„Als Kind bin ich jedes Jahr mit meiner Familie nach Seefeld gefahren, die Europabrücke ist ein Symbol für die Verbindung von Menschen und eine tolle Sache“, sagt Nicole Pasinelli auf die Frage, ob die Europabrücke nach 60 Jahren mehr Segen oder Fluch ist. Beim Lokalaugenschein auf der danebenliegenden Raststätte erzählt der Italiener aus Bergamo gemeinsam mit seiner Begleiterin von den Vorteilen der Brücke. „Ich denke es ist sehr positiv, weil es eine sehr schöne Straße mit der Brücke ist“, sagt sie.
Eine deutsche Urlauberin und ein Urlauber sind gerade auf dem Weg nach Bozen. Sie machen bei der Aussichtsplattform unterhalb der Europakapelle, direkt neben der stark befahrenen Straße, Halt. Mit der Strecke verbinde er frühe Kindheitserinnerungen, wie er damals Anfang der 1970er Jahre mit seinen Eltern Richtung Süden gefahren ist, meint der aus der Nähe von Stuttgart stammende Roland Berger. „Da war es einfach das Gefühl, dass man schnell und gut in Italien ankommt und die Möglichkeit hat, die Sonne und den Urlaub zu genießen.“
Aushängeschild für Fortschritt und Tourismus
Ob Segen oder Fluch sei nicht so einfach zu beantworten. Für die durchreisende Marina Kramer sei beides teilweise der Fall: „Es ist schon ein Fluch für die Tiroler, die müssen schon sehr viel aushalten, aber für die anderen Urlauber ist es halt wirklich toll, weil man schnell in den Urlaub kann und so Strecken überwinden kann“, ergänzt sie. Seit ihrer Eröffnung am 17. November 1963 sah die Europabrücke zahlreiche Fahrzeuge und wohl noch viel mehr Menschen. Sie alle haben ihre eigenen Geschichten und Erinnerungen mit dem insgesamt 820 Meter langen Viadukt.
Als Aushängeschild des modernen technischen Fortschritts, der europäischen Einigung und des Tourismus steht die Brücke in Tirol aber vor allem als Sinnbild für die Verkehrsbelastung. Zweifellos bereitete die Europabrücke in den Jahren nach ihrer Eröffnung – gemeinsam mit der daraufhin entstandenen Brennerautobahn – dem Güterverkehr auf der Straße den Weg. Ohne diese Infrastruktur wären der wirtschaftliche Aufschwung und der Triumphzug der Pkws in den 1960er und 1970er Jahren undenkbar gewesen.
Brenner am stärksten befahrener Alpenübergang
Konkret ging der Güterverkehr über den Brenner auf dem Transportweg Straße seit den 1960er Jahren massiv nach oben. Während es 1960 gerade einmal 400.000 Tonnen waren, wurden 2021 rund 40 Millionen Tonnen über den Brenner transportiert. Das geht aus dem Verkehrsbericht des Landes Tirol hervor. Im Vergleich dazu wuchs der Anteil der Schiene deutlich schwächer. Dieser macht mit rund 15 Millionen Tonnen (2021) nicht einmal die Hälfte aus.
ORF Tirol Grafik
Die Grafik zeigt die Entwicklung des Güterverkehrs über den Brenner auf Straße und Schiene seit 1960
„Betrachtet man die Verteilung der Gütermengen auf den alpenquerenden Korridoren, so ist der Brenner weiterhin der mit Abstand am stärksten belastete Übergang“, heißt es im Verkehrsbericht 2022. In Summe waren es vor zwei Jahren demnach rund 55 Millionen Tonnen, die per Straße und Schiene über den Brenner transportiert wurden. Dieses Gesamtgütervolumen sei höher als das Aufkommen an allen französisch-italienischen Alpenübergangen zusammen. Auch im Vergleich mit der Schweiz (37,9 Mio. Tonnen) liegt der Brenner deutlich vorne. 2022 wurde überhaupt ein neuer Höchstwert verzeichnet – mehr dazu in
Neuer Lkw-Transitrekord auf Brenner.
Verkehr teils äußerst belastend
Für die lokale Bevölkerung entlang der Brennerstrecke im Wipptal, aber auch darüber hinaus im gesamten Tiroler Inntal, ist die Europabrücke und der mit ihr einhergehende Transitverkehr durchaus ein Fluch, meint der Verkehrswissenschafter Stephan Tischler von der Universität Innsbruck. Dabei mache der Güterverkehr nur einen relativ geringen Anteil bei der Verkehrsbelastung aus.
Schließlich registriert die südlich der Europabrücke liegende Mautstelle Schönberg (Bezirk Innsbruck-Land) Jahr für Jahr ein hohes Verkehrsaufkommen. Laut Daten des Autobahnbetreibers ASFINAG wurden hier 2022 19,3 Millionen Fahrzeuge gezählt. Vier Jahre zuvor waren es sogar 19,51 Mio. Im Vergleich zum Jahr 1968 hat sich dieser Wert fast verzehnfacht (1,97 Mio.).
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Der teils überbordende Transitverkehr ist gerade für die Bevölkerung Tirols seit vielen Jahren eine große Belastung
Ohne Zweifel steht die Europabrücke als Herzstück der Brennerautobahn stellvertretend für diese Entwicklung und die viel diskutierte Belastung für die Anrainerinnen und Anrainer. „Umgekehrt für die Wirtschaftsräume nördlich und südlich des Alpenraumes ist sie durchaus auch ein nicht unbedeutender Faktor wenn es darum geht, Transporte möglichst billig und schnell abzuwickeln“, so Tischler.
Aufholbedarf bei Verlagerung auf Schiene
Billig und schnell stehe bei der Straße nach wie vor im Vordergrund. Trotz jahrelanger politischer Debatten und Absichtserklärungen gebe es bei der Verlagerung auf die Schiene noch großen Aufholbedarf, meint Tischler, der auch Vorsitzender von CIPRA Österreich, der Internationalen Alpenschutzkommission ist. „Man würde sich wünschen, dass dieser verbindende Charakter einer Brücke auch in der Politik, vor allem auch was die betrieblichen Voraussetzungen bei der Schiene angeht, dort einmal aufschlägt.“
Tief unter der Erde sei mit dem Brennerbasistunnel zwar eines der größten Bauprojekte Europas im Entstehen. Was die Bahn betrifft, sei bei den organisatorischen Voraussetzungen aber immer noch ein sehr nationalstaatliches Denken vorherrschend. „Und wenn es so weiter geht, wird uns das auch bei der Verlagerung auf die Schiene benachteiligen“, meint der Verkehrsexperte.
„Schwester der Europabrücke“ erinnert sich
Nichtsdestotrotz ist die Europabrücke ein besonderer Meilenstein der europäischen, österreichischen und regionalen Wirtschaftsgeschichte. In bautechnischer Hinsicht sei diese Trassenführung zwar nicht erforderlich gewesen, sagt Tischler. Stattdessen wäre eine Strecke ohne die enge Kehre bei Schönberg auch möglich gewesen. Aus touristischen Motiven habe man aber diese Variante bevorzugt.
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Als Tochter des Baumeisters gilt die Innsbruckerin Christa Dag als „Schwester der Europabrücke“
Umso mehr beeindrucken auch 60 Jahre danach die Eckdaten des Bauprojekts: 70.000 Kubikmeter Beton, 55.000 Kubikmeter Erd- und Felsmassen und über 6.000 Tonnen Stahl wurden in einer Bauzeit von vier Jahren verarbeitet. Auf fünf Stahlbetonpfeilern ragt die Brücke 192 Meter in die Höhe. Als traurige Bilanz bleibt aber auch die Tatsache, dass 23 Arbeiter bei den Bautätigkeiten tödlich verunglückten. Ursprünglich hätte die Europabrücke übrigens den „Sillbrücke III“ heißen sollen. Beim Spatenstich im April 1959 habe Landeshauptmann Hans Tschiggfrey (ÖVP) die Brücke aber als verbindendes Element in Europa gewürdigt. So sei der heutige Name entstanden, erzählt Christa Dag.
Von der „alten Römerstraße“ und Queen Elizabeth II. …
Die Innsbruckerin war damals eine der ersten, die bei der Eröffnung am 17. November 1963 den Weg über die Brücke zurücklegte. Ihr Vater, Josef Gruber (gest. 2000), war der Baumeister des Mega-Projekts und sah darin sein „Lebenswerk“. Sie selbst sei mit ihren Eltern auf die Brücke gefahren, wo seitwärts schon die Träger angebracht waren, in der Mitte war jedoch noch eine Platte frei. „Und ich wollte unbedingt drüber und bin über den Träger hinüber gegangen, und als ich drüben war, haben meine Eltern das mitgekriegt und fast einen Herzinfarkt bekommen“, lacht sie. Links und rechts von ihr wäre es tief in die Sillschlucht hinuntergegangen.
Eine Zeitschrift habe damals getitelt, dass Josef Gruber als Baumeister der „Vater der Europabrücke“ sei. Und so habe sie sich selbst den Spitznamen „Schwester der Europabrücke“ gegeben, meint Dag. Bei der Frage nach Segen oder Fluch sagt sie, dass man die massive Zunahme des Verkehrs damals nicht ahnen hätte können. In der Nord-Süd-Richtung habe es historisch gesehen immer schon ein starkes Verkehrsaufkommen gegeben. Daran erinnere auch der Name der „alten Römerstraße“ im Wipptal.
Fotostrecke
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Bei der Raststätte Europabrücke erinnert ein neu verlegtes historisches Straßenstück an die „alte Römerstraße“
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Bei der Raststätte Europabrücke erinnert ein neu verlegtes historisches Straßenstück an die „alte Römerstraße“
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Die Inschrift auf der Gedenktafel bei der nahegelegenen Europakapelle ist den 23 verstorbenen Bauarbeitern gewidmet
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Die Inschrift auf der Gedenktafel bei der nahegelegenen Europakapelle ist den 23 verstorbenen Bauarbeitern gewidmet
Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Ph-6375 (Foto: Fedor Viktor Habermüller)
Queen Elizabeth II. (Mitte) besucht am 8. Mai 1969 in Anwesenheit von Tirols Landeshauptmann Eduard Wallnöfer (rechts) die Europakapelle nahe der Europabrücke; im Hintergrund ist die Raststätte mit Parkplatz zu sehen
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Der Name „Europabrücke“ soll ein verbindendes Symbol in einem modernen Europa darstellen
Ein wenig bekanntes Kapitel der Europabrücke selbst erzählt von einem höchst prominenten Besuch auf der wohl ebenso wenig bekannten Europakapelle oberhalb der Brücke. Am 8. Mai 1969 stattete Queen Elizabeth II. dem Bundesland Tirol einen fünfstündigen Besuch ab, wie auf der Seite „Innsbruck erinnert sich“ des Stadtarchivs/Stadtmuseum Innsbruck nachzulesen ist. Dabei besichtigte die britische Monarchin nicht nur einen Bauernhof in Sistrans und die Innsbrucker Altstadt, sondern auch die Europabrücke (siehe Bildergalerie). Damals sei sie überhaupt noch die „höchste Pfeilerbrücke der Welt und der ganze Stolz des damaligen Landeshauptmanns Eduard Wallnöfer“ gewesen.
…zu Klimaaktionen und Windkraft
Unabhängig von Verkehrsstatistiken ist die Europabrücke mit aktuellen Debatten und Aktionen rund um den menschenverursachten Klimawandel heutzutage einerseits auch ein symbolträchtiger Kampfplatz um Aufmerksamkeit geworden. Davon zeugt etwa eine Blockade der „Letzten Generation“ am westlichen Ende der Brücke Mitte Juni 2023.
Andererseits ist es nach wie vor ein Ort der technologischen Innovation. Immerhin liefern mittlerweile Mikrowindturbinen an der Brücke Strom für die nahegelegene Mautstation Patsch. Dabei handle es sich um ein europaweit einzigartiges Projekt, hieß es bei der Fertigstellung von der ASFINAG – mehr dazu in
Strom aus Windturbinen an Europabrücke.
Zeitungsfoto.at
Mitte Juni 2023 blockierten Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“ die Europabrücke
Insofern spannt das Bauwerk auch eine historische Brücke zwischen Transit und Tourismus, europäischer Vielfalt und Verkehr sowie Wissenschaft und Fortschritt. Für den Verkehrsexperten Stephan Tischler ist sie jedenfalls auch ein Zeichen der regionalen Identität: Das Bild der Brücke habe schlichtweg einen einzigartigen Wiedererkennungswert.
Ende der Lebensdauer rückt näher
„Also es ist nicht nur negativ besetzt, sondern dieses Bild der Europabrücke mit der Serles und dem Habicht (Berggipfel der Stubaier Alpen, Anm.) steht sinnbildlich schon auch für das, was Nordtirol heute vielleicht auch sein will: nämlich durchaus ein Wirtschaftsraum, ein Tourismusraum, aber auch ein Raum mit einer durchaus sehr sehenswerten Naturlandschaft“, sagt er. Es ist eine Naturlandschaft, die vorerst wohl weiter für all die verschiedenen Aspekte stehen wird.
Ob Segen oder Fluch – mit 60 Jahren rückt für die Europabrücke das Ende ihrer technischen Lebensdauer langsam näher. Laut Asfinag muss sie ab den 2040er Jahren komplett erneuert werden. Allerdings betont der Autobahnbetreiber, dass sämtliche Sanierungsmaßnahmen „unter Aufrechterhaltung von zwei Fahrspuren pro Fahrtrichtung abgewickelt“ werden könnten. Dennoch steht spätestens dann mit der großen Herausforderung dieser Generalsanierung das nächste Kapitel in der Geschichte der Europabrücke an.
16.11.2023, Benedikt Kapferer, tirol.ORF.at
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