/Schletz in Niederösterreich, das sich vor 7.000 Jahren abspielte, also vor den Kämpfen in Nordspanien. Damals starben etwa 200 Personen, allerdings dürfte dies nach heutiger Einschätzung in einem viel kürzeren Zeitraum passiert sein.
Ähnliches gilt für die 34 Menschen, die ebenfalls vor etwa 7.000 Jahren ermordet wurden, im Bereich der heutigen deutschen Ortschaft Talheim bei Heilbronn. An einigen solcher Ausgrabungen und Studien war der Archäologe Christian Meyer vom Osteoarchaeological Research Centre beteiligt. Bei diesen Fundorten handle es sich meist um "Massengräber", bei denen die Gewaltopfer gleichzeitig bestattet wurden – manchmal unachtsam, manchmal sorgfältig.
Die Grafik zeigt die chaotische Anordnung der wichtigsten zusammenhängenden Skelettteile an der spanischen Fundstätte.
Fernandez-Crespo et al. 2023, Scientific Reports
Hier unterscheide sich die Fundstätte von San Juan ante Portam Latinam, die als Kollektivgrab über eine längere Zeit als Bestattungsort genutzt wurde, hebt Meyer hervor. Wie lange, das ließe sich nicht genau ermitteln. "Somit können viele kleinere Episoden von Gewalt in diesem Kollektivgrab repräsentiert sein", sagt der Archäologe. Sein Kollege Svend Hansen gibt zu bedenken: "Ob es sich um ein Gewaltereignis handelt oder mehrere, lässt sich anhand der 14C-Datierungen gegenwärtig nicht bestimmen. Es müssten mehr Skelette entsprechend datiert werden."
Mehr verletzte Männer
Das Studienteam hebt außerdem hervor, dass knapp 75 Prozent der sichtbaren, nicht verheilten sowie 70 Prozent der verheilten Verletzungen an männlichen Jugendlichen und Erwachsenen entdeckt wurden. Das gilt zumindest für die Auswertung jener etwa 100 Skelette, die die Fachleute anhand ihres Aussehens als Mann oder als Frau kategorisierten. Der Anteil der Verletzungen war wesentlich höher als bei den getöteten Frauen. Ein solcher Unterschied sei bei vielen anderen europäischen Massengräbern nicht vorgekommen.
Demnach dürften insbesondere Männer im Zuge von Kämpfen und Überfällen getötet worden sein, schlussfolgert die Forschungsgruppe um Fernández‑Crespo: "Das Kriegerdasein ist in vielen Gesellschaften hauptsächlich auf diese Bevölkerungsgruppe beschränkt." Zwar gab es im Laufe der (Ur-)Geschichte immer wieder Kämpferinnen, wie Funde zeigen. Doch nehmen zahlreiche Fachleute an, dass es im Zuge der neolithischen Revolution oder Transition, also dem Sesshaftwerden und dem Beginn des Ackerbaus, zu einer stärkeren Arbeitsteilung kam. Dadurch seien in vielen Gesellschaften eher weniger Frauen im Umgang mit Waffen geschult worden.
Die Ergebnisse dieser Studie scheinen darauf hinzuweisen, "dass viele der Toten aktive Teilnehmer an Gewalthandlungen waren, sei es als Verteidiger gegen externe Angreifer oder auch selbst als Aggressoren", sagt Meyer. Bemerkenswert sei außerdem, dass es relativ viele Pfeilschussverletzungen gibt – anders als in anderen Gebieten. Dies könne auf regionale Unterschiede in der Form der Gewalt und der Wahl der Waffen hindeuten.
Macht- und Territorialkämpfe – bis heute
Weshalb diese Menschen einander während der Jungsteinzeit in so großem Ausmaß bekämpften, darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. "Zunächst gibt es immer mehr Menschen auf dem gleichen Raum, was immer problematisch ist", sagt Archäologin Fibiger. Durch die Sesshaftwerdung und den Beginn der Landwirtschaft wurde etwa die Ernährungslage verlässlicher, Frauen bekamen mehr Kinder. Gesellschaften seien nicht nur immer größer, sondern auch immer komplexer geworden, es kam sowohl zu einer stärkeren Arbeitsteilung als auch zu einem Überschuss an Nahrungsmitteln und anderen Produkten.
"All das muss ausgehandelt und verwaltet werden", betont die Expertin. "Das birgt natürlich Konfliktpotenzial in Bezug auf Territorium, Besitz, Macht, und in einigen Gebieten Europas könnte auch das Klima eine Rolle gespielt haben." Hinweise darauf lieferten erst in der jüngeren Vergangenheit Forschungsarbeiten mit besseren Datensätzen: Sie verknüpften Skelettbefunde mit Hinweisen zum wirtschaftlichen Kontext oder Daten über Umwelt und Klima. Populationsmodelle schätzen die Größe einer Gruppe ab. Analysen alter DNA dürften auch bei der spanischen Fundstätte neue Informationen liefern: Sie könnten nicht nur detailliertere Auskunft über die Geschlechterverteilung geben, sondern auch Familienverhältnisse unter den Toten klären.
Im Fall der spanischen Fundstätte nimmt das Studienteam an, dass Spannungen zwischen Gruppen unterschiedlicher Kulturen für die fortwährenden Auseinandersetzungen sorgten. Dies ist allerdings nur Spekulation. Freilich können die Gründe für Konflikte je nach Gruppe, Situation und Region unterschiedlich sein, wendet Fibiger ein. Das Neolithikum in Europa sei nicht nur landschaftlich ziemlich divers gewesen. Einige der Motive bestehen aber sicherlich bis heute: "Man muss nur auf den aktuellen Konflikt in Gaza schauen. Es geht um Territorien, Macht und Politik."
(Julia Sica, 3.11.2023)
Studie
Scientific Reports: "Large-scale violence in Late Neolithic Western Europe based on expanded skeletal evidence from San Juan ante Portam Latinam"
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benoitb / Getty Images
Gewalt ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Und sie ist sicherlich älter als die ältesten Nachweise, die Archäologinnen und Archäologen dafür liefern können. Ein bekanntes Beispiel ist die Fundstätte von Jebel Sahaba im heutigen Sudan, die mindestens 13.400 Jahre alt ist und wo die meisten der etwa 60 Personen durch Waffengewalt tödlich verletzt wurden. Neuen Analysen zufolge handelte es sich nicht um ein einzelnes Massaker, sondern wiederkehrende Episoden mit Kämpfen unter Menschen.
Wann wird ein Kampf zum Krieg? "Wenn man fünf verschiedene Personen fragt, wie sie Krieg definieren, geben sie fünf unterschiedliche Antworten", sagt die Archäologin Linda Fibiger von der Universität Edinburgh in Schottland im STANDARD-Gespräch. Sie hat sich auf Konfliktforschung spezialisiert. "Für manche muss es dabei um Gesellschaften auf dem Niveau von Staaten gehen oder eine bestimmte Anzahl an Personen." Das Ausmaß und die Dauer des Konflikts spielen zumeist eine Rolle.
Mehr als 300 Tote
Das ist oft nicht leicht mit heutigen Kriegen zu vergleichen, vor allem wenn man bedenkt, wie wenige Menschen damals auf der Erde lebten. Während der Jungsteinzeit, die vor etwa 11.000 Jahren begann, dürften das nur wenige Millionen Menschen gewesen sein, während der Bronzezeit vor etwa 4.000 Jahren immerhin schon gut 70 Millionen. Dieser Epoche wurden bisher auch die ersten bekannten Kriege auf dem europäischen Kontinent zugeschrieben.
Eine neue Studie könnte dies ändern. Im Fachmagazin "Scientific Reports" berichtet eine spanisch-britische Forschungsgruppe über ihre Neuanalyse einer Fundstätte in Nordspanien, unweit der Stadt Logroño. Unter einem Felsvorsprung liegt ein Massengrab mit mindestens 338 Toten, die vor 5.000 bis 5.400 Jahren gestorben waren, also noch in der Jungsteinzeit.
Entdeckt wurde es in den 1980er-Jahren, als Baustellenarbeiter mit einer Planierraupe auf menschliche Überreste in der Erde gestoßen waren. An der Fundstätte von San Juan ante Portam Latinam sind 90 Skelette komplett erhalten, tausende Knochen sind schwierig einzelnen Individuen zuordenbar. Neben den Knochen finden sich auch 52 Pfeilspitzen, von denen 36 beschädigt sind, also vermutlich ihr Ziel beschädigt haben.
Mehr als ein Überfall
Bisherige Forschungsarbeiten interpretierten diese Bestattung als ein riesiges Massaker. Außerdem vermuteten Fachleute, dass es während der Jungsteinzeit nur zu kurzen Raubüberfällen unter kleinen Gruppen von vielleicht 20 bis 30 Personen gekommen war.
An der Fundstätte von "SJAPL" (San Juan ante Portam Latinam) in Spanien kamen Fachleute durch neue Analysen zu einem erstaunlichen Ergebnis.
Fernandez-Crespo et al. 2023, Scientific Reports
Anders sehen jedoch die Hinweise aus, die nun das Team um Teresa Fernández-Crespo von den Universitäten Oxford und und Valladolid beschreibt. Sie analysierten die Skelettreste gezielt auf verheilte und nicht verheilte Wunden hin. Von den mehr als 300, womöglich knapp 400 Individuen hatten 23 Prozent Skelettverletzungen, zehn Prozent davon waren nicht verheilt. Diese Werte sind ungewöhnlich hoch für die übliche Verletzungsstatistik der Epoche. Das sind viel mehr Traumata als ursprünglich dokumentiert, vor allem wurden sie an den Schädeln der Toten entdeckt.
Damit wird außerdem nur ein Minimum an Verletzten beschrieben, die Opfer physischer Gewalt wurden: Immerhin sind nicht alle (potenziell tödlichen) Verletzungen nach 5.000 Jahren am Skelett sichtbar. "Viele tödliche Pfeilschussverletzungen hinterlassen am Skelett keine Spuren", betont auch der deutsche Archäologe Svend Hansen, Leiter der Eurasien-Abteilung am Deutschen Archäologischen Institut. Er war nicht an der aktuellen Studie beteiligt und kann sie daher als Außenstehender kommentieren.
Monatelanger Konflikt?
Zahlenmäßig handle es sich europaweit um "das Massengrab mit den meisten gewaltsam Getöteten", sagt Hansen. In einer Presseaussendung wird folglich hervorgehoben: "Viele der Individuen waren möglicherweise Opfer der frühesten Kriegszeit in Europa, die mehr als 1.000 Jahre vor dem bis dahin frühesten bekannten Konflikt größeren Ausmaßes in der Region stattfand."
Der hohe Anteil an verheilten Verletzungen spricht der Forschungsgruppe zufolge dafür, dass sich der Konflikt über mehrere Monate hinzog. Dies dürften manche als kriegerische Auseinandersetzung interpretieren. Möglich wurde dies aber erst durch neue Funde und immer bessere Analysen, sagt Fibiger, die ebenfalls nicht an der spanischen Studie beteiligt war. Zu Jahresbeginn veröffentlichte sie im Fachjournal "PNAS" eine Studie, in der sie mit ihrem Team 180 Fundstätten aus der Jungsteinzeit im Hinblick auf Gewaltkonflikte auswertete. Bei gut jedem zehnten Toten ließen sich Spuren von Gewalt nachweisen.
"Ich habe früher alles, was Gewalt im Neolithikum anging, als 'interpersonale Gewalt' bezeichnet, um den Begriff Krieg zu vermeiden", erzählt die Archäologin. Angesichts der neueren Erkenntnisse habe sich dies aber geändert: "Wir haben nun etliche Fundstätten, an denen wir Gewaltereignisse in großem Ausmaß sehen." Bei derartig hohen Individuenzahlen wie bei der Fundstätte in Spanien könne man jedenfalls von Krieg sprechen.
Massaker der Steinzeit
Auch an anderen Fundstätten wurden immense Opferzahlen dokumentiert. Dazu gehört etwa das Massaker von Asparn/Schletz in Niederösterreich, das sich vor 7.000 Jahren abspielte, also vor den Kämpfen in Nordspanien. Damals starben etwa 200 Personen, allerdings dürfte dies nach heutiger Einschätzung in einem viel kürzeren Zeitraum passiert sein.
Ähnliches gilt für die 34 Menschen, die ebenfalls vor etwa 7.000 Jahren ermordet wurden, im Bereich der heutigen deutschen Ortschaft Talheim bei Heilbronn. An einigen solcher Ausgrabungen und Studien war der Archäologe Christian Meyer vom Osteoarchaeological Research Centre beteiligt. Bei diesen Fundorten handle es sich meist um "Massengräber", bei denen die Gewaltopfer gleichzeitig bestattet wurden – manchmal unachtsam, manchmal sorgfältig.
Die Grafik zeigt die chaotische Anordnung der wichtigsten zusammenhängenden Skelettteile an der spanischen Fundstätte.
Fernandez-Crespo et al. 2023, Scientific Reports
Hier unterscheide sich die Fundstätte von San Juan ante Portam Latinam, die als Kollektivgrab über eine längere Zeit als Bestattungsort genutzt wurde, hebt Meyer hervor. Wie lange, das ließe sich nicht genau ermitteln. "Somit können viele kleinere Episoden von Gewalt in diesem Kollektivgrab repräsentiert sein", sagt der Archäologe. Sein Kollege Svend Hansen gibt zu bedenken: "Ob es sich um ein Gewaltereignis handelt oder mehrere, lässt sich anhand der 14C-Datierungen gegenwärtig nicht bestimmen. Es müssten mehr Skelette entsprechend datiert werden."
Mehr verletzte Männer
Das Studienteam hebt außerdem hervor, dass knapp 75 Prozent der sichtbaren, nicht verheilten sowie 70 Prozent der verheilten Verletzungen an männlichen Jugendlichen und Erwachsenen entdeckt wurden. Das gilt zumindest für die Auswertung jener etwa 100 Skelette, die die Fachleute anhand ihres Aussehens als Mann oder als Frau kategorisierten. Der Anteil der Verletzungen war wesentlich höher als bei den getöteten Frauen. Ein solcher Unterschied sei bei vielen anderen europäischen Massengräbern nicht vorgekommen.
Demnach dürften insbesondere Männer im Zuge von Kämpfen und Überfällen getötet worden sein, schlussfolgert die Forschungsgruppe um Fernández‑Crespo: "Das Kriegerdasein ist in vielen Gesellschaften hauptsächlich auf diese Bevölkerungsgruppe beschränkt." Zwar gab es im Laufe der (Ur-)Geschichte immer wieder Kämpferinnen, wie Funde zeigen. Doch nehmen zahlreiche Fachleute an, dass es im Zuge der neolithischen Revolution oder Transition, also dem Sesshaftwerden und dem Beginn des Ackerbaus, zu einer stärkeren Arbeitsteilung kam. Dadurch seien in vielen Gesellschaften eher weniger Frauen im Umgang mit Waffen geschult worden.
Die Ergebnisse dieser Studie scheinen darauf hinzuweisen, "dass viele der Toten aktive Teilnehmer an Gewalthandlungen waren, sei es als Verteidiger gegen externe Angreifer oder auch selbst als Aggressoren", sagt Meyer. Bemerkenswert sei außerdem, dass es relativ viele Pfeilschussverletzungen gibt – anders als in anderen Gebieten. Dies könne auf regionale Unterschiede in der Form der Gewalt und der Wahl der Waffen hindeuten.
Macht- und Territorialkämpfe – bis heute
Weshalb diese Menschen einander während der Jungsteinzeit in so großem Ausmaß bekämpften, darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. "Zunächst gibt es immer mehr Menschen auf dem gleichen Raum, was immer problematisch ist", sagt Archäologin Fibiger. Durch die Sesshaftwerdung und den Beginn der Landwirtschaft wurde etwa die Ernährungslage verlässlicher, Frauen bekamen mehr Kinder. Gesellschaften seien nicht nur immer größer, sondern auch immer komplexer geworden, es kam sowohl zu einer stärkeren Arbeitsteilung als auch zu einem Überschuss an Nahrungsmitteln und anderen Produkten.
"All das muss ausgehandelt und verwaltet werden", betont die Expertin. "Das birgt natürlich Konfliktpotenzial in Bezug auf Territorium, Besitz, Macht, und in einigen Gebieten Europas könnte auch das Klima eine Rolle gespielt haben." Hinweise darauf lieferten erst in der jüngeren Vergangenheit Forschungsarbeiten mit besseren Datensätzen: Sie verknüpften Skelettbefunde mit Hinweisen zum wirtschaftlichen Kontext oder Daten über Umwelt und Klima. Populationsmodelle schätzen die Größe einer Gruppe ab. Analysen alter DNA dürften auch bei der spanischen Fundstätte neue Informationen liefern: Sie könnten nicht nur detailliertere Auskunft über die Geschlechterverteilung geben, sondern auch Familienverhältnisse unter den Toten klären.
Im Fall der spanischen Fundstätte nimmt das Studienteam an, dass Spannungen zwischen Gruppen unterschiedlicher Kulturen für die fortwährenden Auseinandersetzungen sorgten. Dies ist allerdings nur Spekulation. Freilich können die Gründe für Konflikte je nach Gruppe, Situation und Region unterschiedlich sein, wendet Fibiger ein. Das Neolithikum in Europa sei nicht nur landschaftlich ziemlich divers gewesen. Einige der Motive bestehen aber sicherlich bis heute: "Man muss nur auf den aktuellen Konflikt in Gaza schauen. Es geht um Territorien, Macht und Politik."
(Julia Sica, 3.11.2023)
Studie
Scientific Reports: "Large-scale violence in Late Neolithic Western Europe based on expanded skeletal evidence from San Juan ante Portam Latinam"
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