Treibhausgase in der Erdatmosphäre führen dazu, dass zwar Sonnenstrahlung auf der Erdoberfläche eintritt, die Rückstrahlung von der Erde aber gehemmt wird. Das Resultat: Es wird immer wärmer.
Foto: Nasa
Acht Minuten, mehr braucht es nicht, um von der Sonne zur Erde zu gelangen – zwar nicht für unsereins, aber für Lichtteilchen. Es ist eine absurd kurze Zeitspanne, wenn man bedenkt, dass die Teilchen für Jahrtausende unterschiedliche Stationen des Fusionsreaktors Sonne durchlaufen haben, bis sie ausgespuckt werden – und sich ihren Weg durch das Vakuum bahnen. Bahnen ist ein schlechter Begriff, wenn es um Photonen geht, wie Lichtteilchen in der Wissenschaftssprache genannt werden. Es gibt aber eine gute Entschuldigung, diesen Begriff trotzdem zu verwenden: Es existiert schlicht kein passenderes Wort, um zu beschreiben, wie sich Photonen verhalten.
Licht können sowohl Wellen- wie auch Teilcheneigenschaften zugeschrieben werden, es ist somit zugleich lokalisiert im Raum und ausgedehnt. Eine Bahnkurve der Photonen ist in diesem Sinn nicht klar definiert – was das Gerede vom "Weg bahnen" äußerst unpassend erscheinen lässt. Nach wenigen Minuten trifft das Photon jedenfalls in der Erdatmosphäre ein, und das nächste Kapitel seiner spektakulären Reise beginnt.
Eine Frage der Strahlung
Das größte globale Problem unserer Zeit wird oft als ein Problem des Temperaturanstiegs betrachtet. Das stimmt auch, doch was dahintersteht, ist genau genommen eine Frage der Strahlenbilanz – die für uns und unseren Planeten aufgrund unserer eigenen Aktivitäten zunehmend ungünstig ausfällt.
Die Photonen, die von der Sonne kommend auf der Erde eintreffen, sind hochenergetisch. Ein großer Teil von ihnen schafft es gar nicht ungehindert bis zur Erdoberfläche, sondern kollidiert mit Teilchen der Atmosphäre. Die Streuung des Sonnenlichts an Luftmolekülen ist auch der Grund dafür, warum der Mittagshimmel blau ist und die Morgen- und Abendsonne den Horizont in ein sattes Rot hüllt. Jene Lichtteilchen, die es bis zum Erdboden schaffen, geben ihre Energie teilweise an den Boden ab. Auch der Erdboden gibt seinerseits Strahlung ab – allerdings handelt es sich dabei um die viel weniger energiereiche Infrarotstrahlung. Die Infrarotstrahlung wird ebenfalls in der Erdatmosphäre gestreut und erhöht so den Energiegehalt der Lufthülle.
Die Pasterze ist der größte Gletscher Österreichs und wird jährlich von bis zu einer Million Touristen besucht. Doch die Gletscherzunge ist stark im Rückzug begriffen.
Foto: Getty/iStock/amriphoto
Fataler Kreislauf
Dabei zeigt sich: Je mehr Treibhausgase wie CO2 in der Atmosphäre sind, desto größer ist die Rückstreuung der von der Erde ausgesandten Infrarotstrahlung. "Es geht der Erde wie einem Menschen, dem man immer mehr wärmeisolierende Kleidungsschichten aufzwingt, bis er an seiner eigenen Hitze zu leiden beginnt", fasste der deutsche Klimaforscher Hans-Joachim Schellnhuber den fatalen Kreislauf des Treibhauseffekts einmal zusammen.
Treibhausgase wie Kohlenstoffdioxid oder Methan haben die perfide Eigenschaft, dass sie die hochenergetische Sonnenstrahlung weitgehend ungehindert passieren lassen, jedoch der weniger energiereichen Erdstrahlung den Weg ins Weltall versperren. Die Treibhausgase hindern den Planeten also, die von der Sonne eintreffende lebensspendende Energie in jenem Ausmaß abzugeben, wie es seit Jahrtausenden der Fall war. Warum das so ist, ergibt sich aus den Gesetzen der Quantenmechanik: Ein Molekül absorbiert Strahlung genau dann, wenn die jeweiligen Schwingungen zusammenpassen. Dummerweise weiß ein CO2-Molekül mit Sonnenstrahlung gar nichts anzufangen, wohingegen es mit der Erdstrahlung bestens harmoniert. Dasselbe gilt für Methan und alle anderen treibhauswirksamen Gase.
Schmelzende Zeitzeugen
Wie weithin bekannt gelangen durch menschliche Aktivitäten völlig unnatürliche Mengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre – etwa durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern oder die
Freisetzung von Methan aus Mülldeponien. Die Strahlungsbilanz aus eintreffender Sonnenstrahlung und austretender Erdstrahlung, die sich über Jahrtausende eingestellt hat, gerät ins Wanken.
Nirgendwo ist der vom Menschen verursachte Klimawandel schon bisher so stark zu spüren wie bei den großen Eismassen des Planeten – an den Polen und auf den Gletschern im Hochgebirge. In Österreich kann nichts und niemand ein deutlicheres Zeugnis über die klimatischen Veränderungen ablegen wie die heimischen Gletscher.
Als Andrea Fischer in den frühen Nullerjahren ihre wissenschaftliche Karriere als Gletscherforscherin begann, war der Rückzug der Eismassen bereits im Gange, doch die Dynamik und die Folgen waren den Forschenden damals noch viel weniger klar als heute.
Foto: Reuters/LISI NIESNER
Die große Schmelze
"2003 war das Jahr der ersten extremen Gletscherschmelze. Man hat damals diskutiert, ob das jetzt ein außergewöhnlicher Ausreißer ist oder ob es das neue Normal sein wird", sagt Fischer. "Inzwischen wissen wir, wie diese Diskussion ausgegangen ist." Die extreme Schmelze ist ungebrochen. 2003 war auch das Jahr, in dem Fischer an der Universität Innsbruck promovierte. Heute ist sie Vizedirektorin des Instituts für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Akademie der Wissenschaften in Innsbruck.
In der österreichischen Glaziologie sind Andrea Fischer und ihr Team vor allem für ihre Feldforschungen im Gebirge bekannt. Sie klettern in Eishöhlen, die durch die Schmelze freigelegt werden, und jagen Bohrköpfe in die Tiefe des Eises, um Eisbohrkerne für die Forschung zu ziehen.
Ein frischer Eisbohrkern aus dem Kaunertaler Gletscher zeigt Einschlüsse, die Einblicke in die Klimageschichte gewähren.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER
Vergangenheit rekonstruieren
Eisbohrkerne sind eine elegante Möglichkeit, um mit den eisigen Klimazeitzeugen ins Gespräch zu kommen. Die Wissenschaft stellt die Fragen, und die Eisbohrkerne liefern allerlei erstaunliche Antworten. Vielfach können sie aus erster Hand bestätigen, was zuvor bereits angenommen wurde. In anderen Fällen zwingen ihre Zeugnisse, Vorstellungen über die Vergangenheit deutlich zu revidieren. Und manchmal bleiben Rätsel einfach stehen.
"Gletscher bieten uns eine geniale Möglichkeit, etwas über die Vergangenheit zu lernen", sagt Wolfgang Schöner, Glaziologe an der Universität Graz. Durch Eisbohrkerne lässt sich etwa rekonstruieren, wie die Atmosphäre in der Vergangenheit zusammengesetzt war.
Dieses einmalige Archiv, das uns Einblicke in die Klimageschichte von Jahrtausenden liefern kann, droht in wenigen Jahrzehnten zu verschwinden. Auch in diesem Jahr geht erneut ein unwiederbringlicher Teil verloren. Der Winter in den österreichischen Hochalpen war ungewöhnlich niederschlagsarm. Durch den ausbleibenden Schnee ist eine massive Eisschmelze zu erwarten.
In einem Zelt haben sich Forschende im März 2022 einen temporären Arbeitsplatz auf dem Kaunertaler Gletscher errichtet. Dort werden Eisbohrkerne gezogen, anhand derer die Klimageschichte rekonstruiert werden kann – solange noch Eis da ist.
Foto: APA / Roland Schlager
Tragischer Rekordhalter
Die Forschenden versuchen daher, möglichst jeden Tag für Bohrungen zu nutzen, um Daten zu gewinnen, solange es noch möglich ist. "Das brennt uns wirklich unter den Nägeln", sagt Andrea Fischer. Ihre Feldforschungen führen sie beispielsweise zum Jamtalferner in der Silvretta. Bereits seit 1880 gibt es für diesen Gletscher Messungen zu seiner Massenbilanz.
Wie die Daten zeigen, ist er ein trauriger Rekordhalter: Er ist jener Gletscher Österreichs, der am schnellsten zurückgeht. Der Jamtalferner hat keine Firnreserven mehr, und es gibt keine Stellen mehr, an denen sich neues Eis bildet. "Dieser Gletscher ist wirklich am Sterben, es ist nur mehr eine Frage von wenigen Jahren, bis er zum Großteil völlig abgeschmolzen sein wird", sagt Fischer.
Will man also einen sterbenden Gletscher erforschen, ist der Jamtalferner das prädestinierte Studienobjekt. "Man kann dort jetzt sehr viele Strukturen beobachten, die sich unter einem zerfallenden Gletscher bilden." Dazu zählt etwa die Entstehung von Eishöhlen – "das ist ein für uns neuer Prozess, den wir hier beobachten können", sagt Fischer.
Was sich durch Eishöhlen über Gletscher lernen lässt, untersuchten die Glaziologen Andrea Fischer und Martin Stocker-Waldhuber unter anderem bei einem Lokalaugenschein am Jamtalferner im Oktober 2021.
Foto: Reuters/LISI NIESNER
Rasante Schmelze
So hat sich etwa gezeigt, dass der Gletscher über weite Strecken an der Zunge unterhöhlt ist. Er schmilzt gewissermaßen von oben und von unten zugleich, wodurch sich die Schmelze beschleunigt. "Es bilden sich große Einbruchstrichter, die einfach kollabieren. Diese Endphase des Gletschers geht also wesentlich schneller vor sich, als es mit den konventionellen Modellen erfassbar war", sagt Fischer.
Um die jeweilige Eisdicke zu bestimmen, benutzt die Glaziologin sogenannte Schmelzpegel. Es handelt sich dabei um Stäbe, die ins Eis gebohrt werden und deren Länge regelmäßig gemessen wird. Durch die Daten lässt sich ablesen, wie viel Eis verloren geht.
Die Gletscherforscherin Lea Hartl ist ebenfalls am Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Akademie der Wissenschaften tätig und eine Forschungspartnerin von Andrea Fischer. Für Hartl nimmt sich vor allem die Geschwindigkeit und das Ausmaß der aktuellen Schmelze bemerkenswert aus.
"Es steht nicht gut um die österreichischen Gletscher", sagt die Gletscherforscherin Lea Hartl.
Foto: ÖAW
Ernüchternder Ausblick
"Es steht nicht gut um die österreichischen Gletscher", sagt Hartl. "Seit dem letzten Gletscherhöchststand um 1850 haben wir mehr als die Hälfte an Fläche und Volumen der Gletscher verloren." Einen überwiegenden Teil davon allein in den jüngsten Jahrzehnten. "Es geht also rapide dahin", sagt Hartl.
Was die Zukunftsaussichten der österreichischen Gletscher angeht, sieht es entsprechend düster aus. "Abhängig vom Emissionsszenario ist für den Alpenraum zu erwarten, dass gegen Ende des Jahrhunderts von den derzeit 4000 Alpengletschern nur mehr etwa 700 bis 1000 vorhanden sein werden", sagt Fischer. "Die meisten davon werden aber nicht in den österreichischen Alpen sein, sondern in den Westalpen, die etwas höher gelegen sind."
Der Jamtalferner-Gletscher schmilzt von oben und von unten zugleich.
Foto: Reuters/LISI NIESNER
Entscheidene Klimapolitik
Tatsächlich macht es einen großen Unterschied, wie sich der Treibhausgasausstoß in den kommenden Jahren entwickelt. "Wenn gar keine Klimamaßnahmen gesetzt werden, was ein sehr pessimistisches Szenario wäre, dann würden die österreichischen Gletscher bis Ende des Jahrhunderts komplett verschwinden", sagt Fabien Maussion, der an der Universität Innsbruck federführend zu Gletscherentwicklungsmodellen arbeitet.
Dabei versuchen Maussion und sein Team, Modelle für die vergangene und künftige Entwicklung von Gletschern weltweit zu entwickeln, um etwa ableiten zu können, was Treibhausgasemissionen konkret für das Eis bedeuten. Dass diese Simulationen immer präziser sind, sei auch der Datenrevolution der vergangenen zwanzig Jahre zu verdanken. "Die Satellitendaten zu den Gletschern haben sich wirklich extrem verbessert", sagt Maussion. Der Blick aus dem All erlaubt also detaillierte Erkenntnisse über die Eismassen und gibt Aufschluss darüber, was zu tun wäre, um sie zu erhalten.
"Die neuesten Studien zeigen, dass in den optimistischen Szenarien, wenn es uns gelingt, die Treibhausgase stark zu reduzieren, am Ende des Jahrhunderts ungefähr noch 30 Prozent des heutigen Gletschervolumens in Österreich erhalten wären", sagt Maussion. "Die Gletscher können nur in den höchsten Lagen überleben, und wie viele tatsächlich überleben können, hängt von unserer Klimapolitik ab."
"Wenn gar keine Klimamaßnahmen gesetzt werden, was ein sehr pessimistisches Szenario wäre, dann würden die österreichischen Gletscher bis Ende des Jahrhunderts komplett verschwinden", sagt Gletscherforscher Fabien Maussion.
Foto: Universität Innsbruck
Künstliche Erhaltung
Bei diesen doch recht ernüchternden Aussichten stellt sich natürlich die Frage, ob es nicht auch technische Lösungen geben könnte, den einen oder anderen Gletscher zu retten. Wolfgang Schöner hat eine Machbarkeitsstudie für einen solchen Ansatz für den größten österreichischen Gletscher, die Pasterze, vorgelegt. "Ein Vorteil der Pasterze wäre, dass es dort Wasser vor Ort gibt, aus dem Schnee erzeugt werden könnte", sagt Schöner. Doch der künstliche Schnee müsste schließlich über den Gletscher verteilt werden – eine technische Lösung dafür liegt nicht auf der Hand. Insgesamt zeigte sich, dass so ein Ansatz "theoretisch möglich, aber unwahrscheinlich teuer ist und insgesamt nicht gut umsetzbar sein wird", sagt Schöner.
"Die Pasterze wird jährlich von bis zu einer Million Leuten besucht. Diese Einnahmen aus dem Tourismus könnte man nutzen, um das zu finanzieren. Aber selbst das rentiert sich nicht", sagt Schöner. Die Studie habe auch die Erkenntnis gebracht, "dass die Gletscher etwas sind, was in Österreich großteils verschwinden wird, selbst wenn wir starke Gegenmaßnahmen einführen würden".
Die Österreichischen Gletscher werden großteils verschwinden. Besonders stark ausgeprägt ist die Schmelze am Jamtalferner bei Galtür.
Foto: Reuters/LISI NIESNER
Eis und Atmosphäre
Generell beschäftigt sich Schöner in seiner Forschung mit den Zusammenhängen der Veränderungen in der Atmosphäre und den Auswirkungen auf die Gletscher – sowohl aus einer historischen Perspektive heraus wie auch in Modellen für die zukünftige Entwicklung. Dabei ist auch viel Arbeit am Berg erforderlich. Manche Energieflüsse, die auf die Gletscher einwirken, sind relativ einfach zu messen – etwa die Sonnenstrahlung. Andere, etwa durch Turbulenzen in der Atmosphäre, sind viel schwieriger zu bestimmen. "Da braucht man viele Versuche, um die Prozesse aus der Kombination von Messung und Modellierung richtig verstehen zu können", sagt Schöner.
Die Forschungen von Wolfgang Schöner und seinem Team vermögen auch Aufschluss darüber zu geben, was den heimischen Gletschern eigentlich zusetzt. Dabei zeigt sich etwa, dass der Niederschlag nur einen recht geringen Beitrag dazu leistet. "Die Veränderungen der Schneemenge von einem Jahr zum nächsten spielen nur eine geringe Rolle verglichen mit der Schmelze, die im Sommer passiert", sagt Schöner.
Gemeinhin wird oft angenommen, dass die steigende Temperatur für die Schmelze verantwortlich ist. Das ist aber nur bedingt richtig. "Die Energie, die aus der Atmosphäre kommt, ist nicht die Temperatur, sondern das ist die Strahlung, die von der Sonne kommt. Es ist also die Strahlung, die dafür sorgt, dass die Gletscher so stark abschmelzen", sagt Schöner. Da andererseits auch die Temperatur mit der Strahlung korreliert, gibt es auch eine Korrelation zwischen Temperatur und Gletscherschmelze – das bedeutet aber nicht, dass die Erwärmung kausal für die Schmelze verantwortlich ist.
Der Temperaturanstieg korreliert zwar mit der Gletscherschmelze, ist aber nicht ursächlich dafür verantwortlich. Die eigentliche Ursache ist die Strahlung.
Foto: Reuters/LISI NIESNER
Selbstverstärkender Prozess
Bei der Strahlung gilt es wiederum den Albedoeffekt zu berücksichtigen: Wenn weniger Schnee auf dem Gletscher liegt, nimmt der Rückstrahleffekt ab, und die Schmelze verstärkt sich. "Es gibt einen Verstärkungseffekt, durch den sich die Schneegrenze immer weiter nach oben verschiebt", sagt Schöner. Zusätzlich verschlechtern die vom Menschen emittierten Treibhausgase die Strahlungsbilanz für die Gletscher.
Trotz aller Klarheit, was den generellen Trends der Gletscherschmelze angeht, bleiben Unsicherheiten und ungelöste Fragen, welche regionalen Entwicklungen sich einstellen werden. "Die globalen Modelle sind sehr gut, aber regional kann es durchaus Effekte geben, die noch nicht gut fassbar sind. Genau dazu arbeiten wir, weil gerade Gletscher sehr lokale Phänomene sind", sagt Fischer.
Für Glaziologinnen und Glaziologen stellt sich neben dem Prozess der Gletscherschmelze in weiterer Folge auch die Frage, welche Konsequenzen die Entgletscherung mit sich bringen. In vielen Gegenden der Welt sind die Gletscher eine lebenssichernde Quelle von Trinkwasser. So ist etwa die Millionenstadt Santiago de Chile auf Schmelzwasser aus den Anden angewiesen, um ihre Bewohnerinnen und Bewohner mit Wasser versorgen zu können.
60 Kilometer von Santiago de Chile entfernt befindet sich ein Gletscher, dessen Schmelzwasser die Millionenstadt mit Trinkwasser versorgt.
Foto: AFP PHOTO / CHILE'S PRESIDENCY / MARCELO SEGURA
Identitätsstiftende Gipfel
In Österreich spielen die Gletscher keine existenzielle Rolle, weder für die Wasserversorgung noch für das Wetter – dafür sind sie schlicht zu klein. Sie sind aber von touristischer Bedeutung und spielen eine wichtige Rolle für die österreichische Identität. Die ersten Worte der österreichischen Bundeshymne "Land der Berge, Land am Strome" kommen nicht von ungefähr.
Was die Wasserversorgung angeht, werden sich die fehlender Gletscher hierzulande dennoch bemerkbar machen. Nicht in einem für die Menschen existenziellen Ausmaß, aber insbesondere in Tropenjahren, wenn im Sommer wochenlang kein Niederschlag fällt, liefern die Gletscher bisher vergleichsweise viel Wasser, betont Schöner. "Wenn man an den Inn denkt oder die Salzach, sind die Beiträge der Gletscher bei ausbleibendem Niederschlag sehr relevant. Das wird in Zukunft fehlen."
Energie und Landwirtschaft
Von den veränderten Wasserkreisläufen ist nicht nur die Trinkwasserversorgung abhängig, sondern auch die Landwirtschaft und die Energiewirtschaft durch Wasserkraftwerke. Dadurch wird deutlich, dass die Gletscher nicht bloß ferne Eismassen sind, an denen ein paar Alpinistinnen und Alpinisten Gefallen finden, sondern dass ihre Anwesenheit und ihr Verschwinden unmittelbare Folgen für weite Teile der Gesellschaft haben.
Weiters hat der Gletscherschwund Auswirkungen auf die Ökosysteme – dabei gilt es für die Forschenden aber noch etliche Fragen zu klären: Wie schnell kommen die Pflanzen wieder zurück? Wie verändern sich die Gewässer, was sind die ökologischen Folgen? Und was haben wir an Naturgefahren zu erwarten oder zu berücksichtigen? "Da passiert ganz viel, und wir haben jetzt zum ersten Mal die Gelegenheit, zu sehen und zu vermessen, was passiert, wenn das Eis verschwindet", sagt Hartl.
Für Andrea Fischer besteht die grundlegendste Frage darin, wann sich nach der Abkehr vom jetzigen stabilen System nach dem Abschmelzen der Gletscher wieder ein neues stabiles Gleichgewicht einstellen wird.
Noch können die Österreichischen Eismassen beforscht und bewundert werden – allerdings nur noch wenige Jahrzehnte und teilweise nur Jahre.
Foto: Apa/Schlager
Vergänglichkeit des Eises
Kaum eine andere Wissenschaftsdisziplin ist so deutlich mit der Vergänglichkeit des eigenen Forschungsgegenstands konfrontiert wie die Glaziologie. Wie gehen Gletscherforschende damit um? Wolfgang Schöner holen solche Fragen insbesondere in Diskussionen ein. Solange er in einem Forschungsprojekt steckt, "ist man ganz auf diese Detailfrage, die man lösen will, konzentriert".
Nachdenklich stimmen Schöner seine Beobachtungen im Laufe seiner Forschungskarriere. "Mittlerweile bin ich viele Jahre im Gebirge unterwegs und habe mit wissenschaftlichen Augen sehr genau gesehen, wie rasch sich die Gletscher verändert haben." Angesichts dessen, dass die Auswirkungen des Klimawandels auf die Gletscher einst eher als Randerscheinung abgetan worden sind, sei die aktuelle Entwicklung "alarmierend". Lange sei gesagt worden, die Gletscher würden bloß etwas kleiner werden, "aber was das alles bedeutet, hat man nicht diskutiert".
Schönheit mit Ablaufdatum
Auch Lea Hartl findet es "sehr schade, wenn die Gletscher verschwinden". Als Glaziologin, die sich viel im Gebirge aufhält, genießt sie den Anblick der Eismassen im Sommer wie im Winter. "Während der Arbeit ist es nicht so, dass man die ganze Zeit verzweifelt ist, weil man weiß, den Gletscher wird es nicht mehr lange geben", sagt Hartl. Dennoch würde sie das Thema stets begleiten, "weniger bezogen auf einzelne Gletscher als vor allem gesamtgesellschaftlich".
Andrea Fischer kann der Vergänglichkeit ihres Forschungsgegenstands bei allem Bedauern um den Verlust der Eismassen auch etwas Positives abgewinnen: "Für mich ist es in erster Linie wahnsinnig spannend, dass man etwas erforschen kann, das zuvor noch nicht in dieser Form bekannt war. Für die Forschung wäre es das Schlimmste, wenn sich gar nichts verändern würde."
Die Vergänglichkeit des eigenen Forschungsgegenstandes ist in der Gletscherforschung allgegenwärtig. Andrea Fischer (im Bild in einer Eishöhle im Jamtalferner) kann dem auch etwas positives abgewinnen: "Für die Forschung wäre es das Schlimmste, wenn sich gar nichts verändern würde.
"Foto: Reuters/LISI NIESNER
Einmalige Situation
Wenn man weit in die Geschichte der Erde zurückblickt, hat es immer wieder Phasen gegeben, in denen die Gletscher geschmolzen sind, und dann wieder jene, in denen sie sich neu gebildet haben. Einmalig an der jetzigen Situation ist, dass die Ursache für die Schmelze durch die Handlungen einer einzigen Spezies verursacht worden sind.
"Vor dem Hintergrund einer langen Zeitachse bin ich überzeugt, dass das, was wir in einem Menschenleben wahrnehmen können, erdgeschichtlich nicht so eine große Rolle spielt, wie uns das jetzt erscheint", sagt Fischer. "Die Erde existiert auf einer wesentlich größeren Zeitskala als das in jener eines kurzen Menschenlebens überhaupt fassbar ist."
(Tanja Traxler, 11.6.2022)
Dieser Artikel ist in der aktuellen Ausgabe des STANDARD-Wissenschaftsmagazins FORSCHUNG erschienen.
WISSEN
Zunehmende Schmelze
Albedoeffekt ist der wissenschaftliche Fachausdruck für ein Phänomen, dass uns allen aus dem Alltag gut bekannt ist: Weiße Oberflächen strahlen Licht ab und neigen daher dazu, uns zu blenden. Dunkle Oberflächen strahlen viel weniger auf, dafür erwärmen sie sich stärker durch einfallende Strahlung. Bei der Gletscherschmelze führt der Albedoeffekt zu einem sich selbst verstärkenden Prozess: Während vergletscherte Flächen ein hohes Rückstrahlvermögen haben, absorbiert die Landmasse, die unter den Gletschern zum Vorschein kommt, umso mehr Strahlung. Die für die Schmelze verantwortliche Erwärmung nimmt also noch zusätzlich zu – was zu weiteren Gletscherabschmelzungen führt.
Bohrkerne als Archive
Eisbohrkerne ermöglichen Forschenden, jenes Eis im Detail zu analysieren, das aus einer Zeit stammt, lange bevor der Mensch darauf einwirken konnte. Je tiefer die Forschenden bohren, umso länger können sie in die Vergangenheit zurückblicken. Die Eisbohrkerne liefern etwa Informationen darüber, wie die Atmosphäre zu einer bestimmten Zeit zusammengesetzt war. Grönland und die Antarktis sind beliebte Gegenden, um Eisbohrkerne zu ziehen – oder die alpinen Gletscher, wobei diese Methode dort nur noch wenige Jahrzehnte durchführbar sein wird.
(Tanja Traxler, 12.6.2022)